Obdachloser Bücherwurm

„Ich wünschte, ich könnte in Büchern leben“

Eine Illustration von einem lesenden Mann, der auf dem Boden sitzt
Eine Illustration von einem lesenden Mann, der auf dem Boden sitzt
„Lesen ist ein guter Zeitvertreib, aber auch Realitätsflucht“, sagt der Obdachlose Karsten. Illustration: Stefan Bachmann

Karsten liest – immer. Seit sieben Jahren lebt er auf Hamburgs Straßen. Er erzählt von seiner Jugend, den Büchern, die ihn durchs Leben begleiten, und warum er ständig Krimis liest, obwohl er sie gar nicht so sehr mag.

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Beim Schnorren sitzt er immer auf die gleiche Weise da. Kopf gesenkt, Rücken nach vorn gerollt, Beine im Schneidersitz, vor ihm ein aufgeschlagenes Buch. Seine braunen Augen überfliegen die Seiten. Hunderte täglich. Zweimal haben wir den 25-jährigen Karsten getroffen und ihn nach den Büchern seines Lebens gefragt:

Harry Potter

Es gab Momente, in denen mein Vater nett zu uns war – aber nicht viele. Er trank allen möglichen Schnaps und wurde dann aggressiv. Natürlich hat er mich geschlagen. Meine Stiefmutter hat er auch geschlagen. Manchmal denke ich an sie und mache mir Sorgen. Sie war nett zu mir, ich mochte sie. Mit 13 habe ich Harry Potter gelesen. Die Bücher habe ich von ihr bekommen. Es waren die einzigen, die sie gelesen hat. Harry Potter und sonst nichts. Wenn mein Vater wach war, hatte ich wenig Zeit zum Lesen, weil er immer etwas wollte. Putzen, einkaufen, Rasen mähen. Er hatte einen Minijob als Hausmeister. Da musste ich viel helfen. Doch wenn er geschlafen hat, habe ich mich in mein Zimmer verzogen und stundenlang gelesen. 100 bis 200 Seiten am Tag. Für den ersten Band habe ich vier Tage gebraucht, für „Orden des Phoenix“ mit über 1000 Seiten eine Woche. Ich wollte in eine andere Welt abtauchen und mein eigenes Leben eine Zeit lang vergessen. Das hat funktioniert. Solange ich gelesen habe, ging es mir gut.

Die Tribute von Panem

Die Tribute von Panem habe ich mir als Jugendlicher von meinem ersten eigenen Geld gekauft. Ich war 16, als ich eine Lehre im Bäckereiverkauf begann. Zweieinhalb von drei Jahren habe ich gemacht. Dann hat mich mein Vater daheim rausgeschmissen und ich war obdachlos. Die Lehre musste ich gezwungenermaßen abbrechen. Nach ein paar Wochen auf der Straße bin ich nach Hamburg gekommen. Ich wusste nicht, wie man schnorrt, genauso wenig, wie man Platte macht. Irgendwann habe ich junge Punker kennengelernt. Die haben mich mit auf ihre Platte genommen und mir ein bisschen geholfen. Den ersten Winter haben wir zusammen verbracht. Am Anfang konnte ich nicht schnorren. Ich konnte die Leute nicht ansprechen. Nach zwei, drei Monaten ging es dann doch. Heute klappt das Schnorren vor allem, weil ich lese. Das fällt einfach auf. Es ist sehr selten, dass Obdachlose nur am Lesen sind – oder überhaupt lesen. Letztens habe ich den zweiten Panem-Teil wiederbekommen. Mein Kollege hat ihn mir aus einer Fundbox mitgebracht. Wir lesen die Bücher, legen sie danach zurück in die Fundbox und nehmen uns neue.

Der Junge aus dem Wald

Ich habe drei, vier Leute, die mir ihre alten Bücher schenken. Das sind größtenteils Thriller. Sehr selten ist mal ein Fantasy-Buch dabei. Eigentlich mag ich Fantasy lieber, aber Krimis bekomme ich mehr, deshalb lese ich viele Krimis. Einen, den ich empfehlen kann, ist „Der Junge aus dem Wald“. Das Buch ist gut. Leider weiß ich nicht mehr, von welchem Autor es ist. Es geht um einen Jungen, der im Wald gefunden wurde. Ohne Erinnerung. Als er erwachsen ist, sucht er nach Kindern, die verschwunden sind. Ich denke nicht, dass ich selbst auch verschwunden bin. Mein Vater weiß, dass ich in Hamburg bin. Einmal habe ich ihn angerufen. Das ist schon ein paar Jahre her. Ich dachte, er würde sich vielleicht für mich interessieren. Er hat nur gefragt, wovon ich lebe, nicht einmal, wie es mir geht, dann hat er aufgelegt.

Die Hüter der vier Elemente

Gerade lese ich ein Fantasy-Buch. Der letzte Band der Trilogie. Die ersten beiden habe ich nicht gelesen. Auf der Straße bekommt man schwer eine ganze Reihe. Meistens nur ein oder zwei Bücher und dann auch nicht in der richtigen Reihenfolge. Beim Lesen achte ich auf den Schreibstil. Die beste Geschichte bringt nichts, wenn sie schlecht geschrieben ist. Bisher ist dieses Buch ganz okay. Ich bin erst auf Seite 25. Mehr kann ich sagen, wenn ich weiter bin. Lesen ist ein guter Zeitvertreib, aber auch Realitätsflucht. Ich wünschte, ich könnte in Büchern leben. Wenn ich lese, vergesse ich manchmal, dass ich obdachlos bin.

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 393

Hamburg behindert

Wie barrierefrei ist Hamburg? Wir waren mit obdachlosen Rollifahrer:innen unterwegs und haben den Influencer Mr. BlindLife getroffen. Außerdem: Mit „Songs for Joy“ kommt ein Film über ein außergewöhnliches musikalisches Mitmach-Projekt in die Kinos.

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Maja Schirrle
Jahrgang 1999. Schreibt über Außenseiter und Unterschätzte.

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