Betteln in der Innenstadt : Zwischen den Welten

Eine Frau bettelt am Jungfernstieg. Foto: Miguel Ferraz

Hamburg diskutiert über Betteln und Verelendung, die Politik verspricht Lösungen. Werden die ausreichen? Wir haben nachgefragt, auch bei Menschen auf der Straße.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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An diesem Morgen Anfang November begegnet Vasile (Name geändert, Red.) Menschen mit Herz. Innerhalb weniger Augenblicke schenken ihm eine junge Frau und ein Vater mit Kind ein Lächeln, freundliche Worte und etwas Geld. Der 65-Jährige mit dem wilden Bart sitzt auf dem Fußweg, dort, wo der Steintordamm als Brücke die Gleise des Hauptbahnhofs überquert. Sein Rücken lehnt an einem Einkaufswagen, in dem der Obdachlose sein „Bett“ transportiert: Pappen, Decken und einen Schlafsack. Obendrüber hat Vasile eine Plastikplane gebunden, zum Schutz vor Feuchtigkeit. Der Rumäne kann kein Deutsch. Wer seine Sprache spricht, hört eine Geschichte, wie sie viele auf Hamburgs Straßen erzählen könnten: „Schon früher“ sei er in Hamburg gewesen und zuletzt vor zwei Wochen aus der Heimat angereist. Dort habe er zwar ein einfaches Dach über dem Kopf. Aber keine Arbeit und kein Auskommen. Keine Hilfe vom Staat, keine Rente und nicht mal eine Krankenversicherung. Die Medikamente, die Vasile braucht und in einer Plastiktüte mit sich trägt, bezahlt er mit dem, was er hier erbettelt: „Zu Hause habe ich gar nichts. Hier habe ich die Möglichkeit, ein bisschen Geld zu verdienen und etwas zu essen zu bekommen.“

Der Anblick von Menschen wie Vasile hat in Hamburg eine Diskussion ausgelöst: Liegen immer mehr Obdachlose in den Geschäftseingängen? Verelenden die Menschen auf der Straße zunehmend? Und werden die Bettelnden immer aufdringlicher? City-Managerin Brigitte Engler sagt, sie bekomme „seit geraumer Zeit Hinweise“ – von Geschäftsleuten, Sicherheitskräften und Bürger:innen. Dabei gehe es um „ganz unterschiedliche Gruppen“, so die Sprecherin der Gewerbetreibenden in der Innenstadt. Vor allem rund um den Hauptbahnhof nehme das sichtbare Elend von Suchtkranken zu: „Es gibt Betreiber von Einkaufspassagen, die sich gezwungen sehen, ihre Toiletten zu schließen, weil sie permanent für Drogenkonsum genutzt werden.“ Hinzu kämen psychisch kranke Obdachlose, um die sich offenbar niemand kümmere: „Wenn ich sehe, wie sich jemand mit freiem Oberkörper auf allen Vieren durch die Stadt bewegt: Das zerreißt einem das Herz!“ Außerdem werde ihr von „Gruppen sehr aggressiver Bettler“ berichtet, von denen manche glaubten, sie handelten organisiert.

Die drei Geschwister aus Moldawien, die an diesem Morgen mit Plastikbechern in der Hand durch die Spitaler Straße ziehen und Vorbeigehende um Geld bitten, können bei oberflächlicher Betrachtung solche Fantasien hervorrufen. Mihail (Name geändert, Red.), ein 16-Jähriger mit ersten Barthaaren, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, bestreitet den Vorwurf jedoch energisch: „Viele Leute glauben, es gibt eine Bettel-Mafia. Aber wir möchten nur etwas zu essen kaufen. Wir haben Hunger.“ Der Heranwachsende spricht gutes Deutsch, und das hat einen Grund: Er habe nahezu sein gesamtes Leben mit den Eltern in Hamburg verbracht, erzählt Mihail. Ein Aufenthaltsrecht hätten sie trotzdem nicht und keinen Anspruch auf Sozialleistungen – obwohl seine Eltern, wie Mihail sagt, früher mal Reinigungsjobs hatten. „Ich würde jeden Job machen“, sagt der Jugendliche. Doch er hat keinen. So leben er und seine Familie vom Betteln. Und schlafen in einem Zelt.

Gibt es in der Innenstadt immer mehr bettelnde Menschen? Die Polizei jedenfalls stellt „keine signifikante Zunahme“ fest. Und es gebe auch „keine Hinweise auf organisierte Bettlerbanden“, erklärt ein Sprecher auf Anfrage von Hinz&Kunzt.

Aus Sicht von Jörg Harengerd, Center-Manager der Europa Passage, sind Bettelnde ohnehin „der geringere Teil des Problems“. Mehr zu schaffen machen ihm Pfandsammler:innen. 10.000 Essen werden täglich in der Einkaufsmeile verzehrt und 5000 Pfandflaschen geleert. Da lässt sich Geld verdienen. „Wir haben dieses Jahr schon 60 bis 70 Hausverbote ausgesprochen, weil Sammler durch unseren Foodcourt gehen und Menschen ansprechen, die noch essen.“ Und noch etwas beschäftigt den Center-Manager: In den 22 Treppenhäusern der Passage schlafen Menschen. „Jede Nacht entdeckt der Sicherheitsdienst drei bis sechs Lager, meist von obdachlosen Betäubungsmittelkonsumenten.“ Für Harengerd ist klar, wer die Probleme lösen muss und wie: „Ich sehe den Staat in der Pflicht. Wir zahlen schließlich auch dafür Steuern.“ Es brauche Unterkünfte für die Menschen und ­Arbeit. „Dafür muss die Stadt Geld in die Hand nehmen.“

Ob Ralf Neubauer solchen An­sprüchen gerecht werden wird? Der Leiter des Bezirksamts Mitte plant neben einer neuen Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose ein Modellprojekt in der Neustadt. Hier sollen „Menschen in besonders prekären Lebenslagen in ihrer persönlichen Entwicklung stabi­lisiert und mit ihnen Perspektiven ent­wickelt werden“, so der SPD-Politiker. Ob er damit ein Gesundheits- und Beratungsangebot meint oder auch eine neue Unterkunft, ließ Neubauer auf Hinz&Kunzt-Nachfrage offen. Einzelheiten, erklärte seine Sprecherin, sollen im Dezember bekannt gegeben werden. Wo Vasile dann sein wird, ist ungewiss. Das hänge vor allem vom Wetter ab, sagt der Pendler zwischen zwei Welten: „Wenn es zu kalt wird, fahre ich nach Rumänien.“ Zumindest für diesen Tag im November hat er feste Pläne: Am Abend werde er seinen Schlafplatz unter dem Vordach eines Kaufhauses aufbauen. Bis dahin habe er vielleicht 15 oder 20 Euro verdient.

Artikel aus der Ausgabe:

Wie gehen Sie mit Bettlern um?

Schwerpunkt Betteln: Was hilft? Gespräche mit Politik, Sozialarbeit – und den Menschen auf der Straße. Außerdem: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Interview. Ein Porträt des Hamburger Rappers Disarstar. Und: So feiern unsere Hinz&Künztler Weihnachten.

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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