Jüdische Geflüchtete : Von Hassel­brook nach Buenos Aires

Corinna Below (links) und Christina Igla wälzen Akten im Hamburger Staatsarchiv. Foto: Dmitrij Leltschuk
Hinz&Kunzt Randnotizen

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Als die Reporterin Corinna Below 1999 für einen privaten Besuch nach Argentinien reist, weiß sie noch nicht, dass sie sich danach den Lebenswegen von 49 aus Nazideutschland Geflüchteten widmen wird. Auch dem von Edith Sichel, aufgewachsen in Hamburg-Hamm.

Sie hat einen langen Schulweg: Edith Brauer, die ­später Edith Sichel heißen und in Argentinien ­leben wird. Im Dezember 1937 wird sie Hitler-Deutschland mit ihren Eltern und Geschwistern von Hamburg aus per Schiff verlassen. Noch aber muss sie die Griesstraße im Stadtteil Hamm hinuntergehen, links in den Hammer Steindamm abbiegen und diesen bis zum Bahnhof Hasselbrook gehen. Damals fährt die S-Bahn noch nicht, sondern die „Hamburg-Altonaer Verbindungsbahn“. Am Bahnhof Dammtor steigt sie aus, geht den schmalen Weg längs der Gleise an Planten un Blomen entlang, biegt linkerhand in die Karolinenstraße ein und ist endlich am Ziel: Sie betritt die Räume der Israelitischen Töchterschule; heute ein Gedenkort in Verantwortung der Volkshochschule,  die hier auch Unterrichtsräume hat. Damals fährt Edith nach der Schule den langen Weg zurück nach Hamm.

„Aber wieso steht hier als letzte Adresse nicht die Griesstraße, sondern Durchschnitt, Hausnummer 1?“, fragt ­Corinna Below und zeigt auf den Eintrag auf einem brüchigen Blatt Papier. Das sei doch im Grindelviertel, eine kleine Stichstraße zwischen der Straße An der Verbindungsbahn und der Grindelallee. „Vielleicht konnten die Brauers zuletzt die Miete in der Griesstraße nicht mehr zahlen, sie mussten sich etwas Günstigeres suchen, oder ihnen wurde als jüdische Familie schlicht die Wohnung gekündigt – was genau der Grund ist, wissen wir nicht“, sagt Christina Igla von der Hamburger Stolperstein-Gruppe. Sie hat im Staatsarchiv für Corinna Below die Wiedergutmachungsakte von Edith Sichel heraussuchen lassen. Aus der geht hervor, dass die Bundesrepublik sie am Ende für die erlittene Verfolgung finanziell entschädigt hat.

Lesung und Filmvorführung

Corinna Below zeigt ihren Film, liest aus ihrem Buch und spricht über ihr Projekt: 2. Mai, 19 Uhr, Jüdisches Kulturhaus, Flora-Neumann-Straße 1. Eintritt: 10 Euro. Anmeldung hier.
Auf www.einstueckdeutschland.com sind die Podcasts zu hören. Bisher sind 38 Folgen erschienen. Das Buch „Ein Stück Deutschland“ kann man als Book on Demand für 28 Euro unter der ISBN 978-3743117341 bestellen.

Nun sitzen die beiden Frauen im dortigen Lesesaal über der Akte aus den 1950er-Jahren und versuchen, Sichels Hamburger Jahre nachzuvollziehen. „Ach, schau mal“, sagt Corinna Below. „Da stehen ja die Namen von Ediths Geschwistern!“ Und sie liest vor: Max und Rita und Sigrid, die jüngste. Auch dass Edith mit zweitem Namen Olinda hieß, hat sie bis eben nicht gewusst. In der rechten Hand hält sie ein Mikrofon, schaut immer wieder auf das Display ihres Rekorders, ob mit der Aufnahme alles okay ist. Denn aus dieser Stunde Aktenstudium mit Gespräch wird sie in den nächsten Tagen eine weitere Folge ­ihrer Podcast-Reihe „Ein Stück Deutschland“ schneiden und diese später ins Internet stellen: die Geschichte von Edith, der Jüdin aus Hamburg-Hamm, der sie in Argentinien persönlich begegnet ist und die sie dort 64 Jahre nach ihrer Flucht interviewt hat.

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Artikel aus der Ausgabe:

Zehn Jahre Lampedusa in Hamburg

Nach der Solidaritätswelle: Wie die Lampedusa-Geflüchteten in Hamburg angekommen sind – und wie die EU sich an ihren Grenzen immer weiter abschottet. Außerdem: Wieso Hamburgs Wohnunterkünfte überfüllt sind wie sich ein Festival gegen Antisemitismus stark macht. 

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