Karsten liest – immer. Seit sieben Jahren lebt er auf Hamburgs Straßen. Er erzählt von seiner Jugend, den Büchern, die ihn durchs Leben begleiten, und warum er ständig Krimis liest, obwohl er sie gar nicht so sehr mag.
Beim Schnorren sitzt er immer auf die gleiche Weise da. Kopf gesenkt, Rücken nach vorn gerollt, Beine im Schneidersitz, vor ihm ein aufgeschlagenes Buch. Seine braunen Augen überfliegen die Seiten. Hunderte täglich. Zweimal haben wir den 25-jährigen Karsten getroffen und ihn nach den Büchern seines Lebens gefragt:
Harry Potter
Es gab Momente, in denen mein Vater nett zu uns war – aber nicht viele. Er trank allen möglichen Schnaps und wurde dann aggressiv. Natürlich hat er mich geschlagen. Meine Stiefmutter hat er auch geschlagen. Manchmal denke ich an sie und mache mir Sorgen. Sie war nett zu mir, ich mochte sie. Mit 13 habe ich Harry Potter gelesen. Die Bücher habe ich von ihr bekommen. Es waren die einzigen, die sie gelesen hat. Harry Potter und sonst nichts. Wenn mein Vater wach war, hatte ich wenig Zeit zum Lesen, weil er immer etwas wollte. Putzen, einkaufen, Rasen mähen. Er hatte einen Minijob als Hausmeister. Da musste ich viel helfen. Doch wenn er geschlafen hat, habe ich mich in mein Zimmer verzogen und stundenlang gelesen. 100 bis 200 Seiten am Tag. Für den ersten Band habe ich vier Tage gebraucht, für „Orden des Phoenix“ mit über 1000 Seiten eine Woche. Ich wollte in eine andere Welt abtauchen und mein eigenes Leben eine Zeit lang vergessen. Das hat funktioniert. Solange ich gelesen habe, ging es mir gut.
