Momentaufnahme : „Langsam, langsam wird besser“

Daniel trägt Arbeitskleidung und schleift den Fußboden des Hinz&Kunzt-Hauses und lächelt in die Kamera.
Daniel trägt Arbeitskleidung und schleift den Fußboden des Hinz&Kunzt-Hauses und lächelt in die Kamera.
Seit Anfang diesen Jahres ist Daniel beim Straßenmagazin angestellt. Er hilft bei kleinen Reparatur- und Hausmeistertätigkeiten, bei Renovierungsarbeiten oder beim Umzug von Ver­käufer:innen. Parallel verkauft er das Monatsmagazin. Foto: Mauricio Bustamante.

Daniel, 55, verkauft Hinz&Kunzt vor Lidl in der Bramfelder Straße.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Ein fieser Lärm dröhnt durchs Hinz&Kunzt-Haus. Der Mann, der für den Krach verantwortlich ist, ist Hinz&Kunzt-Verkäufer Daniel. Geduldig und mit sicheren Schwüngen führt der 55-Jährige eine Holz-Schleif­maschine übers Parkett. Etliche Fuß­böden müssen ausgebessert werden. Mit dem Ergebnis seiner Arbeit ist Hinz&Kunzt-Hausmeisterin Roswitha Stelzner zufrieden. Hier noch ein bisschen wegnehmen, da aufpassen, damit keine Dellen entstehen, empfiehlt sie. Daniel nickt und legt wieder los: „Rossi sagt mir, was ich machen soll. Und dann mache ich das.“

Seit Anfang diesen Jahres ist Daniel beim Straßenmagazin angestellt. Er hilft bei kleinen Reparatur- und Hausmeistertätigkeiten, bei Renovierungsarbeiten oder beim Umzug von Ver­käufer:innen. Parallel verkauft er das Monatsmagazin. Vergangenen Dezember zog er in eine der Wohngemeinschaften im Hinz&Kunzt-Haus. Davor lebte der Rumäne obdachlos auf Hamburgs Straßen.

Seine Lebensgeschichte gleicht der vieler Rumän:innen, die irgendwann hier strandeten. Aufgewachsen ist er in Craiova, einer Stadt gut 200 Kilometer westlich von Bukarest. Acht Jahre ging er zur Schule, danach besuchte er einen sogenannten Qualifizierungskurs als Zimmermann. Mit dem kommunistischen System tat sich Daniel schwer: „Bam, bam, immer gehorchen, keine Freiheit, Milizia!“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Vertriebskollege Norbert hilft beim Übersetzen der schwierigen Materie: Im Rumänien unter Diktator Nicolae Ceaușescu herrschte Arbeitspflicht. Daniel aber hatte immer wieder Probleme im Job, wollte sich nicht unterordnen und den Arbeitsort nicht vorschreiben lassen. Doch wer nicht arbeitete und dazu Alkohol- oder andere Probleme hatte, landete im Knast.

Zwei Monate war Daniel in Haft, mit 150 Menschen in einem Raum. „Betten übereinander, zwei, drei Leute ein Bett!“, sagt er. Er wollte das Land unbedingt verlassen. Kurz nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, 1991, war es so weit. Fortan arbeitete er überall in Europa: Spanien, Schweiz, Frankreich, Deutschland. Immer für die wenigen Monate, die er im jeweiligen Land bleiben durfte. Immer ohne feste Anstellung, „Obst- und Gemüse ernten, Tee verpacken – egal was“, erzählt er. Dann, Anfang der 2000er-Jahre, hatte er einen schweren Unfall: Nicht angeschnallt fuhr er bei einem Freund im Auto mit. Der Wagen prallte gegen ein anderes Auto, Daniel schlug mit dem Kopf auf das Armaturenbrett. Zwei Monate lag er in Frankreich im Krankenhaus und kämpfte ums Überleben. Die Ärzte retteten ihn. Zurück blieb ein blindes Auge, was ihm seither die Jobsuche erschwert. Vor knapp drei Jahren fand der inzwischen obdachlose Daniel schließlich den Weg zu Hinz&Kunzt.

Seitdem geht es wieder bergauf. Neben dem Hinz&Kunzt-Job und dem Magazinverkauf besucht er vier Mal pro Woche einen Integrationskurs. Auch Deutsch lernen steht dort auf dem Stundenplan. Gerade hatte er das „erste Mal Akkusativ, Genitiv, Dativ, maskulin, feminin … eieiei!“, sagt er und lacht. „Aber es geht. Langsam, langsam wird besser.“

Artikel aus der Ausgabe:

Verloren in der digitalen Welt

Digital ist schneller, einfacher, besser? Nicht unbedingt, wie unser Schwerpunkt zur Digitalisierung und den Problemen der Teilhabe deutlich macht. Außerdem: In einem ehemalige Hotel im Wienerwald bekommen Obdachlose wieder Boden unter den Füßen – mithilfe von eigensinnigem Federvieh. Und: Warum ein Graffiti auf dem Kemal-Altun-Platz in Ottensen von niemandem angetastet wird.

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