Bilanz Winternotprogramm : 495 Obdachlose vermittelt – aber nur sieben in eine Wohnung

Die meisten Obdachlosen mussten nach Ende des Winternotprogramms wieder auf die Straße zurückkehren. Foto: Mauricio Bustamante

Nach dem vergangenen Winternotprogramm mussten 495 Obdachlose nicht sofort auf die Straße zurück, erklärte Sozialsenatorin Leonhard im Sozialausschuss. Aber nur sieben davon bekamen eine Wohnung. 351 Menschen wurden abgewiesen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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3000 Obdachlose haben nach Angaben von Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) im vergangenen Winter das Winternotprogramm der Stadt genutzt. Eine gewaltige Zahl: Das wären gut 1000 mehr, als laut jüngster Zählung der Sozialbehörde überhaupt in Hamburg auf der Straße leben. „Es gibt eine gewisse Unschärfe in den Zahlen“, räumt Behördensprecher Martin Helfrich am Tag nach der Vorstellung der Zahlen im Rathaus auf Nachfrage von Hinz&Kunzt ein. Unter den Nutzerinnen und Nutzern des Winternotprogramms seien womöglich einige mehrfach gezählt worden, etwa weil sie nach längerer Abwesenheit im Winternotprogramm erneut vermerkt wurden oder weil sie zuerst an einem Standort auf der Liste landeten und später an einem anderen noch mal.

Fest stehe aber, dass immer mehr Menschen nach dem Ende des Winternotprogramms nicht unmittelbar auf die Straße zurückkehren müssten. Sozialsenatorin Melanie Leonhard sprach bei der Präsentation der detaillierten Auswertung des Erfrierungsschutzes im Sozialausschuss der Bürgerschaft von einem großen Erfolg. Der sei vor allem darauf zurückzuführen, dass der städtische Betreiber fördern&wohnen mehr Sozialberatung in den Unterkünften des Winternotprogramms anbiete.

45 Obdachlose wurden in Hostels vermittelt

Insgesamt fanden der Statistik zufolge 195 Obdachlose aus dem Winternotprogramm heraus einen Platz in einer städtischen Wohnunterkunft. 120 Personen zogen in „bestehenden Wohnraum in Deutschland“ zurück. In 45 Fällen wurden Obdachlose in Wohnprojekte oder Hostels vermittelt – also in eine „nicht dauerhafte und kommerzielle Beherbergungssituation“, wie Leonhards Sprecher Helfrich erläutert. Die Kosten für eine Unterbringung im Hostel zahle je nach Fall eine Beratungsstelle, die Fachstelle für Wohnungsnotfälle oder eventuell auch die Sozialbehörde selbst.

Ziel muss sein, dass alle eine dauerhafte Unterkunft bekommen.– Stephan Karrenbauer

Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer kritisiert, dass trotz aller Anstrengungen viele Menschen nach Ende des Winternotprogramms wieder zurück auf die Straße geschickt wurden. „Das Ziel müsste eigentlich sein, dass im kommenden Winter noch weniger Menschen das Winternotprogramm nutzen“, sagt er. „Und zwar, weil alle im Jahr zuvor eine dauerhafte Unterkunft bekommen haben.“

Vermittlung auch in Krankenhäuser oder Suchthilfe

In der Statistik der vermittelten Obdachlosen finden sich auch solche, die nach dem Winternotprogramm oder währenddessen in ärztliche Behandlung kamen: 34 Personen fingen eine Entgiftung an, 24 zogen in eine psychiatrische Einrichtung, ebensoviele ins Krankenhaus. „Immerhin sieben Mal“ fanden Obdachlose aus dem Winternotprogramm eine eigene Wohnung. Jeweils sechs Leute wurden an die Eingliederungshilfe oder an den Kinder- und Jugendnotdienst vermittelt, weil sie nicht zur Zielgruppe des Winternotprogramms gehörten.

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Obwohl die Zahl der Obdachlosen auf Hamburgs Straßen gestiegen ist, wurde das Winternotprogramm 2018/2019 deutlich weniger genutzt als im Jahr zuvor. Im Vorjahr lag die Auslastung bei 77 Prozent, im vergangenen Winter nur noch bei 67 Prozent. Dafür gebe es verschiedene Gründe, erklärte die Sozialsenatorin auf Nachfrage im Ausschuss. Es gebe einige Obdachlose, die das Winternotprogramm nur sporadisch nutzten, etwa wenn es besonders kalt sei. „Und es gibt auch eine Gruppe – und die ist auch nicht einheitlich – die das prinzipiell nicht nutzt“, erklärte Leonhard.

Für Sozialarbeiter Karrenbauer deutet die niedrige Auslastung auf ein Problem hin. „Irgendetwas ist am System nicht in Ordnung, wenn das Winternotprogramm bei 2000 Obdachlosen nur noch zu 67 Prozent ausgelastet ist“, sagt er. Die Diakonie hatte schon im Dezember kritisiert, das Winternotprogramm sei „zu abschreckend“ und müsse „einladender“ werden.

351 Menschen wurden von den Unterkünften abgewiesen

Abschreckend wirke auch die Tatsache, dass viele Obdachlose an den Unterkünften abgewiesen und zum Übernachten in die die Wärmestube in der Hinrichsenstraße geschickt werden, in der es keine Betten für sie gibt. Denn das Winternotprogramm ist defakto nicht mehr anonym nutzbar, die Teilnahme an der Sozialberatung wird zur Pflicht: der so genannten „Mitwirkungspflicht“. Wer ihr nicht nachkommt, wird fortgeschickt – eine Praxis, die die Diakonie als „rechtlich höchst fragwürdig“ kritisiert.

1492 Menschen wurden nach Angaben der Senatorin im Laufe des Winternotprogramms beraten. Die meisten der insgesamt 3830 Beratungen dienten demnach der Klärung ihrer persönlichen Lage. Was genau abgefragt werde, hänge von der individuellen Situation der Menschen ab. In vielen Fällen musste offenbar festgestellt werden, ob die Menschen etwa Anspruch auf Sozialleistungen hatten.

Laut Behörde werden Menschen auch in die Wärmestube geschickt, wenn sie sich nicht an das Alkohol- oder Drogenverbot im Winternotprogramm hielten oder Möglichkeiten, sich selbst zu helfen, nicht wahrnähmen – etwa indem sie eine vorhandene Wohnung nicht nutzten. Auch Konflikte im Zimmer könnten ein Grund sein, erklärte der Behördensprecher. Eindeutige Vorgaben der Behörde gibt es nicht, obwohl der Vorwurf für die Betroffenen harte Konsequenzen haben kann.

Denn am Ende entscheidet er darüber, ob man in einem Bett übernachten kann, oder nicht. Insgesamt wurden 351 Menschen in die Wärmestube geschickt, sagt der Behördensprecher auf Hinz&Kunzt-Nachfrage. Allerdings kamen dort nur 150 Menschen an, die sie tatsächlich nutzten. Sie stammten mit deutlicher Mehrheit aus Rumänien.

Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.

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