Nazi-Begriff

„Asozial“ – ein Stigma wirkt bis heute

Eine vergilbte Tafel mit unterschiedlichen Zeichen, das schwarze Dreieck steht für "Asoziale"
Eine vergilbte Tafel mit unterschiedlichen Zeichen, das schwarze Dreieck steht für "Asoziale"
Ein historisches Plakat, fotografiert in den Arolsen Archives, zeigt die „Kennzeichen für Schutzhäftlinge“ in den KZ. Foto: picture alliance/dpa/Swen Pförtner

Schon immer diente der Begriff „asozial“ als Stigma. In früheren Zeiten konnte es für Unangepasste und Arme den Tod bedeuten – und es wirkt bis heute.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Das Wort ist belastet und doch fällt es überall: auf Schulhöfen und auf Comedy-Bühnen („du Asi!“), in der Fußballfan-Szene („asoziale Zecken“), in politischen Debatten („neue Asoziale“), beim Smalltalk auf dem Sektempfang („Veddel ist richtig asi, oder?“).

Der Begriff „asozial“ scheint geläufig. Unbeachtet bleibt dabei, was das Wort seit mehr als 100 Jahren für die bedeutet, die so bezeichnet wurden – Menschen, die ins Gefängnis oder in sogenannte Fürsorgeheime gesteckt wurden, zur Abtreibung gezwungen und zwangssterilisiert wurden, im KZ starben oder in der DDR an staatlicher Gewalt zerbrachen, ohne dass jemand für sie einstand. Warum? Weil sie unangepasst und vermeintlich nutzlos waren, kurzum: „asozial“ in den Augen derer, die sie ausgrenzten.

Die Hamburger Historikerin Frauke Steinhäuser hat viele Biografien von Menschen erforscht, die als vermeintlich „Asoziale“ verfolgt wurden. Der Begriff stammt aus dem Kaiserreich, als das Betteln verboten und Armut kriminalisiert wurde. Ebenso in den Ruch der „Asozialität“ gerieten zu dieser Zeit Frauen, die man für Prostituierte hielt. Die einen wurden verhaftet, die anderen in Fürsorgeanstalten gebracht – oft gegen ihren Willen oder das Wohl der Familien, die sie versorgen mussten.

Mit der Machtübergabe an die Nazis verschärfte sich die Verfolgung der unangepassten Armen: Im Herbst 1933 überfiel die Polizei reichsweit Obdachlosenunterkünfte, auch das Pik As in Hamburg, nahm Schutzsuchende fest oder verhaftete sie auf der Straße. „Es war auch ein Zeichen an die Gesellschaft: Das passiert mit euch, wenn ihr euch nicht anpasst“, erklärt Frauke Steinhäuser. Nachbar:innen waren dazu angehalten zu denunzieren, wenn jemand trank oder die Kinder nicht ordentlich gekleidet waren. Auch Anstalten wie das Versorgungsheim Farmsen, in das Empfänger:innen staatlicher Fürsorge zwangseingewiesen wurden, dienten als Strafmaßnahme gegen die angeblich „Arbeitsscheuen“ und als Mahnung an den Rest der Gesellschaft. „Das Bild, das die Nazis von diesen Fürsorgeempfänger:innen verbreiteten, war: Die sind selbst schuld an ihrer Armut“, erklärt die Historikerin.

Nach Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise waren viele arm – und doch etablierten die Nazis ein gnadenloses Arbeitsethos. Wer sich nicht unterordnete, galt als „Ballastexistenz“. Hinzu kam die verbreitete Vorstellung, „Asozialität“ sei erblich. Im Sinne der „Rassenhygiene“ wurden Schwangere zur Abtreibung gezwungen, Erwachsene und sogar Kinder zwangssterilisiert. Die Verfolgung gipfelte im Juni 1938 in der Aktion „Arbeitsscheu Reich“, bei der etwa 10.000 Männer festgenommen und als sogenannte Vorbeugungshäftlinge ins KZ gesteckt wurden, ohne eine Straftat begangen zu haben. Viele von ihnen mussten dort den schwarzen Winkel auf der Kleidung tragen, das Zeichen für „Asoziale“.

Wohnungslose werden endlich als NS-Opfer anerkannt
Bundestag
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In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Obdachlose, Bettler*innen oder auch Wanderarbeiter*innen als Asoziale gebrandmarkt und im KZ inhaftiert. Knapp 75 Jahre nach Kriegsende erkennt der Bundestag endlich auch diese Menschen als NS-Opfer an.

Wehrten sich die Betroffenen? Frauke Steinhäuser findet keine Hinweise auf organisierten Widerstand. „Im Gegensatz zu etwa politischen Häftlingen waren die Menschen sehr vereinzelt“, sagt sie. Solidarität von außen erfuhren die Verfolgten auch nicht. „Wer vermisste sie?“, fragt Steinhäuser. „Viele Leute waren der Meinung: Die waren schon zu Recht im KZ.“Das änderte sich auch nach Kriegsende lange nicht. Erst 2020 erkannte der Bundestag die als „asozial“ Verfolgten als NS-Opfergruppe an.

Doch auch in der DDR hatte sich die staatliche Gewalt gegen Arme und Unangepasste fortgesetzt – in Heimen, Gefängnissen und Repressalien. „Unter der Oberfläche des verordneten Antifaschismus ist das Vorurteil der Asozialität weitergesponnen und nie hinterfragt worden“, sagt Dr. Katharina Lenski, die an der Universität Jena unter anderem zur Geschichte von Marginalisierungen forscht. Der berüchtigte Paragraf 249 sanktionierte „asoziales Verhalten“, gemeint waren vor allem „Arbeitsscheu“ und Prostitution. Er sei zunehmend häufig angewendet worden, sagt Lenski – gegen politische Abweichler:innen, auch gegen auffällige Jugendliche oder Kinder, die in Heimen physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt wurden. In DDR-Gefängnissen machten die nach dem „Asi-Paragrafen“ Verurteilten bisweilen ein Viertel der Häftlinge aus.

Der Begriff „asozial“ war opportun, weil er juristisch diffus war und tradierte Feindbilder bediente. Zudem konnte sich die Diktatur auf erlernte Sozialtechniken verlassen, wie Lenski beschreibt: Das Stigmatisieren und Denunzieren von Schwächeren hatte sich schon früher bewährt, um Abstand zu schaffen zu denen, die einem die Gefahr des eigenen sozialen Abstiegs vor Augen führten.

Heute ist einiges anders. KZ und Erziehungsheime gibt es nicht mehr, dafür viele soziale Institutionen, die Armen und Marginalisierten helfen. Das Grundgesetz definiert alle Menschen als gleichwertig. Aber haben wir diese Werte auch verinnerlicht?

Frauke Steinhäuser ist skeptisch. „Die Unterstellung, die Leute seien selbst schuld an ihrer Armut und ihrer Arbeitslosigkeit – die hat sich bei vielen nicht verändert“, sagt sie. Auch Katharina Lenski sieht Kontinuitäten. „Nach 1989 werden Wortfloskeln wie ‚arbeitsscheu‘ weiterverwendet – Abwertungen gegenüber Menschen, die Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen“, sagt sie. In der Bürgergeld-Debatte hören die Historikerinnen Töne, die sie auch aus ihren Quellen kennen. Beide kennen Nachkommen von als „asozial“ verfolgten Menschen, die über die Verbrechen an ihren Angehörigen schweigen, aus Scham oder Angst, selbst als „asozial“ zu gelten. Das Stigma wirkt – auch heute noch.

Artikel aus der Ausgabe:
Hinz&Kunzt-Titel mit einem Schwarzweißbild von einem Kriegsgefangenen, der einem US-Soldaten um den Hals fällt.

80 Jahre Befreiung vom Faschismus

Wie wichtig Erinnerung an NS-Verbrechen in Zeiten des Rechtsrucks ist und wie das Stigma der „Asozialität“ den Nationalsozialismus überdauerte. Außerdem: Über Musiker Marlo Grosshardt und ein Theaterstück mit Wohnungslosen am Schauspielhaus.

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Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.

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