Housing First

Rüdiger wohnt, Kirche sei dank

Ein Mann im karierten Pullover sitzt in einem hellen Zimmer auf einem Sofa
Ein Mann im karierten Pullover sitzt in einem hellen Zimmer auf einem Sofa
Wohnen kann so schön sein: Hinz&Kunzt-Verkäufer Rüdiger in den eigenen vier Wänden im Trinitatis Quartier. Foto: Miguel Ferraz

Viele Jahre hat er in Unterkünften leben müssen. Nun hat Hinz&Kunzt-Verkäufer Rüdiger endlich wieder eine Wohnung – und genießt die ungewohnte Ruhe.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Nachher wird Rüdiger sich Königsberger Klopse warm machen, die in einem kleinen Topf auf dem Herd stehen. Wird zu den Resten des gestrigen Mittagessens Kartoffeln kochen und Erbsen. Und wird zurückdenken an die Zeit in der Containerunterkunft, in der er eine spartanisch eingerichtete, meist verschmutzte Küchenzeile mit drei anderen, ihm fremden Männern teilen musste – und ihm schnell die Lust vergangen war, sich dort eine Mahlzeit zuzubereiten.

Der 60-jährige Hinz&Kunzt-Verkäufer ist in diesen Tagen ein zufriedener Mensch: Er hatte das große Glück, in eine der begehrten Housing-First-Wohnungen im Trinitatis Quartier ziehen zu können. Das Neubau-Ensemble an der Altonaer Königstraße gilt als Vorzeigeprojekt der Evangelischen Kirche. Neben Pilgerherberge, Kita und Begegnungscafé sind hier 26 Wohnungen für Menschen wie Rüdiger entstanden. Menschen, die auf dem Hamburger Wohnungsmarkt gewöhnlich keine Chance haben.

Das Leben hat es mehrfach nicht gut gemeint mit Rüdiger: Er muss im Rollstuhl sitzen, Folge eines schweren Arbeitsunfalls 2007. Ein Gabelstaplerfahrer hatte ihn beim Beladen eines Lastwagens übersehen und gegen einen Palettenstapel gepresst. Rüdiger verlor die Arbeit und bald auch die Wohnung auf St. Pauli, in der er damals lebte. Zwölf Jahre wohnte er daraufhin in einer Unterkunft in Stellingen, bis eine Explosion das Haus zerstörte. Es folgten drei Monate Notunterbringung in einer Schulturnhalle und drei Jahre Leben im Container – rollstuhlgerechte Unterbringung sieht anders aus. Ohne Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Irina Mortoiu hätte Rüdiger sein neues Zuhause im Trinitatis Quartier kaum bekommen. Sie hat ihn der Kirche als Mieter vorgeschlagen und steht ihm in Behördenfragen oder bei Problemen weiter zur Seite – ein gutes Gefühl für ihn: „Ich kann sie jederzeit anrufen.“

Beengt: Bis vor kurzem musste Rüdiger auf wenigen Quadratmetern leben. Foto: Miguel Ferraz
Beengt: Bis vor kurzem musste Rüdiger auf wenigen Quadratmetern leben. Foto: Miguel Ferraz

Rückblende: ein Nachmittag Ende Januar. Rüdiger öffnet die Tür seines kleinen Zimmers in einer Fördern & Wohnen-Unterkunft in Bahrenfeld und bittet den Besuch herein. Autor und Fotograf finden gerade so Platz, Sozialarbeiter und Unternehmenssprecherin, die den Termin begleiten wollen, bleiben im Flur stehen. Bis zu 425 Menschen leben hier in sogenannter öffentlich-rechtlicher Unterbringung in aufeinandergestapelten Containern. Die bieten Platz für je sechs Menschen in drei kleinen Zimmern, Küche, Klo und Dusche müssen sich die Bewohner:innen teilen, oft für Jahre. „Du bist nie privat hier“, beschreibt Rüdiger das Leben in der Großunterkunft – obwohl er anders als die meisten zuletzt allein im Zimmer lebte. Der Sozialarbeiter, der Rüdiger in dieser Zeit unterstützt hat, sagt einen bemerkenswerten Satz: „Es gibt hier viele selbstständige Menschen, die ihren Alltag gut auf die Reihe bekommen. Die könnten ganz normal in einer Wohnung leben – nur finden sie einfach keine.“

850 Euro Gebühren zahlt in Rüdigers Fall das Sozialamt pro Monat für ein Wohnen, das Rüdiger mit einem Wort beschreibt: „Stress“. Warum ist das so teuer? Und warum baut die Stadt mit dem Geld nicht Häuser, in denen die Menschen viel angenehmer wohnen könnten? „Die mit entsprechendem Baurecht versehenen Flächen sind eine knappe Ressource“, teilt Fördern & Wohnen auf Nachfrage dazu mit. Die stark gestiegenen Gebührensätze – 2022 waren es noch 518 Euro pro Kopf und Monat – erklärt das Unternehmen mit dem Ukraine-Krieg und seinen Folgen: mehr Geflüchtete, mehr Unterkunftsbedarf, erhebliche Kostensteigerungen. Immerhin, auch Fördern & Wohnen baut, „In Zukunft Wohnen“ heißt das neuerdings. Gemeint sind Projekte wie in der Wichmannstraße in Altona, wo 107 Wohnungen entstanden sind. Sie werden zunächst für die Unterbringung von Wohnungslosen genutzt, sollen in einem beziehungsweise drei Jahren aber in Sozialwohnungen umgewidmet werden. „Während der Nutzungsphase als öffentlich-rechtliche Unterbringung erfolgt dabei üblicherweise eine dichtere Belegung, als für Wohnen vorgesehen ist“, so die Sozialbehörde.

Nur 377,42 Euro monatliche Miete zahlt das Amt für Rüdigers neu gebaute 33,5-Quadratmeter-Wohnung – inklusive 140 Euro Heiz- und Betriebskostenvorauszahlung. Wie kann das Wohnen in einem kirchlichen Musterneubau nicht mal halb so viel kosten wie das in einer Containerunterkunft? Der Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein verweist auf die Unterstützung der Hamburgischen Investitions- und Förderbank (IFB): „Konkret profitiert das Projekt von zinsgünstigen Darlehen sowie von verschiedenen Förderprogrammen der Bank, die zusätzliche Förderungen für besondere soziale Zwecke bereitstellt.“ Hinzu kamen Spenden einer Stiftung – und der Umstand, dass das Grundstück in Altona bereits der Kirche gehört hat.

„Angenehm ruhig“ sind die ersten Wochen in den eigenen vier Wänden gewesen, sagt der Hinz&Künztler an einem Montagvormittag im Mai, während im Hintergrund lautlos der Fernseher flimmert. Schlafcouch, Schrank, Tisch und Stühle hat er in einem Sozialkaufhaus für kleine Preise gefunden. Nur ein Bett fehlt ihm noch, was aber nicht schlimm ist, weil Rüdiger auch ohne viel besser schläft als in der Unterkunft: „Da hast du mit einem Ohr ja immer gehorcht, wer nachts rumläuft und ob noch alles da ist.“

Nachmittags geht Rüdiger gerne ins Begegnungscafé im Haus nebenan. Von seinen neuen Nachbar:innen habe er bislang nicht viel mitbekommen, erzählt er, aber: „Zwei, drei von ihnen treffe ich drüben oft beim Kaffeetrinken.“ Viel Zeit verbringe er mit seiner Freundin, mit der er seit 13 Jahren zusammen ist. Beide waren heroinabhängig und leben heute mit Polamidon, ein Opioid, das sie langfristig aus der Sucht herausführen soll. „Unser Ziel ist, das Polamidon langsam zu reduzieren“, sagt Rüdiger. „Aber das ist schwer.“

Manchmal ist er morgens zuletzt mal länger im Bett liegen geblieben, erzählt Rüdiger: weil er die ungewohnte Ruhe um sich herum genießen wollte. Wenn es gut läuft, werden er und seine Freundin sogar bald Urlaub machen – das erste Mal seit vielen Jahren. Eine Leserin, die den Hinz&Kunzt-Verkäufer mit Rat und Tat unterstützt, habe sie dazu eingeladen. Irgendwo an die Ostsee soll es gehen, sagt Rüdiger: „Damit wir mal rauskommen und entspannen können.“

Artikel aus der Ausgabe:
Hinz&Kunzt-Titelblatt mit einem Mann, der einen Nackthund auf dem Arm hat und sagt: "Er ist total eifersüchtig."

Wahre Liebe

Was ist Liebe und wie lebt man sie aus? Und was geschieht, wenn Kinder zu wenig elterliche Liebe bekommen? Außerdem: Abschiebungen vom Flughafen sind laut Diakonie oft kritikwürdig und Hinz&Künztler Rüdiger hat endlich eine Wohnung.

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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