Verkäuferin Mirabella : „Ich wurde mit anderen Augen gesehen“

Mirabella und alle anderen Hinz&Künztler:innen erkennt man am Verkaufsausweis. Foto: Mauricio Bustamante.

Mirabella, 40 Jahre alt, lebt in Glückstadt. Für sie hat sich durch das Verkaufen von Hinz&Kunzt vor einem Edeka das ganze Leben geändert.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Als Mirabella für diese Ausgabe fotografiert wird, steht ihr Mann neben ihr, er hält den Fotoblitz, ganz konzentriert, und wenn sie in die Kamera lacht, lächelt er sanft mit ihr. Mirabella ist 40 Jahre alt, ihr Mann Ionel ist 46, sie kennen sich seit ihrer Jugend, sind zusammen aufgewachsen in der rumänischen Stadt Bacău. Sie heirateten, als sie 15 war, ihr erstes Kind bekam sie mit 16 Jahren, das zweite drei Jahre später. Ihre Töchter sind heute 22 und 25 Jahre alt.

In Bacău lebten Mirabella und Ionel ­ohne fließendes Wasser und ohne Strom, sie sahen dort keine Möglichkeit, ihr Leben und das ihrer Töchter zu finanzieren. Zu zweit brachen sie auf nach Hamburg, weil sie sich hier bes­sere Chancen erhofften. Meist schliefen sie auf der Straße, mal bei Leuten, die sie kennengelernt hatten; auch mal bei Menschen, die sie aus Bacău kannten. Knapp vier Jahre lang lebten sie so, baten um Almosen, versuchten Arbeit zu finden. Manchmal fuhren sie nach Hause zu ihren Töchtern. In der Zwischenzeit kümmerten sich die Großeltern um sie.

Im Gespräch fasst sich Mirabella an ihr Herz, manchmal rast es schnell, an schlimmen Tagen wird ihr schwindelig, das liegt an einer Arthrose in der Halswirbelsäule. Wann das begonnen hat? So genau weiß sie das nicht mehr. Aber die vier Jahre, die sie von ihren Töchtern getrennt war, sagt sie, haben „meinen Kopf kaputt gemacht“.

Eines Tages fuhr Mirabella nach Glückstadt in Schleswig-Holstein, sie weiß selbst nicht mehr so genau wa­rum. Dort entdeckte sie einen Edeka-Markt, setzte sich davor, bat um Spenden. Vor diesem Edeka steht sie heute jeden Tag, mittlerweile verkauft sie hier Hinz&Kunzt. Dort, in Glückstadt, änderte sich Mirabellas Leben.

Kurz nachdem sie das erste Mal vor dem Supermarkt saß, erschien ein Artikel über sie in einer Regionalzeitung, der ihre Geschichte erzählte. Ein Pastor nahm sich ihrer an, jemand anderes vermittelte ihr eine kleine Wohnung. Eine ältere Frau erzählte ihr von Hinz&Kunzt, und so begann Mirabella vor einigen Jahren als Verkäuferin für das Magazin, genauso ihr Mann Ionel. Mittlerweile leben auch ihre Töchter in Glückstadt. Die jüngste fand schon bald einen Job, als Betreuerin in einer Kita.

Ein Erlebnis ist Mirabella in Erinnerung geblieben. Eines Tages, als sie vor dem Edeka-Markt stand, ging es ihr mal wieder schlecht, der Kopf raste, ihr wurde schwindelig. Eine Frau bemerkte das und fuhr sie zum Arzt. Und als sie im Auto saßen, sagte die Frau zu ihr, dass sie jederzeit für Mirabella einspringen könne, wenn es ihr mal nicht gut gehe. Es war eine Geste, die für ­Mirabella viel bedeutete: „Ich wurde mit anderen Augen gesehen“, sagt sie. Ihr ging es schlecht, und eine Fremde nahm das wahr und half ihr, einfach so. Was sich in ihrem Leben geändert hat, seit sie Hinz&Kunzt-Verkäuferin ist? Alles, sagt Mirabella.

Artikel aus der Ausgabe:

Zehn Jahre Lampedusa in Hamburg

Nach der Solidaritätswelle: Wie die Lampedusa-Geflüchteten in Hamburg angekommen sind – und wie die EU sich an ihren Grenzen immer weiter abschottet. Außerdem: Wieso Hamburgs Wohnunterkünfte überfüllt sind wie sich ein Festival gegen Antisemitismus stark macht. 

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Autor:in
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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