Autor Alhierd Bacharevič

„Ich bin ein ziemlicher Angsthase“

Ein Mann mit schwarzem Sakko und grauem Schal lehnt auf einem Geländer
Ein Mann mit schwarzem Sakko und grauem Schal lehnt auf einem Geländer
„Ich war dumm und naiv“, sagt Alhierd Bacharevič über sich selbst beim Blick zurück auf das Jahr 2006. Foto: Annette Hauschild/Ostkreuz

Über das Leben in einer Diktatur, eine Pfütze in Minsk und warum Hamburg ihn einmal gerettet hat – eine Begegnung mit dem im Exil lebenden belarussischen Schriftsteller Alhierd Bacharevič.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Ein Schriftsteller sollte am Schreibtisch sitzen und seine Bücher schreiben, nicht über seine Bücher sprechen“, wird er später sagen; in einem kleinen Café im Norden von Berlin-Charlottenburg. In zwei Tagen ist er in Litauen für mehrere Lesungen, ein nächstes Literaturfestival folgt. Aber er will sich nicht beschweren: „Es ist ein großes Privileg, als Schriftsteller im Exil von so vielen Menschen gelesen zu werden“, sagt er. Also – was möchten wir wissen?

Alhierd Bacharevič wird 1975 in Minsk geboren, er wächst in einer russischsprachigen Familie auf. Belarus ist damals eine Teilrepublik der UdSSR. Er erlebt deren Zusammenbruch und die Unabhängigkeit von Belarus im August 1991, er studiert, arbeitet als Lehrer, als Journalist. Er gründet die erste Punkband des Landes, was er heute mit einem müden Lächeln quittiert: „Wir waren provokant, aber ich war absolut kein Musiker.“ Er veröffentlicht erste Erzählungen, dann Romane. Das Land driftet bald ab in eine postsowjetische Diktatur, seit 1994 mit Aljaksandr Lukaschenko an der Staatsspitze: einem ehemaligen Politoffizier, vom Westen lange durchaus freundlich hofiert. Man hofft auf gute Geschäfte. Menschenrechte – nicht so wichtig.

„Ich war in Hamburg verliebt, dieses Leben war wunderbar.“

Alhierd Bacharevič

Dann kommt das Jahr 2006, im Herbst stehen Präsidentschaftswahlen an. Da soll im Sinne Lukaschenkos nichts schiefgehen. Alhierd Bacharevič arbeitet damals für ein Magazin. Ziemlich unbekümmert sei er gewesen, ein junger Schriftsteller, der auch aussprach, was er eben als Oppositioneller dachte. „Ich war dumm und naiv und nicht sehr erfahren“, lacht er. Bis ihn eines Tages seine Redakteurin zur Seite nimmt: Er werde von den Sicherheitskräften überwacht, er solle wirklich auf sich aufpassen. „Nach dem Gespräch habe ich viel Wodka getrunken, sehr viel Wodka.“ Er findet sich mitten in Minsk auf der Straße sitzend wieder, die Autos fahren um ihn herum. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte“, sagt er. Er hat ein kleines Kind, eine Familie. Er erinnert sich an eine Kollegin in Österreich, kontaktiert sie. Und sie hat eine Idee: Es gebe in Hamburg eine Stiftung für politisch verfolgte Künstler:innen, die Aufenthalts-Stipendien vergebe. Im Februar 2007 bekommt er eine Einladung von der „Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte“, wie sie mit ganzem Namen heißt.

„Die Stiftung hat mich gerettet“, sagt er. Nicht nur, weil er in Hamburg und dort im Schanzenviertel unterkommt, sondern weil sich darüber ein nächster Kontakt zur Schrift-steller:innenvereinigung PEN ergibt, dem ein weiteres Stipendium folgt. „Ich war in Hamburg verliebt, dieses Leben war wunderbar, ich habe so viele Leute kennengelernt, auch meinen Übersetzer“, erzählt er. So wie er selbst bald aus dem Deutschen ins Belarussische übersetzt, nebenher wächst seine Tochter heran: „Sie hatte bald viele deutsche Freunde, die in unserer Wohnung herumliefen, und sie lernte die Sprache im Nu.“ Später zieht die Familie auf die Veddel.

Doch die Ehe scheitert, und in Belarus wird eine neue Generation aktiv: „Es waren die nächsten jungen Leute am Start, die sagten: ,Wenn wir diesen Staat nicht durch politischen Protest verändern können, dann ändern wir diesen Staat durch Kultur‘. Und ich saß an meinem Schreibtisch, niemand interessierte sich für mich und mein Schreiben, und drüben passierte so vieles, ich war richtig neidisch“, erzählt er. Als er nach einer langen Pause seine Eltern 2013 in Minsk besucht, lernt er die Lyrikerin, Übersetzerin und auch Aktivistin Julia Cimafiejeva kennen. Eine zentrale Figur in der belarussischen Oppositionsbewegung.

Die beiden werden ein Paar. Von seiner Idee, mit ihm zurück nach Hamburg zu gehen, hält sie nichts. Er bleibt bei ihr und ein zweites belarussisches Leben beginnt: „Es waren seltsame Jahre einer weichen Liberalisierung: Unabhängige Buchhandlungen und Verlage entstanden, wir waren auch zu Lesungen im Ausland.“ Es gibt nur eine feine Grenze, die nicht überschritten werden darf: Die Kultur darf nicht politisch werden.

Im Sommer 2020, als wie überall auch in Belarus Corona ausbricht, verschärft sich die Lage wieder: „Lukaschenko hat erzählt, Corona gebe es gar nicht. Und wenn, dann helfe dagegen am besten viel Wodka trinken und Traktor fahren, das hat die Leute wirklich beleidigt.“ Und als im August 2020 Wahlen anstehen, sieht es zum ersten Mal danach aus, als könne der Diktator abgewählt werden. Der bringt seine Sicherheitskräfte und Geheimdienste in Stellung: „Ich bin ein ziemlicher Angsthase. Aber ich bin auch ein patriarchaler Mann und kann nicht ertragen, wenn meine Frau wo hingeht, wo es wirklich gefährlich ist, und ich bleibe zu Hause“, sagt Bacharevič. Also geht er mit auf die großen Demonstrationen, Minsk sei damals für einige Wochen eine freie Stadt gewesen.

Doch die Wahl wird manipuliert. In den Straßen machen die Sondereinheiten Jagd auf Demonstrant:innen. Er sagt: „Die Polizei war – nein, ‚brutal‘, das reicht als Wort nicht.“ Und er, der sonst fließend erzählt, der so viel Lust beim Ausschmücken seiner Erzählungen hat, sagt fast stockend: „Im Oktober sind wir bei einem großen Marsch durch die Stadt in einen Hinterhalt geraten – sagt man das so: ‚Hinterhalt‘?“ Er weiß noch, dass er auf der Flucht vor der Polizei plötzlich rasende Kopfschmerzen bekam: „Ich dachte damals, ich sterbe.“ Er schließt kurz die Augen: „Es hatte geregnet, vor mir war eine Pfütze, ich sehe bis heute diese Pfütze vor mir; ich weiß sofort wieder, wie ich dachte: In dieser Pfütze wirst du gleich liegen. Und das war es mit deinem Leben.“ Er rappelt sich auf, kann im Durcheinander entkommen.

Diesmal hilft die Stadt Graz in Österreich und gibt Bacharevič und seiner Frau Exil. Es folgen Einladungen in die Schweiz und nach Australien. 2022 auf 2023 ermöglicht ihnen die Hamburger Stiftung einen nächsten Aufenthalt.

Im letzten Herbst erscheint dann bei uns sein wuchtiger und wichtigster Roman „Europas Hunde“, fünf Jahre hat sein deutscher Übersetzer an ihm gearbeitet. Prämiert wird er in diesem Frühjahr auf der Leipziger Buchmesse mit dem Preis für Europäische Verständigung. „Die Kunst fragt nicht nach richtig und falsch, sondern nach dem Schönen, und sie gibt keine Antworten, sondern erweitert durch ihre Fragen den Raum des Denkbaren“, heißt es in der Jury-Begründung. „In meinem Roman gibt es keine Aufrufe zur Machtergreifung und zur Revolution. Es gibt weder politische Agitation noch oppositionelle Propaganda. Alles, was es gibt, ist Literatur. Literatur, die niemandem dient. Weil sie immer ein individueller Akt der puren Freiheit ist“, sagt denn auch Bacharevič.

Der Roman führt ins Jahr 2049, in dem ein archaisch-großrussisches Reich existiert. In dem ein Mann eine neue Sprache erfindet und den Fehler begeht, anderen davon zu erzählen. In dem ein junger, kahlköpfiger und segelohriger Mann auf einen Militärlaster steigt. In dem jemand durch Minsk irrt, er soll eine Plastiktüte übergeben, aber was ist in dieser Tüte? In Belarus ist das Buch längst verboten wie alle anderen Titel von Bacharevič auch. Wer in Belarus einen Titel von ihm im Regal stehen hat, riskiert bei einer Hausdurchsuchung eine Geld- oder auch Haftstrafe.

Aktuell leben er und seine Partnerin in Berlin – dank eines Stipendiums für Julia Cimafiejeva für ein Jahr; dazu gehört auch eine kleine Wohnung. Berlin gefällt ihnen, sie haben einen unbegrenzten Aufenthaltsstatus. Aber in Berlin eine bezahlbare Wohnung finden? Doch das ist es nicht, was ihm Sorgen macht. Er zündet sich eine Zigarette an: „Ich hatte noch nie so viel Aufmerksamkeit, so viele Interviews, aber ich bin gerade etwas in Verzweiflung, da ich überhaupt nicht weiß, wie ich weiterschreiben kann.“ Wo doch seine Muttersprache so existenziell für ihn ist, reicht es da, nur für die kleine, verstreute belarussische Exil-Gemeinde zu schreiben? Eine Rückkehr in das Land sei für ihn derzeit so gut wie ausgeschlossen. Und er sagt: „Natürlich spreche ich ein bisschen Deutsch, habe so 5000 deutsche Wörter und Redewendungen, aber im Belarussischen sind es Zehntausende, und das Wichtigste in meinem Leben ist doch, schön zu sprechen und schön zu schreiben.“

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Autor:in
Frank Keil
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