Hinz&Künztler Thomas saß wegen einer Geldstrafe im Knast : Wegen Armut hinter Gittern

Eine Fahrkarte kann sich Thomas auch nach dem Knast nicht leisten. Leider. Foto: Dmitrij Leltschuk

Der deutsche Staat sperrt jedes Jahr Tausende Menschen weg, weil sie Geldstrafen nicht zahlen können. Hinz&Kunzt-Verkäufer Thomas ist einer von ihnen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Wer Hinz&Kunzt-Verkäufer Thomas an diesem Donnerstag Mitte August besuchen möchte, hat einen tristen Weg vor sich. Er führt vorbei an Kleingärten, Bahnschienen und über die Autobahn A1, auf der sich der Verkehr staut. Linienbusse fahren hier nicht. Stattdessen schiebt sich ein verspiegelter Gefangenentransporter die Straße entlang. Langsam fährt er durch das sich automatisch ­öffnende Tor hinter die regennassen Betonmauern der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder.

Zwei Wochen zuvor kam Thomas hier in einem ähnlichen Transporter an, nachdem er nahe der U-Bahn-Station Hoheluftbrücke in eine Personenkontrolle der Polizei geraten war. Um von A nach B zu kommen oder um sich einfach mal aufzuwärmen oder zu schlafen, ist der 56-jährige ­Obdachlose regelmäßig mit Bus und Bahn unterwegs. ­Thomas lebt seit Jahren auf der Straße. Weil er sich kein ­Ticket leisten kann, hat sich über die vergangenen Jahre ein beträchtlicher Schuldenberg bei verschiedenen Verkehrsunternehmen aufgetürmt. Die haben Thomas schon mehrfach wegen „Erschleichens von Leistungen“ angezeigt. In solchen Fällen entscheidet sich die Staatsanwaltschaft häufig für ein vereinfachtes Verfahren ohne Verhandlung: Sie beantragt einen Strafbefehl, den ein Gericht unterschreibt und versendet. Thomas sagt, dieser habe ihn nie erreicht. Die festgesetzten 1500 Euro Geldstrafe kann er nicht bezahlen. Deshalb wird schließlich ein Haftbefehl gegen ihn erlassen – und vollstreckt. Seine Geldstrafe wird in Gefängnistage umgerechnet. Die sogenannten Tagessätze orientieren sich am Einkommen: Bei Thomas setzt das Gericht 30 Euro an. Das bedeutet: Die nächsten 50 Tage muss er in Haus 1, Station B, Haftraum 22 der JVA Billwerder verbringen.

Als Thomas auf seinen Rollator gestützt den Besuchsraum des Gefängnisses betritt, breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Es ist so stinklangweilig hier!“, platzt es aus ihm heraus. Durch den Besuch hat er zumindest ­etwas Abwechslung von der immergleichen Routine aus Frühstück, Mittag und Abendessen, aus einer Stunde ­Freigang auf dem Gefängnishof oder Gesprächen mit Mithäftlingen. Was ist das für ein Gefühl, eingesperrt zu sein, weil er sich kein Ticket leisten kann? „Das ist ein Scheißgefühl. Ganz ehrlich“, sagt Thomas. Dass er im ­Gefängnis einsitze, das habe er zwar letztlich selbst verbockt und er wolle niemandem dafür die Schuld geben. Trotzdem: „Mir ist völlig klar, dass es ungerecht ist, dass ich hier eingesperrt bin.“ Wer genug Geld auf dem Konto hat, könne eine Geldstrafe schließlich einfach bezahlen – für ­Thomas hingegen bleibt nur der Knast.

Wie viele Menschen wie Thomas ins Gefängnis müssen, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten, wird nicht erfasst. Schätzungen gehen von bundesweit mindestens 50.000 Betroffenen pro Jahr aus, rund jede:r Vierte von ­ihnen hat wiederholt kein Ticket für die U- oder S-Bahn ­gekauft. Drei von vier Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe trifft, haben Studien zufolge keinen Job, jede:r ­Zweite ist langzeitarbeitslos. Bis zu 20 Prozent sind wohnungs- oder obdachlos. Nicht wenige werden zufällig bei einer Polizeikontrolle gefasst.

Ist die Zeit hinter Gittern auch eine Chance für ­Thomas? „Wie soll mir das hier helfen? Erholen kann ich mich ­natürlich. Aber es passiert nichts.“ Als er vor rund zehn Jahren zuletzt eine Ersatzfreiheitsstrafe in Billwerder absaß, habe er als gelernter Maler und Lackierer zumindest noch in der anstaltseigenen Lackiererei arbeiten können, erzählt ­Thomas. Doch wegen seines schlechten Gesundheits­zustandes ist der Drogenkranke, der im Gefängnis mit ­Methadon substituiert wird, heute nicht mehr in der Lage dazu. Zudem habe er Schlafprobleme im Knast, erzählt ­Thomas, bekommt nachts die Augen nicht zu und nickt tagsüber ein. „Aber ich verpasse ja sowieso nichts“, sagt er und schaut resigniert.

Der Entzug der Freiheit, aller Selbstbestimmtheit – für Thomas wiegt das schwerer als der tägliche Überlebenskampf, den das Leben auf der Straße mit sich bringt. Höchstens einer besonders kalten Winternacht auf der Straße würde er die warme Zelle vorziehen. Aber den Zeitpunkt des Haftantritts aussuchen kann man sich nicht. Immerhin habe er in seinen ersten vier Wochen Gefängnis sieben Kilo zugenommen, berichtet Thomas. Und ein Mitarbeiter der Fachstelle „Übergangsmanagement“ habe ihm für die Zeit nach der Haft ein Zimmer in Aussicht gestellt. „Schauen wir mal, ob daraus etwas wird.“

Janina Elit will Menschen wie Thomas einen Weg aus dem Teufelskreis weisen. Die Sozialarbeiterin arbeitet für den Verein Integrationshilfen, im Auftrag der Stadt: Sie soll Häftlingen, die hilfebedürftig sind, die nötige Unter­stützung zukommen lassen, damit sie nicht wieder im Gefängnis landen. Das Problem ist: Die Helferin kann immer seltener helfen. Wohnraum für Haftentlassene gebe es auf dem Hamburger Wohnungsmarkt schon lange nicht mehr. Und Wohnprojekte speziell für Menschen, die aus dem ­Gefängnis kommen, berichtet sie, sind ebenso voll belegt wie die städtischen Unterkünfte für Wohnungslose. „Im schlechtesten Fall müssen wir ans ,Pik As‘ verweisen“, sagt die Übergangsmanagerin. An eine Obdachlosen-Notunterkunft also, die nicht mehr bietet als ein Bett für die Nachtstunden.

Die Sozialarbeiterin erzählt von einem Mann, den sie aus dem Gefängnis begleitet hat – und den sie nun bettelnd in der S-Bahn sieht, wenn sie von der Arbeit nach Hause fährt. Bei seiner Entlassung habe es keinen Platz zum ­Wohnen gegeben, berichtet Janina Elit – trotz aller Anstrengungen. Seine Verelendung macht ihr Sorgen: „Innerhalb kürzester Zeit scheint er um 15 Jahre gealtert.“ Diesem Mann könnte die Sozialarbeiterin immerhin helfen, wenn ein Platz in einer städtischen Wohnunterkunft frei würde. Bei Haftentlassenen aus Rumänien, Bulgarien oder Polen sieht das anders aus: „Leute ohne Sozialleistungsansprüche entlassen wir auf die Straße.“

Wie viele Menschen in Hamburg aus dem Gefängnis (zurück) in eine Unterkunft oder auf eine Platte ziehen, wird laut Justizbehörde nicht erfasst. In Berlin liegt die Quote laut dortiger Justizverwaltung inzwischen bei 40 Prozent. Für Hamburg gehen Fachleute von rund einem Drittel aus. Rechnet man die vorliegenden Daten hoch, ­werden mindestens 1000 Menschen pro Jahr in Hamburg in die Wohnungs- oder Obdachlosigkeit entlassen.

Übergangsmanagerin Janina Elit wünscht sich Re­f­ormen: „Die Menschen brauchen Unterstützung, nicht eine Strafe.“ Häufig fehle nicht nur die Wohnung: „Viele sind hoch verschuldet, nicht krankenversichert, nicht im ­Leistungsbezug, suchtkrank oder psychisch krank.“ Hier könne außerhalb des Gefängnisses viel besser geholfen werden. „Mein Wunsch wäre deshalb, dass es für Ersatzfreiheitsstrafler die Möglichkeit gäbe, die Haft abzuwenden.“

Grundsätzliche Fragen stellt auch der „Freiheitsfonds“: Die Initiative kauft Betroffene mithilfe von Spenden ­bundesweit aus Gefängnissen heraus und fordert, das so­genannte Erschleichen von Leistungen müsse endlich aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden. Eine politische Mehrheit gibt es dafür aber (noch) nicht. Kürzlich haben sich Bundesländer und Ampel-Koalition darauf ver­ständigt, Ersatzfreiheitsstrafen künftig neu zu berechnen. Die Folge: Betroffene werden nur noch halb so viel Zeit wie bisher im Gefängnis verbringen. Für die Haftanstalten bedeutet das eine Entlastung, für die Betroffenen nicht wirklich eine Hilfe.

Der Rechtsstaat könne es nicht akzeptieren, wenn bei den Geldstrafen fast die Hälfte der Urteile „konsequenzlos im Raum verhallt“, hatte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) im Bundestag argumentiert. Damit bezog er sich auf Daten aus Schweden aus dem Jahr 2019. Demnach war dort 41 Prozent der Verurteilten ihre Geldstrafe erlassen worden, weil sie diese auch nach fünf Jahren nicht hatten bezahlen können. „Das kann sich der Rechtsstaat nicht leisten“, sagte Buschmann. Was er nicht sagte: Warum soll der Staat überhaupt weiterhin Menschen ­bestrafen, die in den allermeisten Fällen deshalb gegen Gesetze verstoßen, weil sie arm oder suchtkrank sind?

Wenige Tage nach dem Besuch im Gefängnis steht Thomas strahlend in der Hinz&Kunzt-Redaktion: Er hatte seine Stammkundin Susanne aus dem Gefängnis angerufen, um ihr zu sagen, dass sie sich nicht wundern soll, wenn sie ihn eine Weile nicht sehe. Susanne mobilisierte daraufhin andere Kund:innen von Thomas aus dem Grindelviertel. Die Gruppe aus Gastronom:innen und Anwohner:innen legte Geld zusammen und kaufte Thomas wenige Tage später aus dem Gefängnis frei. 480 Euro Geldstrafe waren da noch übrig, statt am 4. September ist Thomas schon am 19. August wieder ein freier Mann. “Ich bin Susanne und allen anderen so dankbar”, sagt er. 

Doch geändert hat sich für Thomas nach dem Ende der Haft nichts. Seine ersten Nächte verbringt er wieder auf der Straße, für einige Tage kann er in einem Notschlafzimmer des an die Drogenhilfeeinrichtung „Drob Inn“ angeschlossenen Projektes „Nox“ schlafen. Mit dem Übergangsmanager, der ihm im Gefängnis ein Zimmer in Aussicht gestellt hatte, hat er bislang nur einmal kurz telefoniert. „Ich muss mich dringend wieder bei ihm melden“, meint Thomas. Allerdings habe er in den ersten Tagen nach der Haftentlassung so viele Dinge regeln müssen: seinen Bürgergeld-Antrag beim Jobcenter, seine Methadon-Substitution beim Drob Inn und mehrere Arztbesuche. Er wisse gar nicht mehr, wo ihm der Kopf stehe. Und ohnehin sei er skeptisch, dass ihm der Übergangsmanager ein Zimmer verschaffen kann.

An seinem Verkaufsplatz ist er freudig begrüßt worden. Wer mit Thomas den Grindelhof entlanggeht, muss alle paar Meter für einen Plausch stehen bleiben. Kellnerinnen kommen strahlend aus den Cafés gelaufen und umarmen ihn. Man merkt, dass er hierher gehört. Mit Bus und Bahn wird er weiter unterwegs sein, notgedrungen auch ohne Fahrschein. Und immerhin: Ein Stammkunde von Thomas will ihm künftig das Deutschlandticket bezahlen. Noch lieber würde sich Thomas die Monatskarte selbst kaufen, doch ohne Bankkonto und mit seinem trotz Haft unver­ändert hohen Schuldenberg bei den Verkehrsbetrieben wird das schwierig. Er will trotzdem auf sie zugehen und ver­suchen, eine Lösung zu finden. „Ich bleibe an der Sache dran“, sagt er kämpferisch. Denn noch mal im Knast zu ­landen, das will er mit aller Kraft verhindern: „Ich hoffe, das war mein letztes Mal.“

Auch für Hamburgs Steuerzahlende würde es sich ­lohnen, Thomas nicht wieder wegzusperren. 215 Euro ­kostet in Hamburg ein Tag Gefängnis pro Häftling. Das ­bedeutet: Gut 10.000 Euro kostet es, einen Menschen wie Thomas 50 Tage lang einzusperren, der nach dieser Zeit wie zuvor auf der Straße lebt. Und der sich weiterhin keine Bahntickets leisten kann.

Was ein erster Schritt sein könnte, zeigt die „Rheinbahn“ in Düsseldorf: Nach einer entsprechenden Weisung durch den Stadtrat verzichtet das kommunale Verkehrs­unternehmen neuerdings auf Strafanzeigen gegen Menschen, die wiederholt ohne Fahrschein erwischt wurden. Im September hat sich der Bremer Senat dem Beispiel an­geschlossen: Auch die dortigen Verkehrsbetriebe sollen angewiesen werden, künftig keine Strafanzeigen mehr ­wegen des Fahrens ohne Ticket zu stellen. Ein Vorbild für Hamburg? Die hiesigen Verkehrsbetriebe verweisen auf Nachfrage auf die Politik – und die hätte die Möglichkeit, Hamburg zum Vorreiter zu machen. Ein Antrag der Bürgerschaftsfraktion der Linken, der die grundsätzliche Abschaffung von Ersatzfreiheitsstrafen fordert, wurde vergangenes Jahr in den Justizausschuss überwiesen. Diskutiert wurde er dort bislang nicht.

Artikel aus der Ausgabe:

Nächster Halt: Gefängnis

Wegen Schwarzfahren in Haft? Tausende landen in Deutschland jedes Jahr im Gefängnis, weil sie sich kein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr leisten konnten. Wir haben mit einem ehemaligen Häftling und einem ehemaligen Gefängnisleiter über die sogenannten Ersatzfreiheitsstrafen gesprochen.

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Autor:in
Lukas Gilbert
Lukas Gilbert
Studium der Politikwissenschaft in Hamburg und Leipzig. Seit 2019 bei Hinz&Kunzt. Zunächst als Volontär, seit September 2021 als Redakteur.
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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