Der Fotograf Giovanni Lo Curto porträtiert Obdachlose in Palermo. Sein Ziel: den Menschen ihre Würde zurückzugeben – und hinter die Fassade der Mittelmeerstadt zu blicken.
Für viele ist Sizilien süß“, sagt Giovanni Lo Curto. Süß wie das typische Gebäck Cannoli mit Pistaziencreme und Ricotta, das es an jeder Straßenecke der süditalienischen Insel zu kaufen gibt. Besonders Palermo ist bekannt für seine Süßigkeiten, farbenfroh und opulent. „Das ist nur die Touri-Version Palermos. Hinter den Kulissen warten Müllberge und Verfall“, sagt Giovanni über die Stadt, in der er geboren ist. „Palermo amara“ lautet deshalb der Name seines Fotoprojekts, übersetzt „bitteres Palermo“.
Der 41-Jährige verließ seine sizilianische Heimat nach dem Studium – auf der Suche nach einem besseren Leben. Damit ist er nicht der Einzige: Laut italienischem Statistikamt ISTAT wandern jährlich Tausende Sizilianer:innen ins Ausland ab. Im vergangenen Jahr waren es fast 15.000. Giovanni lebt inzwischen seit fast 15 Jahren in Berlin. Im Videocall mit Hinz&Kunzt sagt der Fotograf Sätze wie: „Man weiß, dass ein Land verarmt ist, wenn es sogar der Mittelschicht mies geht.“ Oder: „Ich kann die Armut in Sizilien nicht nicht sehen.“
„Hinter den Kulissen warten Müllberge und Verfall.“
Giovanni Lo Curto
Wenn Giovanni über die Situation seiner Heimat spricht, rutscht er manchmal ins Italienische. Etwa wenn er von der Wirtschaftskrise erzählt, in der Italien seit den 1990er-Jahren steckt. Besonders prekär ist die Lage in Süditalien: schlechte Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit, schwächelnde Industrie. Laut ESTAT, dem statistischen Amt der EU, lag die Arbeitslosenquote Siziliens zuletzt bei 15,8 Prozent – und damit mehr als doppelt so hoch wie im Rest Italiens. Zwar versprach zuletzt ein Hightech-Zentrum nahe der Stadt Catania, medial hoffnungsvoll als „Silicon Valley Siziliens“ betitelt, neue Arbeitsplätze. „Aber nicht genug, um die wirtschaftlichen Probleme einer ganzen Insel zu lösen“, so Giovannis trockenes Fazit. „Diese Probleme vor Ort gehen tiefer. Viele Menschen in Palermo versuchen inzwischen nur noch, irgendwie durchzukommen.“

Bereits vor Jahren registrierte Giovanni bei seinen Besuchen die steigende Armut: mehr Obdachlose auf den Straßen, längere Schlangen vor den Tafeln, kaum noch Einheimische in den Restaurants. 2018 beschloss der Sizilianer, die Armut sichtbar zu machen – und startete sein Fotoprojekt. Über soziale Projekte und Organisationen nahm er Kontakt zu Freiwilligen und Obdachlosen auf. Doch dann kam die Pandemie. Die Welt stand still, das Fotoprojekt auch. „Aber das Thema war zu wichtig, um es nicht tiefer anzugehen. So viele Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden“, sagt Giovanni. Etwa die Geschichte von Mimmo, der Gedichte schreibt und die von Tanam, die immer tadellos gekleidet ist. Oder von Anna, die früher als Reiseleiterin arbeitete, dann in die Abwärtsspirale aus Krankheit und Suchtproblemen rutschte und inzwischen wie Mimmo in einem Doppelzimmer lebt.
Das Schwierigste für Giovanni: Das Schamgefühl der porträtierten Menschen zu spüren. „Armut ist stigmatisiert“, sagt Giovanni. „Viele denken, sie seien selbst schuld an ihrer Situation. Dabei stecken oft strukturelle Probleme dahinter.“ Noch ist sein Projekt nicht abgeschlossen. Als Nächstes möchte der Fotograf unsichtbarere Armut zeigen: Familien porträtieren, die zwar ein Dach über dem Kopf haben, mit ihrem Gehalt aber nicht über die Runden kommen. „Das wird schwierig“, mutmaßt Giovanni. „Dieser Aspekt von Armut ist noch schambehafteter. Niemand will zugeben, dass er am Monatsende zur Tafel geht.“
