Alles startete als Kleiderkammerprojekt in Halle B6: Als im August 2015 Zehntausende Geflüchtete nach Deutschland kamen und Hamburg eine Notunterkunft in den Messehallen errichtete, war das die Geburtsstunde von Hanseatic Help.
Inzwischen versorgt die NGO mehr als 300 soziale Einrichtungen, organisiert internationale Hilfslieferungen – und feiert nun zehnjähriges Bestehen. Projektkoordinatorin Corinna Walter, 45, über den „Spirit 2015“ und die Superkraft des Ehrenamts.
Hinz&Kunzt: Wie kamen Sie zu Hanseatic Help?
Corinna Walter: Eigentlich wollte ich nur eine Kiste mit aussortierter Kleidung abgeben. Ich hatte einen Spen-denaufruf auf Facebook gelesen, etwa eine Woche nach Projektstart. Vor Ort hatte ich noch zwei Stunden Zeit und fragte spontan: „Kann ich mit anpacken?“ Seitdem habe ich quasi die Halle, aus der dann Hanseatic Help entstanden ist, nie wieder verlassen. So ging es vielen damals. Es lag dieser Spirit in der Luft.
Was für ein Spirit?
So unfassbar viele Leute, diese enorme Spenden- und Hilfsbereitschaft … Es gab immer etwas zu tun. Dadurch entwickelte sich eine Art Eigendynamik. Man hatte jeden Abend Bock, am nächsten Tag wiederzukommen. Helfen fühlte sich fast wie ein Suchtfaktor an.
Wie ging’s weiter?
Die Messehalle füllte sich gigantisch schnell mit Spenden, viel zu viel Kleidung. Außerdem kamen 2015 vor allem junge syrische Männer, deren Statur nicht der eines Hamburgers entsprach. Wir hatten zu viel in Größe XL statt S, dazu jede Menge Frauen- und Kinderkleidung. So entstanden Kontakte zu Hilfseinrichtungen und Frauenhäusern. Im Dezember 2015 begannen wir, das, was wir hier im Überfluss hatten, in Krisengebiete zu schicken. Solche Auslandstransporte sind bis heute fester Teil von Hanseatic Help.
Euer Startdatum ist der 15. August 2015. Zwei Monate später war offizielle Vereinsgründung. Wie kam es dazu?
Firmen kamen auf uns zu, wir mussten plötzlich Spendenquittungen ausstellen. Als immer mehr Leute mit anpackten, war klar: Wir brauchen eine Struktur. Für eine Vereinsgründung muss man eine Satzung schreiben, sich mit Vereins- und Steuerrecht auseinandersetzen … Zum Glück hatten wir Leute mit Know-how. Nach der Gründung konnten wir Leute anstellen und Freiwillige entlasten. Wer will schon ehrenamtlich eine Steuererklärung machen? (grinst)

Wie viele seid ihr inzwischen?
Rund 150 freiwillige Helfer:innen, 26 Hauptamtliche, 34 weitere sind über das Teilhabechancengesetz angestellt. Menschen mit teils brüchigen Lebensläufen, Einschränkungen, schweren Rucksäcken. Menschen, denen unsere Gesellschaft das Gefühl gibt, nichts wert zu sein, weil sie etwa keinen Schulabschluss haben. Viele durchlaufen bei uns eine krasse Veränderung: Sie kommen klein und gebückt zu uns – und haben nach zwei Jahren aufrechte Schultern und ein Strahlen im Gesicht. Da sieht man, was es mit Leuten macht, eine Aufgabe zu haben.
Was mögen Sie besonders gerne an Ihrem Job?
Zu wissen, dass wir etwas Sinnvolles tun, etwas bewirken. Und unser großartiges, diverses Team! Wir lachen viel: über absurde Kleidungsspenden, Schlafanzüge mit Krokodilkopf zum Beispiel. Alle Helfer:innen haben einen unterschiedlichen Background. Und: Alle haben Bock, die Gesellschaft etwas wärmer zu machen – auch wenn wir an den meisten Notlagen nichts ändern können.
Nein?
Nein, das ist eine Illusion. Wir können weder Wohnungslosigkeit noch Kinderarmut abschaffen. Notversorgung heißt: Wir ändern nicht das Leben der Menschen, sondern nur den Moment. Wenn ich einem Obdachlosen eine Jacke gebe, wird er nachts zwar nicht erfrieren, aber er hat immer noch keine Wohnung.
Ist das frustrierend?
Es macht mich eher wütend. Auf verhärtete Strukturen, die sich so schwer ändern lassen.
Stumpft man über die Jahre ab?
Im Gegenteil: Die Arbeit bei Hanseatic Help hat mich sensibler gemacht. Flucht, Bürgergeld und Wohnungslosigkeit waren früher Zahlen für mich. Doch im Kontakt mit den Menschen erfährt man persönliche Schicksale. Das geht ins Herz.
Wir sitzen in einem eurer Stores am Ballindamm. Wer einen Bedürftigkeitsnachweis hat, kann sich hier kostenlos Kleidung aussuchen. Seit wann gibt es diese Stores?
Immer öfter hatten Sozialberatungen bei uns einzelne Kleidungsstücke angefragt: „Habt ihr eine Frauenhose in Größe M?“ Aber ohne zu wissen, was ihr gefällt und passt, hat das wenig mit Würde zu tun. Eine Person soll selbst entscheiden, was sie trägt. Als dann der Krieg in der Ukraine begann, kamen viele Frauen und Kinder. Weil die nicht in Sammelunterkünften, sondern vereinzelt in ganz Hamburg untergebracht wurden, stellte sich die Frage: Wie erreichen wir die? So kam es zu unserem ersten Hanseatic Help Store. Inzwischen gibt es drei von ihnen: in der Hamburger Meile, im Phoenix-Center Harburg und hier am Ballindamm.
Mitten am Jungfernstieg – ist das nicht schräg?
… neben Luxusboutiquen und dem Apple Store, wo du dir für absurd viel Geld das neueste iPhone kaufen kannst? Eigentlich ist das genau richtig, um zu zeigen: Armut ist auch Teil dieser Stadt. Diejenigen, die hierherkommen, haben so ein richtiges Shopping-Erlebnis. Unsere Hanseatic Help Stores sind bewusst so gestaltet, dass sie nicht wie Sozialkaufhäuser aussehen. Niemand muss sich hier „geoutet“ fühlen. Aber ja, zukünftig wollen wir eher in die Stadtteile, in denen die Leute auch wohnen.
Apropos Zukunft: Was sind eure Ziele?
Uns selbst abzuschaffen, weil’s keine Armut mehr gibt. (lacht) Und eine Nummer kleiner: Wir wollen soziales Engagement stärken. Mehr Menschen motivieren, mit anzupacken. Gerade junge Leute oder Menschen mit Migrationshintergrund. Gerade bauen wir unsere Inklusionsarbeit aus, damit auch Menschen mit Behinderung mithelfen können. Das Problem ist nicht, Kleiderspenden zu kriegen, sondern genügend Unterstützer:innen. Dabei hat Engagement die Superkraft, beide zu bereichern: diejenigen, denen geholfen wird, und diejenigen, die helfen.
Inwiefern?
Freiwilliges Engagement verändert Menschen. Es gibt ihnen eine Aufgabe und einen Grund, das Haus zu verlassen. Und es bedeutet Gemeinschaft. Einen Ort zu haben, an dem man zusammenkommt, den Alltagsstress hinter sich lässt – gerade in einer Gesellschaft, die immer schneller wird.
Wie kann man sich bei euch engagieren?
Einfach in unserem Standort in der Großen Elbstraße vorbeikommen – ganz locker. Klamotten sortieren ist keine Raketenwissenschaft. Nur in den Hanseatic Help Stores muss man sich online einen Termin buchen. Wer mehr Infos möchte, kann uns eine Mail an freiwillig@hanseatic-help.org schreiben. Und: Ehrenamtliches Engagement bedeutet nicht zwingend, Klamotten sortieren. Wir freuen uns auch über Hilfe im Social-Media-Bereich, Leute mit IT-Skills oder Lkw-Führerschein …
