Frank-Walter Steinmeier im Interview : Warum gibt es noch immer Obdachlosigkeit, Herr Bundespräsident?

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Veranstaltung mit der Deutschen Nationalstiftung. Foto: picture alliance/dpa

Frank-Walter Steinmeier will in seiner zweiten Amtszeit den Wohnungslosen der Republik mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Im Interview mit den deutschen Straßenmagazinen erklärt er per E-Mail, wie die Gesellschaft den Menschen auf der Straße helfen kann.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Herr Steinmeier, Sie haben im September zum Tag der Wohnungs­ losen Betroffene zu einem Empfang ins Schloss Bellevue eingeladen. In Einrichtungen der Obdachlosenhilfe sind Sie ein gern gesehener Gast, uns Straßenmagazinen schreiben Sie alljährlich ein Grußwort. Wieso ist Ihnen das Thema so wichtig?

Frank-Walter Steinmeier: Dass Menschen auf der Straße leben müssen, kein Obdach haben und oft zu wenige soziale Bindungen, das alles beschäftigt mich seit langer Zeit. Wohnungslose Menschen geraten im Alltag zu oft aus unserem Blickfeld und finden oft nicht die Solidarität, auf die sie angewiesen sind, um würdig leben zu können. Daher ist es mir wichtig, immer wieder auf die Lage der Ärmsten und Verwundbarsten aufmerksam zu machen. In unserem wohlhabenden Land dürfen wir es nicht hinnehmen, dass Menschen im Abseits unserer Gesellschaft in Not und Elend leben. Wir müssen ihnen helfen, zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu finden.

Wie wir werfen auch Sie immer wieder die Frage auf: „Warum kriegen wir das eigentlich in einer reichen Gesellschaft nicht in den Griff?“ Sie sind mehrfach Mitglied von Bundesregierungen gewesen. Wieso stand die Bekämpfung der Obdachlosigkeit da nie ernsthaft auf der Tagesordnung?

Wohnungslosigkeit ist zwar ein vielschichtiges, aber ein lösbares Problem. Wir haben zahlreiche Instrumente zur sozialen Absicherung geschaffen – zum Beispiel finanzielle Leistungen für Unterkunft und Heizung, um auch bei vorübergehender Mittellosigkeit das Wohnen in der eigenen Wohnung zu ermöglichen. Wenn Wohnungslosigkeit droht, können die Mietschulden übernommen werden. Das Mietrecht erschwert Kündigungen oder Räumungen. Dennoch gibt es Lücken im Hilfesystem, und nicht alle Hilfen kommen an. Hier sind Lösungen gefragt, und in den meisten Fällen können sie erfahrungsgemäß auch gefunden werden. Zum Beispiel jetzt mit der Wohngeldreform, mit der mehr Haushalte als bisher bei den Wohnkosten unterstützt werden. Wir leben in einer Zeit einer dreifachen Krise, wir haben Krieg in Europa, wir müssen das Klima schützen, und wir müssen die Folgen der Pandemie bewältigen. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass der Kampf gegen Wohnungslosigkeit aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung gerät. Dazu will ich als Bundespräsident beitragen.

Es ist inzwischen erklärtes Ziel von Europäischer Union und Bundes­regierung, Obdach­- und Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Was muss passieren, damit das nicht ein leeres Versprechen bleibt?

Wir müssen das Hilfesystem besser zugänglich machen und die betroffenen Menschen stärker dabei unterstützen, passende Angebote zu finden und zu nutzen. Außerdem müssen wir mehr Vorsorge treffen, damit Menschen ihre Wohnung erst gar nicht verlieren oder obdachlos werden. Dazu gehört eine engere Zusammenarbeit etwa zwischen Jobcentern und Krankenkassen. Sie müssen möglichst schon aktiv werden können, bevor jemand in Wohnungsnot zu geraten droht. Wir brauchen aber auch die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft. Wir müssen hinschauen und notfalls Hilfe holen, wenn Nachbarn oder Bekannte in solche Schwierig­keiten geraten. Und natürlich brauchen wir mehr bezahlbaren und verfügbaren Wohnraum, wenn wir Wohnungslosigkeit bekämpfen wollen. Das gilt vor ­allem in den großen Städten und in den Ballungsräumen.

Sie haben schon 1992 zum Thema „Bürger ohne Obdach: zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum“ promoviert. Wie ist es 30 Jahre nach Ihrer Doktorarbeit um das Recht auf Wohnraum bestellt?

Ein Dach über dem Kopf zu haben, in den eigenen vier Wänden zu leben – das hat absolute Priorität. Eine Wohnung ist nicht nur ein Obdach, sondern ein Zuhause und persönlicher Rückzugsort. Eine Wohnung bietet Schutz. Wer erst einmal eine eigene Adresse und einen eigenen Schlüssel hat, kann damit beginnen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, selbst wenn dabei ­Hilfe oder Unterstützung nötig bleiben. Von staatlicher Seite kommt es im Kampf gegen Wohnungslosigkeit vor allem auf die Kommunen an. Wir sehen, dass sich viele der Probleme vor allem unmittelbar vor Ort lösen lassen. In ­vielen Besuchen und Gesprächen zu diesem Thema konnte ich etwa in Karlsruhe, Köln, Berlin oder Bielefeld feststellen, dass in etlichen Kommunen in den letzten 30 Jahren viel in Bewegung geraten ist. Bund, Länder, Kommunen und Wohnungswirtschaft finden immer öfter gemeinsam Wege, um die Wohnungsnot schneller zu beheben.

Sie haben in den 2000er-Jahren als Chef des Bundeskanzleramts an der Agenda 2010 mitgearbeitet. Zum 1. Januar 2023 soll Hartz IV durch das Bürgergeld ersetzt werden. Wann wurde Ihnen klar, dass die Einführung ein Fehler war?

Die politischen Entscheidungen müssen aus der damaligen Situation heraus betrachtet werden. Deutschland befand sich Anfang der 2000er-Jahre in einer wirtschaftlichen Krisensituation mit fast fünf Millionen Arbeitslosen. Die damaligen Reformen waren daher notwendig, um Menschen wieder in Arbeit und Lohn zu bekommen. Unverant­wortlich wäre es gewesen, nichts zu tun. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war zudem mit einer Verbesserung der Leistungen für vormalige Sozialhilfeempfänger verbunden. Und in der Grundsicherung wurden die Leistungen in Ostdeutschland auf das westdeutsche Niveau angehoben. Insgesamt ist es uns gelungen, die Massenarbeitslosigkeit zu beenden. Ich verfolge derzeit mit großem Interesse die Pläne der Bundesregierung, die staatliche Existenzsicherung in Richtung eines Bürgergelds weiterzuentwickeln. Heute ist ja die ­Lage eine andere, wir haben Fachkräftemangel, ­vielerorts werden Arbeitskräfte gesucht. Dass die Bundesregierung auf diese Lage heute anders reagiert, als die Bundesregierung vor knapp 20 Jahren das getan hat, ist folgerichtig.

Sie haben die Befürchtung geäußert, dass in diesem Winter durch Krieg und Krisen noch mehr arme Menschen in Wohnungsnot geraten könnten und appelliert, dafür zu sorgen, „dass niemand sein Zuhause verliert oder gar auf der Straße landet“. Die Bundesregierung scheint sich bislang aber nicht zuvorderst um die Armen zu kümmern, die Erhöhung des Bürgergelds etwa gleicht gerade mal die Inflation aus. Wie kann sie die Not wirklich lindern?

In der aktuellen Energiekrise wächst die Gefahr, dass Haushalte in finanzielle Schwierigkeiten geraten, weil sie die steigenden Kosten für Heizen und Elektrizität nicht mehr zahlen können. Zudem macht die Inflation viele Lebensmittel teurer. Die Angst vor Wohnungsverlust ist in der Mitte der Gesellschaft ­angekommen. Oft trifft sie Menschen, die keine ­Ersparnisse haben. Aber sie können sich in dieser Zeit auf unseren starken Sozialstaat verlassen. Die Politik bringt derzeit mehrere Entlastungspakete auf den Weg, einen Heizkostenzuschuss sowie einen Schutz vor Strom- und Gassperren und vor Wohnungskündigungen bei Nebenkostenrückständen. Wichtig ist, dass die Unterstützung rasch bei den ­Betroffenen ankommt und dass die staatliche Hilfe vor allem denjenigen zugutekommt, die am meisten darauf angewiesen sind.

Artikel aus der Ausgabe:

Wie gehen Sie mit Bettlern um?

Schwerpunkt Betteln: Was hilft? Gespräche mit Politik, Sozialarbeit – und den Menschen auf der Straße. Außerdem: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Interview. Ein Porträt des Hamburger Rappers Disarstar. Und: So feiern unsere Hinz&Künztler Weihnachten.

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Autor:in
Benjamin Buchholz
Benjamin Buchholz
Früher Laufer, heute Buchholz. Seit 2012 bei Hinz&Kunzt. Redakteur und CvD Digitales.

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