Flüchtlinge in der Stadt

Mittendrin statt außen vor

Nicht im abgelegenen Industriegebiet, nicht nahe einer Autobahnabfahrt: In zentraler Lage in Altona-Nord sollen 80 Flüchtlinge ab Herbst unterkommen. Das sehen die Pläne der Sozialbehörde für das Moritz-Liepmann-Haus in der Alsenstraße vor. 

Wagengruppe am Ziel

Zomia ist in der Schanze

Die Wagengruppe Zomia ist auf der Brammer-Fläche im Schanzenviertel angekommen. Ein monatelanges Gezerre kommt damit zu einem versöhnlichen Ende. Die Zomianer freuen sich auf ihre neuen Nachbarn. „Tag des offenen Wagens“ geplant. 

Neue Mitte Altona

Gutachten soll nutzlos sein

Die Planungen der Neuen Mitte Altona stehen weiter in der Kritik. Jetzt hat die Altonaer Bezirksversammlung einem wichtigen Gutachten der Stadtentwicklungsbehörde Nutzlosigkeit attestiert. Auch von Bürgern kommt Kritik.

Meldungen: Politik und Soziales

(aus Hinz&Kunzt 214/Dezember 2010)

Großer Ansturm auf Winternotprogramm
Zum Start des Winternotprogramms am 1. November gab es großen Andrang auf die 92 Wohncontainer, in denen Obdachlose überwintern können. Etwa 100 Interessierte seien am ersten Vergabetag erschienen, sagte Nikolas Borchert von der Tagesaufenthaltsstätte Bundesstraße – so viele wie noch nie. „Einige hatten vor Ort übernachtet“, so Borchert. Zur Vergabe der Container habe man Nummern verteilt, der Ablauf sei wegen des Andrangs chaotisch gewesen. HAN

Obdachloser in Schnelsen erstochen
In Schnelsen ist Ende Oktober ein 49-jähriger Wohnungsloser durch Messerstiche getötet worden. Nach Angaben der Polizei entdeckte ein Passant seine Leiche in einem Gebüsch. Die alarmierten Beamten verhafteten kurz darauf  einen 20-jährigen Bewohner der nahe gelegenen Wohnungslosen-Unterkunft Holsteiner Chaussee. Weil Blutspuren bis zu seinem Zimmer führten, wird der Mann des Totschlags verdächtigt und sitzt in Untersuchungshaft. Die Polizei stellte auch ein blutverschmiertes  Messer sicher. HAN

Neuer Leerstandsmelder im Internet
Mehr Transparenz beim Thema Leerstand ist das Ziel eines neuen Internetportals aus dem Umfeld des Gängeviertel e.V. und des Hamburger Bündnisses „Recht auf Stadt“. Online kann jeder leerstehende Häuser und Wohnungen melden, die dann automatisch auf einem virtuellen Stadtplan von Hamburg eingetragen werden. Außerdem kann jeder Nutzer Fotos der leerstehenden Objekte einfügen. So sollen Informationen über Leerstände zentral gesammelt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. HAN
Die Aktion im Internet: www.leerstandsmelder.de

Obdachloser fast zerquetscht
Ein Obdachloser ist in Bahrenfeld beinahe im Inneren eines Müllwagens zu Tode gequetscht worden. Wie die Polizei mitteilte, hatte der 49-Jährige Mitte November in einem Altpapier-Container übernachtet und war bei der Leerung in den Müllwagen gefallen. Der Fahrer hörte seine Hilferufe nur, weil er gegen den Seitenspiegel eines  geparkten Autos gefahren und deshalb ausgestiegen war. Der Obdachlose wurde im Krankenhaus Altona behandelt. HAN

Bezirk weist Wohnungssuchende ab
Vielen Obdachlosen und von Obdachlosigkeit Bedrohten kann die Fachstelle für Wohnungsnotfälle im Bezirk Mitte nicht helfen. Nach Zählungen von Mitarbeitern wurden in diesem Jahr bereits 442 Mal Alleinstehende oder Familien abgewiesen, weil es zu wenige Wohnungen gibt. Sie kommen dann bei Bekannten oder in der öffentlichen Unterbringung unter oder landen auf der Straße. Offizielle Zahlen gibt es laut Bezirk nicht: Elektronisch werde nur die Zahl der Vermittelten erfasst, so eine Sprecherin. BEB

Meine Angst vor dem Winter
Ein Kommentar von Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer

Ein Mann übernachtet in einem Papiercontainer und wird am nächsten Morgen um ein Haar in einem Müllwagen zerquetscht. Dieser Fall hat uns bei Hinz&Kunzt schockiert. Und wir sind froh, dass so viele Menschen Mitgefühl mit dem Mann zeigen. Aber seien wir mal ehrlich: Menschen ohne Zuhause, die auf der Straße, in Garagen oder abbruchreifen Häusern schlafen, sehen wir alle täglich.
Diese Menschen schlafen draußen, obwohl das Hamburger Winternotprogramm bereits seit einem Monat läuft. Und das hat einen Grund: Die Schlafplätze im Pik As oder in der Notunterkunft Sportallee sind für viele Obdachlose keine Alternative zur Straße. Die meisten Obdachlosen halten es in den großen Zimmern kaum aus, in denen bis zu acht einander fremde Menschen untergebracht werden.
Innerhalb des Notprogramms gibt es auch 100 heiß begehrte Containerplätze. Sie sind bei Kirchengemeinden aufgestellt, wo es relativ ruhig ist. Und ganz wichtig: Hier kann man die Tür hinter sich zuziehen. Um so einen Platz zu bekommen, haben viele Obdachlose sogar vor der Vergabestelle übernachtet. Doch nicht alle, die einen Platz im Container wollten, haben einen bekommen. Der Bedarf an Schlafplätzen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren, ist riesig.
Das zeigt: Es stimmt nicht, dass die meisten, die jetzt draußen schlafen, draußen schlafen wollen, wie es die Behörde gerne darstellt. Es zeigt auch: Wer den Obdachlosen wirklich helfen will, muss mehr Schlafplätze in Containern oder Einzelzimmern schaffen.
Um auf den Mann aus dem Papiercontainer zurückzukommen: Hätte er mich nach einem Schlafplatz gefragt, hätte ich ihm bei der derzeitigen Lage nichts anbieten können.
Dass ich weder eine Wohnung noch ein Einzelzimmer zu vermitteln habe, sondern höchstens einen Platz in einem Achtbettzimmer, macht den Job des Hinz&Kunzt-Sozialarbeiters im Winter fast unerträglich.

Umzug: Hartz-IV-Behörde muss neue Miete zahlen
Wenn ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger aus überzeugenden Gründen in eine teurere Wohnung umzieht, muss das Amt (Arge) die höhere Miete auch dann zahlen, wenn sie den Umzug vorab nicht genehmigt hat. Das hat das Sozialgericht Dortmund entschieden (Az: S 31 AS 317/08). Geklagt hatte die Mutter einer Sechsjährigen, deren Wohnung von Schimmel befallen war. Auch in Hamburg hatte die Arge in einem vergleichbaren Fall kürzlich Mietzahlungen verweigert. UJO

Neues Angebot für Alkoholiker
Mit einem neuen Projekt will der Bezirk Harburg die Trinkerszene am Rathaus verkleinern. „Zu Arbeit“ beschäftigt drei Sozialarbeiter, die bis zu 200 Betroffenen Alternativen zum Alkohol nahebringen sollen. Jeder fünfte soll zumindest zeitweise in geregelte Arbeit gebracht werden. Bezirksamtsleiter Torsten
Meinberg (CDU) bezeichnete das zur Hälfte vom Europäischen Sozialfonds finanzierte Projekt als „letzte Chance“ für die öffentlichen Dauertrinker. Im Falle eines Scheiterns müsse der Bezirk verstärkt Platzverweise aussprechen. UJO

Gruß vom Bundespräsidenten
Bundespräsident Christian Wulff hat Deutschlands Straßenmagazine als „wichtige und richtige Initiative zu Selbst­hilfe“ bezeichnet und die Bürger dazu aufgefordert, sie regelmäßig zu lesen. „Wie viel wissen wir über den Alltag unserer Mitmenschen, die in soziale Not geraten sind? Straßenzeitungen berichten uns darüber“, so Wulff in seinem Grußwort für die Weihnachtsausgabe. Die Magazine seien ein „Beitrag zu Meinungsvielfalt und Teilhabe“. UJO
Das gesamte Grußwort lesen Sie unter www.hinzundkunzt.de

Demonstranten zeigen Polizisten an
Die Organisatoren der Demonstration „Leerstand zu Wohnraum“, auf der Ende Oktober mehr als 3000 Menschen gegen Büroleerstand und Wohnungsnot in Hamburg protestierten, haben Strafanzeige gegen mehrere Polizeibeamte gestellt. In mindestens einem gut dokumentierten Fall hätten Polizisten unverhältnismäßige Gewalt gegen Teilnehmer des Aufzuges angewandt, so das Bündnis, das aus verschiedenen Gruppen und politischen Initiativen besteht. Die Hamburger Staatsanwaltschaft hat bestätigt, dass bereits Ermittlungen gegen bisher unbekannte Beamte aufgenommen wurden. HAN

Diakonie gründet neue Stiftung
Das Diakonische Werk hat Ende Oktober die Stiftung MitMenschlichkeit Hamburg gegründet. Das Stammkapital von 500.000 Euro kommt aus dem Erbe des sozial engagierten Hamburger Unternehmers Hermann Haltermann. Die Stiftung wolle vorerst neue Projekte für benachteiligte Kinder, Demenzkranke und Arme fördern, sagte Diakonie-Chefin und Landespastorin Annegrethe Stoltenberg. Der erste Förderpreis in Höhe von 12.000 Euro ging an die Evangelischen Kindertagesstätten, die durch zusätzliche Betreuungs-Angebote am Abend und am Wochenende alleinerziehende Eltern entlasten wollen. HAN

Nicht sparen an armen Vierteln!
Caritas und Diakonie haben die Bundes­tagsabgeordneten aufgefordert, die geplanten massiven Kürzungen beim Programm Soziale Stadt zu verhindern. Andernfalls würden „Menschen in Problemquartieren bei der Bewältigung ihrer Alltagsprobleme alleingelassen“. Die Regierung veranschlagt statt 95 künftig nur noch 28 Millionen Euro jährlich. Damit steht das Programm, das bundesweit benachteiligte Viertel fördert, vor dem Aus. UJO

Neue Wohnungsgenossenschaft gegründet
In zehn Jahren 500 Wohnungen für Menschen mit besonderen Schwierigkeiten zu bauen, ist das Ziel einer neuen Ham­burger Wohnungsgenossenschaft. Zur Gründung der gemein­nützi­gen Genossenschaft Schlüsselbund eG haben sich 19 Träger zusammengeschlossen, die Behinderte, psychisch Kranke, Jugendliche oder Haftentlassene betreuen. Diese Gruppen sind von der Krise auf dem Hamburger Wohnungs­markt besonders betroffen. HAN

Leitbild für das Hamburg von morgen
Wie kann die Stadt sich fit machen für die Zukunft? Antworten bietet die Studie „Zukunftsfähiges Hamburg – Zeit zum Handeln“. Anfangen kann jeder bei sich selbst, so die Autoren: Wäscheleine statt Trockner nutzen, intelligente Stromzähler einbauen, weniger fliegen. Einer der vielen Vorschläge an die Politik: weniger Parkplätze in der City, Menschen mit wenig Geld fahren kostenlos Bus und Bahn. Mitherausgeber der Studie ist das Diakonische Werk. UJO

Rettung für die Elbtreppenhäuser?
Mit einem Bürgerbegehren setzen sich mehr als 11.000 Altonaer für den Erhalt der Elbtreppenhäuser ein. Zwar wollen laut Initiative „Rettet die Elbtreppe“ alle Parteien im Bezirk das historische Ensemble erhalten. Doch könne Saga/GWG den Abriss einklagen, wenn Stadtentwicklungssenatorin und Saga-GWG-Aufsichtsratsvorsitzende Anja Hajduk (GAL) nicht einschreite. UJO

„Rosi“ gewinnt den Social Media Award 2010
Der Film „Rosi“ hat den mit 3000 Euro dotierten ersten Preis beim Social Media Award 2010 gewonnen. Der Film zeigt, wie die geistig behinderte Sandra ihr Leben meistert – und den Job als Sängerin der Band „Rosi“. Der vom Bundesministerium für Arbeit geförderte Wettbewerb für Kurzfilme über Armut und soziale Ausgrenzung wurde erstmals ausgerufen. Aus 62 Einsendungen wurden fünf prämiert. Sie sind im Internet zu sehen: www.social-media-award.eu HAN

Gratis-Kultur für Arme
Geringverdiener, Hartz-IV-Empfänger oder Alleinerziehende können sich Tickets für kulturelle Veranstaltungen wie Theater oder Oper meist nicht leisten. Gleichzeitig sind in den Sälen oft Plätze frei. Nach dem Prinzip der deutschen Tafeln will der Verein „Kulturloge Hamburg“ unverkaufte Karten kostenlos an Bedürftige weitergeben. Das Angebot soll im Januar 2011 starten. Der Verein sucht noch ehrenamtliche Mitarbeiter und Partner aus der Hamburger Kulturszene. Infos und Kontakt online unter www.kulturloge-hamburg.de. BEB

Görner liest Schiller

Plakat zu Lutz Görners Schiller-Tour
Plakat zu Lutz Görners Schiller-Tour

Lutz Görner, der wohl einzige hauptberufliche, in jedem Fall der berühmteste, Rezitator deutscher Lyrik macht´s für Hinz&Kunzt am 13. November!

„Wenn es langweilig wird, sind die Leute weg“

Als jonglierende Clowns Frau Ute und Herr Konrad bespaßen Rike Eckhoff und Philipp Marth das Publikum beim Straßenkünstler-Festival Buskers Ville in Altona

(aus Hinz&Kunzt 211/September 2010)

Ein Gefühl von Heimweh

Sie sind zu viert und kommen aus Albanien, Portugal, Bulgarien und von der Elfenbeinküste. Doch zusammen machen sie Balkanmusik in Hamburg: tanzbar und quirlig, dann wieder schräg und melancholisch. Im August spielt die Multikulti-Band Balkan Caravan in Altona.

(aus Hinz&Kunzt 210/August 2010)

Frisch vom Kutter

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Wer auf dem Hamburger Fischmarkt noch richtige Elbfischer sehen will, der ist am Ponton unterhalb der Fischauktionshalle richtig. Abseits vom Touristenrummel stehen sie hier und verkaufen Rotzunge und Hering, Scholle und Dorsch. Alles fangfrisch, direkt aus der Elbe und der Nordsee. „Hier zu stehen hat Tradition“, sagen die Männer stolz.

Wie in Zuckerwatte gehüllt steigt die Sonne vor einem zartrosa Himmel über die Dächer. Ein klarer Frühlingssonntag halb sechs Uhr früh auf dem Hamburger Fischmarkt, perfekt wie auf einer Postkarte. Auf der Elbe lautes Tuten, die Frühaufsteher unter den Touristen zoomen begeistert ein Kreuzfahrtschiff heran, es riecht nach frischem Kaffee und schalem Bier. „Das ist Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?“ fragt der Sänger in der Fischauktionshalle. „Hölle, Hölle“, brüllt das Durchfeiervolk, die Ersten tanzen auf den Tischen.

Wenige Meter entfernt sind Trubel und Party weit weg. Am Anleger unterhalb der Halle schaukelt sanft ein rot-weisser Kutter im Wasser, darüber kreisen kreischende Möwen. Fischer Jens Stoef, in blauem Kapuzenpulli und orange-gelber Gummilatzhose, schiebt eine letzte Plastikkiste auf den langen Holztisch, damit ist die Verkaufstheke an Bord seiner „Elvstint“ komplett. „Moin moin, Jens“, ruft ein Mann vom Steg runter. „Haste schon Krabben?“ – „Nee, nächste Woche vielleicht“, antwortet Stoef und stapelt Kistendeckel aufeinander. „Is alles büschen spät dies Jahr.“


In den grünen, blauen und gelben Boxen voller Eis liegen Rotzungen, Dorsche, Steinbutt, Heringe, Forellen und Schollen. Gefangen und frisch geschlachtet während der vergangenen 48 Stunden, aus der Nordsee, aus der Elbe, aus Stoefs eigener Zucht. In Winsen an der Luhe führt der 29-Jährige mit seiner Familie einen Fischereibetrieb. Was die Fischer aus dem Meer und aus dem Fluss holen, verkaufen sie frisch und geräuchert direkt ab Hof oder bewirten damit Gäste im hofeigenen Restaurant. „Ein Familienunternehmen, wir arbeiten jetzt in der vierten Generation“, erzählt Stoef, ein ausgebildeter Fischwirt.

Vor sechs Jahren beschloss er, die Ware auch sonntagsmorgens in St. Pauli anzubieten. „Wenn man auf der Elbe fischt, dann ist der Fischmarkt nicht nur eine weitere Verkaufsoption“, sagt Stoef. „Hier zu stehen gehört auch der Tradition wegen dazu.“

Einst lagen mehr als hundert Fischkutter am Anleger, in den 1980ern verkauften dort noch zehn Fischer direkt vom Boot, heute sind sie höchstens zu dritt. Olaf Jensen ist einer au dem Trio, von Mai bis Oktober steht er hinter seinem kleinen Stand auf dem Ponton. Jensens Spezialität sind Aale, selbst gefangen in Elbe und Schlei, selbst geräuchert über Buchen- und Erlenholz. „Meine Preise sind höher als bei denen da oben an Land, und durch die Luft schwenken und ’ne Show abziehen, das tu ich auch nich“, sagt Jensen, nickt mit dem Kopf zu den Fischbuden auf dem Fischmarkt hoch und rollt zwei Aale in Zeitungspapier. „Dafür gibt’s bei mir immer was zum Lesen dazu, heute die Sport-Seiten, Wirtschaft is viel zu traurig.“

Mit lauten, derben Sprüchen wirbt auf den Kuttern am Anleger keiner, zwei Pärchen mit Obstkörben in der Hand gucken kurz über Stoefs Kisten, dann gehen sie wieder. „Touristen machen Fotos, kaufen aber nichts“, sagt Stoef. „Is aber völlig verständlich, Fisch stinkt im Reisebus auch nur.“ Stoef und Jensen verkaufen an Stammkunden, viele haben einen Einkaufstrolley dabei und holen ihre Bestellungen ab. „Tolle Rotzungen haben wir heute“, sagt Stoef zu einem Paar aus Finkenwerder. Wenn vom Frühling bis in den Spätherbst die Elbfischer am Anleger stehen, erzählen die beiden, kommen sie jeden Sonntag mit der Fähre herüber.

Rotzungen aber kaufen nur wenige Fischfans, im Mai und Juni ist Hochsaison für die Scholle. „Zwei schöne große hätten wir gern und zwei mittlere für die Kinder.“ Der nächste nimmt gleich ein Dutzend der platten Fische, „heut’ Abend sitzt die ganze Großfamilie am Tisch“, die silberhaarige Dame mit Dackel will „eine möglichst kleine“. Stoefs Mitarbeiter Hinnerk Groth zieht das gewünschte Exemplar aus der Kiste und wiegt den Kauf ab, während seine Schwester Tina Norman kassiert.

Auf dem Ponton stoppen viele Kunden an einem weißen Pavillon, dort schneidet Hans Schnoor den Fischen Kopf und Flossen ab, macht sie pfannenfertig und gibt Tipps zum richtigen Zubereiten. „Wir ergänzen uns gut hier unten am Anleger“, sagt Stoef und legt eine Plastiktüte beiseite. „Schnoors wollen heute auch die erste Maischolle essen.“
Bald wird die Elvstint noch mehr Süßwasserfische mit zum Markt bringen, Zander etwa und Brassen. Im August startet Stoef die Saison für Aale und Taschenkrebse, im Oktober dreht sich alles um den Karpfen. Eine gute Auswahl sei zwar wichtig, sagt er, allerdings gelte auch: „Nicht jeder Fisch zu jeder Zeit, sondern je nach Jahreszeit.“ Importe seien ohnehin kein Thema, auch wenn manche Marktbesucher immer mal danach fragen. „Dann wollen sie Thunfisch“, erzählt Stoef amüsiert, „oder irgendwelche Exotenfische.“
Kurz nach sieben Uhr, die Schlange vor den Schollen wächst. Aber auch ein sieben Kilo schwerer Steinbutt und der armlange Marmorkarpfen finden einen Käufer. Hinnerk und Tina schnacken mit den Kunden, Stoef unterhält zwei Jungs mit glasigen Augen und halbvollen Bierbechern in der Hand. „Komm, nimm den großen Karpfen hier, dann haste was für die ganze Familie.“ – „Aber ich hab doch gar keine Familie.“ – „Dann bind ’ne Schleife drum und nimm ihn ­deiner Muddi mit, ich werf ihn dir zu, dann kannste ihr sagen, du hättest ihn sogar selbst gefangen.“ Die Jungs grölen. „Mensch“, sagt der eine. „Du könntest eigentlich auch da oben verkaufen.“

Text: Daniela Schröder
Fotos: Mauricio Bustamante

Karriere-Tipps Deluxe

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Der Hamburger Hip-Hopper Samy Deluxe spricht mit den Schülern Abdulai Abaker und Jon Looft übers Verse schreiben, Erfolg und warum man auch als Rapper in der Schule gut aufpassen muss.

01HK208_Titel_05.inddIhm bleibt noch etwas Zeit zum Chillen. Samy Deluxe ist überpünktlich zur Preisverleihung in den Hinz&Kunzt-Vertrieb gekommen.
„Wie klingt die Straße?“, haben wir gefragt – und hörbare Antworten von knapp 100 Schülern bekommen. Gleich sollen die Sieger bekannt gegeben werden. Der Laudator wartet breitbeinig sitzend auf einem Barhocker darauf, dass es losgeht. Ein wenig ungeduldig ist er, will so schnell wie möglich ins Studio, wo er momentan sein neues Album aufnimmt. „Wie viele kommen denn da gleich?“, fragt er. „Na ja, die da draußen alle“, bekommt er als Antwort.
Langsam dreht sich der 1,95-Meter-Mann um – und guckt direkt in zwei plattgedrückte Jungengesichter an der Fensterscheibe und in einen Hof voller Kinder. „Ah ja“, kommentiert Samy Deluxe den Trubel und verzieht keine Miene.
Ein paar Minuten später steht er gelassen im Gewühl. Als der Siegerbeitrag – der Rap „Stell dir vor“ von den „Dynamite Brothers“ alias Abdulai Abaker (13) und Jon Looft (14) – eingespielt wird, nickt er im Beat mit. Trotz vollen Terminplans: Für ein Gespräch unter Kollegen mit den beiden Nachwuchs-Hip-Hoppern nimmt Samy Deluxe sich Zeit.

Hinz&Kunzt: Samy, wie gefällt dir „Stell dir vor“?
Samy Deluxe: Find ich gut, auf jeden Fall. Als Rapper wirst du ja danach beurteilt, ob man in der ersten Zeile schon genau weiß, was sich in der zweiten worauf reimt. Also es war nicht so, dass ich sagen würde: perfekt. Man wird auch nie perfekt. Ich bin’s auch nicht …

H&K: Wie habt ihr das gemacht mit eurem Rap?
Jon Looft: Wir haben über den Wettbewerb in der Hinz&Kunzt die Annonce gelesen und dann wollten wir sowieso gerade einen neuen Song machen. (Samy lacht.) Dann haben wir aufgeschrieben, was wir alles erwähnen wollen, und dann haben wir angefangen zu reimen.
Samy: Das war auf jeden Fall richtig so, wie man es als Rapper machen muss. Ihr habt ein Thema genommen und dann richtige Bilder zu dem Thema gemalt, aber trotzdem gute Reime geschrieben. Und das alles echt auch flowmäßig, also dass die Rhythmik in den Worten stimmt.

Abdulai und Jon schauen ziemlich verlegen drein. Immerhin haben sie gerade ein Lob von einem echten Hip-Hop-Star kassiert. Samy De-
luxe, geboren 1977, ist seit gut zehn Jahren einer der erfolgreichsten deutschen Rap-Musiker. Die CDs seiner Hip-Hop-Formation Dynamite Deluxe, seine drei Solo-Alben und Singles sind millionenfach verkauft worden. Er hat unter anderem den MTV Music Award und den Echo gewonnen.
Samy Deluxe ist als Samy Sorge in Eppendorf groß geworden. Seine Herkunft muss er sich mitunter vorwerfen lassen. So hat ein Rap-
Label aus Jenfeld ihn vor einigen Jahren musikalisch angegriffen: Er sei kein richtiger Rapper, schließlich käme er nicht aus dem Getto. Quatsch, meint Samy: „ Ich finde nicht, dass Aufwachsen in einem sozial schwachen Viertel einem die Berechtigung gibt, Rapper zu sein, genauso wenig, wie es einem eine Berechtigung gibt, kriminell zu sein.“ Zudem sei er nicht als Musiker in Eppendorf aufgewachsen, sondern als schwarzer Junge – „der einzige da, gefühlt“.

H&K:Samy, wie würdest du einen Song zum Thema Obdachlosigkeit angehen?
Samy: Ich habe gerade einen geschrieben für mein nächstes Album. Ich versetze mich in die Rolle eines Obdachlosen, der mal Rapper war, auch ein bisschen mit diesem Angeberding. Zum Beispiel habe ich einen Einkaufswagen, aber der hat Chromfelgen. Und ich hab da auch Tüten drin, nur steht da Gucci und Prada drauf. Aber der Inhalt ist natürlich der, den jeder Obdachlose hat.

H&K: Glaubt ihr, dass Musik auch etwas verändern oder Menschen etwas beibringen kann über Themen wie Obdachlosigkeit?
Jon: Ich glaube schon. Aber natürlich nur, wenn man die Möglichkeit hat, dass viele Leute das hören. (Samy brummt bejahend.) Es müssen ja nicht gleich die Charts sein. Aber wenn’s vielleicht mal im Radio gespielt wird oder drüber berichtet wird wie hier jetzt, dann denke ich schon, dass das was bewegen kann. Vielleicht kriegt das nur eine obdachlose Person mit und denkt: Vielleicht stimmt, was die rappen. Vielleicht kann ich es schaffen, aus der Obdachlosigkeit rauszukommen.
Abdulai Abaker: Manche interessiert es ja gar nicht, wie es Obdachlosen geht. Und denen wollen wir halt zeigen, wie so ein Leben ist. Und wir wollen auch Obdachlose motivieren, was zu tun.
Samy: Und was ist euer Ziel mit eurer Musik, weil ich euch jetzt schon über Charts reden höre? Wollt ihr das als Spaßding machen oder wollt ihr unglaublich reich werden oder was ist euer Plan?
Jon: Also „unglaublich reich“ kann man nicht so richtig planen, glaube ich.
Samy: Ganz schön schlau, der Junge.

In seinem 2009 erschienenen Buch „Dis wo ich herkomm – Deutschland Deluxe“ widmet Samy Deluxe ein ganzes Kapitel dem Thema „Erfolg“. Der kam für Samy, wie er schreibt, zwar nicht über Nacht, aber teilweise zu schnell. Bekanntheit, sagt er, heiße vor allem, dass jeder eine Meinung über einen hat. Das muss man aushalten können. Auf der anderen Seite nutzt Samy Deluxe seine Popularität für Projekte, die ihm am Herzen liegen. 2007 gründete er mit anderen „Crossover“. Der Verein veranstaltet Musik- und Sport-Workshops für Schüler aus unterschiedlichen Stadtvierteln oder Schulformen. Sein Ziel ist, Jugendlichen Erfolgserlebnisse und Selbstvertrauen zu vermitteln.

Jon: Wenn wir berühmt werden würden, wäre das natürlich schön. Aber auch wenn’s nicht klappt, kann man das ja immer noch als Hobby machen. Musik ist ja nicht so, dass es eine Pflicht ist, damit Geld zu verdienen. Anders als Bürokaufmann, das macht ja keiner als Hobby, glaube ich.

H&K:Habt ihr schon andere Lieder geschrieben?
Abdulai: In der Schule im Musikunterricht hat unsere Lehrerin uns beide zusammengetan und gesagt, wir sollen für das ­Weihnachtskonzert in unserer Aula einen Weihnachtsrap ­schreiben. Und das haben wir dann gemacht. Da haben wir ­gemerkt, dass uns das Spaß bringt, dass wir gut zusammenarbeiten können.
Samy: Cool.

H&K: Habt ihr schon Pläne für neue Lieder?
Jon: Als nächstes wollen wir einen Aufstiegsrap für St. Pauli schreiben.
Samy: Yeah. Das ist super. Da werdet ihr viele Fans haben, auf jeden Fall. Ihr wisst ja, Lotto King Karl hat nur mit einem Song eine Riesenkarriere gemacht. „Hamburg meine Perle.“ Das werden sie noch spielen, wenn er hundert ist und die Leute werden ihn immer noch lieben.

H&K: Samy, worum ging es in deinem ersten Lied?
Samy: Als ich angefangen habe, waren die deutschen Rap-Lieder sehr referatlastig, so würde ich das nennen. Da war wenig Musikalität im Spiel. Eins meiner ersten Lieder war „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“. Da habe ich darüber geschrieben, dass Schwarz im Sprachgebrauch immer etwas Negatives ist und Weiß ist immer was Tolles. Weiße Weste haben heißt, du bist ein ganz toller Typ und dagegen dann Schwarzfahren und schwarzes Schaf.
Später hat mich das genervt, immer nur über ernste Sachen zu schreiben und dass es nicht so flüssig geklungen hat. Und da habe ich mich mit Reimen und Wortspielen beschäftigt. Ich find’s langweilig, immer nur mit dem Zeigefinger zu kommen. Man kann nicht nur sagen, die Fakten sind so und gestern war da ein Tsunami und hier geht’s Leuten schlecht und da sind Leute krank.
Jon: Das mit den Nachrichten macht ja schon die Tagesschau, ne?
Samy: Genau. Wenn man den Leuten was zu sagen hat, was sie eh nicht so gerne hören wollen, und Themen nahebringen will, über die sie sich nicht so gerne Gedanken machen, dann muss man das schon auf eine sehr unterhaltsame Weise tun, glaube ich.

Seit seinem 13. Lebensjahr hat Samy sich auch musikalisch immer wieder mit Rassismus beschäftigt. Er könne das gar nicht auslassen, sagt er. Im Gegenteil: „Ich find’s furchtbar, Menschen in Deutschland in der Öffentlichkeit zu sehen, die einen Migrationshintergrund haben und nie mit diesem Thema sich auseinandersetzen. Das sind für mich einfach merkwürdige Menschen. Entweder kriegen sie die Hälfte nicht mit, was auf der Straße und im Leben passiert, oder sie wollen sich nicht damit auseinandersetzen.“

Jon: Samy, wann hast du angefangen mit Rappen?
Samy: Ich hab angefangen auf Englisch zu rappen, da war ich 14. Da gab’s noch nicht so richtig deutschen Rap.
Abdulai: Konntest du flüssig Englisch?
Samy: Ich hab ein halbes Jahr in England gelebt und da sehr schnell Englisch gelernt und angefangen zu verstehen, worum diese ganzen Rap-Lieder gingen, die ich schon die Jahre davor gehört hatte. Wenn ihr Rapper werden wollt, müsst ihr richtig gut Englisch lernen, sonst werdet ihr diese Kunstform nie verstehen. Ihr müsst die Geschichte studieren. Wenn ihr wirklich damit Karriere machen wollt, dann bedeutet das auch viel Arbeit und nicht nur ein paar Reime schreiben.
Jon und Abdulai: Hmmm …

01HK208_Titel_05.indd01HK208_Titel_05.indd„Dis wo ich herkomm – Deutschland Deluxe“, das Buch von Samy Deluxe, ist erschienen im Rowohlt-Taschenbuchverlag, 8,95 Euro. Sein neues Album „Schwarz-Weiß“ soll zu Beginn kommenden
Jahres veröffentlicht werden.

Unter dem Titel „Wie klingt die Straße?“ riefen Hinz&Kunzt und die Internetplattform AUDIYOU im Januar Schüler auf, Hörbeiträge zum Thema Obdachlosigkeit einzureichen. Die Jury, bestehend aus Schulsenatorin Christa Goetsch, H&K-Beirat und EX-NDR-
Programmchef Rüdiger Knott, H&K-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer und H&K-Verkäufer Peter Konken, wählte im Mai die besten aus. Den ersten Platz belegten die „Dynamite Brothers“ Abdulai und Jon, den zweiten acht Kinder des Radiokurses der Grundschule Ludwigstraße, den dritten Raffaela und Chris Bothe. Alle Beiträge des Wettbewerbs sind im Internet unter www.audiyou.de zu hören.

Interview: Beatrice Blank
Fotos: Roderick Aichinger