Verschickungskinder : Der Ferien-Albtraum

Die Verschickungskinder: allesamt gespielt von Laiendarsteller:innen. Foto: Dmitrij Leltschuk

Das Stück „Heim:Weh“ bringt auf die Bühne, was manche Verschickungskinder bis in die frühen 1980er-Jahre in Erholungsheimen erlebten. Autor Frank Keil hat die Proben im Thalia in der Gaußstraße begleitet.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Auch Bettnässer dürften jetzt mitfahren, sagt der Erzieher, der von der Seite in den Bühnenraum spricht. Sie würden unvergessliche Wochen in echter Gemeinschaft erleben, mit Morgen­gymnastik, mit Gesang und schönen Ausflügen, an die sie sich ein Leben lang erinnern würden. Er bemüht sich freund­lich zu klingen. Und doch ist da ein drohender Unterton nicht zu überhören: Er kann auch anders, daran lässt er in Mimik und Körperhaltung keinen Zweifel.

„Heim:Weh“ heißt das sehenswerte Theaterstück, das sich dem Schicksal der sogenannten Verschickungskinder der Bonner Republik widmet; gegeben im Thalia in der Gaußstraße, unter der ­Regie von Gernot Grünewald, Spezialist für Dokumentar-Theater. Bemerkenswert sind vor allem die Kinder, gespielt von acht Laiendarsteller:innen. Ihre Gesichter verborgen hinter Masken, zeigen sie uns, ohne ein einziges Wort zu sprechen, mit bedrückender Intensität, was geschah: freudige Ankunft im Erholungsheim, Koffer auspacken, die Bettdecken bitte ordentlich strammziehen; jetzt nicht aus der Reihe tanzen und auch alles aufessen, was auf den Tisch kommt, selbst wenn es einem nicht schmeckt, weil es das nicht gibt. „Hör auf zu weinen, du brauchst deine Tränen noch für dein Leben!“, zischt dazu eine der beiden Erzieherinnen. Und dann wird gespielt und gezeigt, was passiert, wenn doch mal eines der Kinder nachts ins Bett gemacht hat, aus Angst oder vor Heimweh.

„Es ist alles wieder wach geworden“, erzählt der 60-Jährige Uwe-Carsten Edeler, einer der Laienschauspieler. Es war keinesfalls Bedingung, dass sie selbst seinerzeit als Kinder verschickt worden waren. Im Gegenteil: Als sie sich für das Casting bewarben, Menschen ab 60 aufwärts, wussten sie gar nicht, was das Thema sein wird. Aber dann war es bei ihm wieder da: Das Gefühl, wie es war, als er während seiner Verschickung ins Bett gemacht hatte und vor den anderen Kindern vorgeführt wurde. „Aber ich bilde mir ein, dass mit dem Spiel, meine Albträume, die ich damit in Verbindung bringen kann, weggegangen sind“, sagt er vergnügt. Das sei wirklich ein tolles Gefühl.

Schätzungsweise acht Millionen Kinder wurden zwischen Anfang der 1950er- und den frühen 1980er-Jahren von ihren Eltern „verschickt“. Manche waren kaum drei Jahre alt, andere auf dem Weg durch die Pubertät. Mal handelte es sich um mehrmonatige Kuraufenthalte, mal waren es Ferien von wenigen Wochen. Es ging an die Nordsee, dort auf die ­Inseln, in die Mittelgebirge, in den Schwarzwald. Frische Seeluft sollte ebenso wie frische Waldluft den Geist, die Seele und den Körper gesunden lassen, während die Stadt und besonders die Großstadt als Hort von Krankheiten, Nervosität und schlechten Manieren galten. Gut 1000 Erholungsheime in öffentlicher, privater und kirchlicher Trägerschaft standen dafür bereit. ­Elternbesuche waren in der Regel strikt untersagt; Geschwisterkinder wurden oftmals getrennt untergebracht. Eine staatliche Überprüfung der Verschickungsmaßnamen, obwohl rechtlich vorgesehen, fand kaum statt. Erst als in den 1980er-Jahren neue Gesetze das Kindeswohl in den Blick nahmen und eine neue Generation von Päda­gog:innen antrat, die idealerweise eine gewaltfreie Erziehung anstrebten, endete diese Ära: Viele Verschickungsheime schlossen oder wandelten sich in Mutter-Kind-Kurheime um.

Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden die Erlebnisse der Verschickungskinder, als sich im Jahr 2019 auf erste Fernsehberichte hin Hunderte von Betroffenen in den Redaktionen meldeten und von ihren oft trauma­tischen Erlebnissen erzählten, von ­Demütigungen, Schlägen und Gewalt bis hin zu Missbrauch – und das ihnen nach den Reisen niemand so richtig zugehört hatte, sodass sie das Erlebte auch als Erwachsene besser für sich behalten hätten. Was sich nun glücklicherweise änderte: Noch im ­selben Jahr gründete sich die „Initiative Verschickungskinder“, maßgeblich angeschoben durch die Recherchen der Journalistin Anja Röhl, die selbst als Kind verschickt worden war. Heute hat der Verband in fast jedem Bundesland eine Regionalgruppe, sammelt Berichte von Betroffenen, veröffentlicht Forschungsberichte und vermittelt Selbsthilfe-Gruppen.

Anders als bei den Heimkindern, deren Schicksale die Politik lange aussaß, auch weil es bald um hohe Entschädigungssummen ging, fanden die Verschickungskinder schnell Aufmerksamkeit. In einer gemeinsamen Erklärung erkannte die Familienministerkonferenz im Mai 2020 das Leid der Betroffenen an. Einzelne Bundesländer richteten runde Tische ein und gaben Forschungsprojekte in Auftrag. Auch die Stadt Hamburg wurde aktiv und beauftragte eine wissenschaftliche Untersuchung, gemeinsam mit der Ballin Stiftung. Diese hatte früher selbst Verschickungsmaßnahmen durchgeführt und mittlerweile die meisten ehemaligen Verschickungsheime übernommen, in die Hamburger Kinder verschickt wurden, etwa das Kinder­kurheim in Wyk auf Föhr oder das Kinderheim Linden-Au in Lüneburg.

Mittlerweile liegt ein Zwischenbericht vor, der Abschlussbericht soll im kommenden Sommer folgen. Demnach wurden um die 120.000 Hamburger Kinder verschickt. Drängten die Ämter der Fürsorge, die Mütter-Beratungs­stellen oder Ärzt:innen in den Anfangsjahren die Eltern, ihre Kinder zu verschicken, um gegen Erkrankungen wie Atem- und Infektionskrankheiten oder Mangelernährung vorzugehen, ging es bald um „milieugeschädigte“ Kinder, die man zu entdecken meinte; vor ­allem, als ab den 1960er-Jahren das beginnende Wirtschaftswachstum den ­Familienurlaub etablierte und die Zahl der Anmeldungen deutlich abnahm. „Einzelne Einrichtungen bekamen ­einen stärker sozial-selektiven und wohl auch zunehmend stigmatisierenden Charakter“, so formuliert es der Zwischenbericht.

Schnell fragte man sich auch, inwieweit pädagogische Vorstellungen aus den NS-Jahren eine Rolle gespielt haben könnten – zum Beispiel die Idee, dass Genesung am besten durch Ab­härtung und körperliche Ertüchtigung zu erfolgen habe. Dabei stießen die Forscher:innen vor allem auf zwei Namen: Oskar Martini (1884–1980) und Käthe Petersen (1903–1981). Beide waren während der NS-Diktatur an ­leitender Stelle in der Hamburger Fürsorgebehörde an Zwangsadoptionen, Zwangssterilisierungen und auch an Tötungen im Rahmen des sogenannten Euthanasie-Programms beteiligt. Und beide setzten nach 1945 ihre Berufs­wege unbehelligt fort, die sie auch in das Verschickungswesen führten: Petersen engagierte sich führend im „Verein für Kinder- und Jugendgenesungs­fürsorge“, Martini war in der Ballin Stiftung tätig, war dort zeitweise Vorstandsmitglied und wurde zuletzt als Ehrenmitglied geführt.

Besonders schockierend auch der Werdegang der Ärztin Lotte Albers: Sie tötete im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort während der NS-Jahre 14 behinderte Kinder, wofür sie nie angeklagt wurde. Später arbeitete sie nicht nur als Kinderärztin in Harburg, sondern war auch als Heimärztin für das Kinder-Erholungsheim „Birkenhöhe“ in Ehestorf an der Hamburger Landesgrenze tätig.

Und selbst? Verschickungskinder, das ist ein Thema, bei dem ich ausdrücklich „ich“ sagen muss. Ich war zehn, vielleicht elf Jahre alt, und meine Eltern hatten es gut gemeint: Das Geld war knapp, wir waren drei Kinder, in den Urlaub fahren war einfach nicht drin. Also stand ich eines Nachmittags in der Hamburger Straße, auf dem Flur des Amtes für Jugend, zusammen mit anderen Kindern und deren Müttern in ­einem trubeligen Durcheinander, um einen der begehrten Verschickungsscheine zu ergattern. Ich sollte die Hälfte der Schulferien endlich einmal ver­reisen, wie alle anderen aus meiner Klasse und aus unserer Siedlung. Ich freute mich drauf; stieg erwartungsvoll ein paar Wochen später in den Reisebus, der uns Kinder in ein kleines Dorf im Lauenburgischen brachte.

Ich wurde nicht geschlagen, ich musste nicht Erbrochenes aufessen, wie ich es aus den Erzählungen von Verschickungskindern kenne und wie es das Stück „Heim:Weh“ in dramaturgisch ausgeklügelter Genauigkeit zeigt, das nicht. Aber nachts auf dem Flur stehen, in einer Ecke, barfuß auf dem kalten Boden, sich nicht rühren dürfen, weil man trotz ausgeschalteten Lichts im Zimmer noch miteinander ge­flüstert hatte, das schon; auch wenn der Obererzieher halblange Haare trug, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte, es war Anfang der 1970er-Jahre. Und dann gab es die eine Szene, die es auch in „Heim:Weh“ gibt und bei der ich wie eingefroren im Zuschauerraum sitze, obwohl ich doch als professioneller Beobachter cool bleiben müsste: Ich wurde nach dem Mittagessen in das Zimmer der Erzieher:innen geholt, ich musste mich an einen Tisch setzen, die Erzieher:innen bauten sich um mich herum auf, sie sagten kein Wort. Dann klatschte der Obererzieher den Brief auf den Tisch, den ich tags zuvor ­meinen Eltern geschrieben und den er ­geöffnet hatte: Es sei so „na ja“ hier, ­ziemlich streng und das Essen eine Katastrophe – so etwa hatte ich es formuliert. Er beugte sich vor, sah mir in die Augen, dann brüllte er mich zusammen, und dann bekam ich eine Stunde Zeit, um in Schönschrift aufzuschreiben, dass ich mich hier sehr wohl fühle und das Essen gut schmecke.

Wieder zu Hause, den Koffer noch nicht ausgepackt, erzählte ich meinen Eltern davon. Mein Vater setzte sich noch am gleichen Abend an unseren Wohn­zimmertisch und schrieb der Behörde. Eine Antwort hat er nie erhalten.

Artikel aus der Ausgabe:

wild wilder Wald

Warum Wälder in der Stadt unverzichtbar sind, wo man trotzdem noch Wohnungen bauen kann und wieso der Sachsenwald zwielichtige Gestalten anzieht. Außerdem: Armutsbetroffene protestieren und Bildungsforscher Aladin El Mafaalani erklärt, was Armut mit Kindern macht.

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