Faktencheck : Warum das Winternotprogramm ganztägig öffnen muss

Das Winternotprogramm kann nicht ganztägig geöffnet werden, sagt die Sozialbehörde. Unser Faktencheck zeigt: Stimmt nicht! Das haben wir juristisch prüfen lassen.

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Das Winternotprogramm im Münzviertel: Jeden Morgen um 9 Uhr müssen die Obdachlosen raus.

Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) ist sich ganz sicher: „Eine bedingungslose Öffnung des Winternotprogramms kann es aus unterschiedlichen Gründen nicht geben“, schreibt sie nach unserem Gespräch im Januar auf ihrer Facebook-Seite. Zuvor hatte sie die Forderung von 57.000 Petitionsunterzeichnern in den Wind geschlagen, das Winternotprogramm für Obdachlose auch tagsüber zu öffnen. Denn bisher müssen mehr als 650 Obdachlose jeden Morgen um 9 Uhr aus ihren Unterkünften raus – egal bei welchem Wetter.

Eine ganze Reihe von Gründen, warum das so sein müsse, listet die Senatorin seit Januar auf der Behördenhomepage auf. Diese Argumente haben wir uns genau angesehen und sie Experten vorgelegt. Das Fazit: Wenn Leonhard wollte, könnte sie das Winternotprogramm nicht nur ganztägig öffnen. Sie ist nach Einschätzung namhafter Juristen sogar rechtlich dazu verpflichtet!

Am Mittwoch wird die Hamburger Bürgerschaft erneut darüber debattieren, ob das Winternotprogramm ganztägig zu öffnen ist. Das hat die Linksfraktion beantragt. Einen ähnlichen Antrag der CDU lehnten die Parlamentarier im November noch ab. Ob sie dieses Mal anders entscheiden? Unseren Faktencheck haben wir den Fraktionen jedenfalls zugeschickt. Jeder kann sich hier überzeugen, wie schlüssig die Argumente der Sozialbehörde sind.

Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer kommentiert unsere Rechercheergebnisse: „Mir ist es völlig unverständlich, wieso die Sozialbehörde angesichts dieser Faktenlage sich weiterhin weigert, das Winternotprogramm ganztägig zu öffnen.“ Es sei höchste Zeit, den Obdachlosen auch tagsüber ausreichend Schutz zu bieten.

Ist eine ganztägige Öffnung rechtlich gar nicht möglich?

Sozialbehörde:Würde das Winternotprogramm auch tagsüber geöffnet bleiben, wäre es kein Wintererfrierungsschutz mehr, sondern bekäme den Charakter einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung als Ersatz für eine Wohnung. Hier gelten andere rechtlichen Grundlagen für die Standards und die Belegung. […] Dann könnte man dort nicht mehr anonym übernachten. Man muss wissen, dass das Winternotprogramm zu rund 80 Prozent von Menschen aus Osteuropa in Anspruch genommen wird. Diese Menschen haben keinen Anspruch auf öffentliche Unterbringung.“ 

Es ist das Hauptargument der Sozialbehörde: Rechtlich ist es überhaupt nicht möglich, das Winternotprogramm in seiner derzeitigen Form ganztägig zu öffnen. Wir haben einen Experten gefragt, ob das stimmt: Karl-Heinz Ruder ist Anwalt in Baden-Württemberg und hat für die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe ein Rechtsgutachten über die Unterbringungsansprüche von Obdachlosen verfasst. Kaum jemand hat so viele Gerichtsurteile zum Thema gelesen, wie er.

Ruders Einschätzung ist eindeutig: „Als Polizeibehörde muss die Stadt alle obdachlosen Menschen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit ganztägig unterbringen“, schreibt er uns. Durch unfreiwillige Obdachlosigkeit seien die Grundrechte der Betroffenen in Gefahr. Da müsse die Stadt handeln, auch wenn es sich um Menschen aus Osteuropa handele. Dass das Winternotprogramm tagsüber geschlossen ist, kann Ruder nicht nachvollziehen: „Als Verwaltungsbehörde ist die Stadt verpflichtet, Recht und Gesetz zu beachten“, schreibt er. „Es ist daher völlig unverständlich, wie eine Stadt und die handelnden Verantwortlichen sich bei der Unterbringung von Obdachlosen offensichtlich vorsätzlich über das geltende Recht hinwegsetzen.“

Hat Experte Ruder Recht? Um ganz sicher zu sein, fragen wir bei der renommierten Anwaltskanzlei Bernzen Sonntag in der Hamburger Mönckebergstraße nach. Prof. Dr. Christian Bernzen und seine Kollegen Dr. Christian Grube und Ralf Neubauer kommen zu einem ähnlichen Schluss wie Rechtsanwalt Ruder: „Der Behörde bleibt es völlig unbenommen, im Rahmen der Gefahrenabwehr auch eine ganztägige Öffnung des Winternotprogramms vorzunehmen“, schreiben sie in einem Gutachten für Hinz&Kunzt. Und weiter: „Die Auffassung, dass durch eine ganztägige Öffnung des Winternotprogramms eine anonyme Nutzung des Programms nicht mehr möglich sei, ist rechtlich nicht begründbar.“

Müssen die Unterkünfte täglich acht Stunden gereinigt werden?

Sozialbehörde: „Darüber hinaus müssen die Übernachtungsstätten – aufgrund der Erfahrungen der bisherigen Jahre – täglich mehrere Stunden intensiv gereinigt werden, um Hygieneauflagen zu gewährleisten. So muss zum Beispiel das Ausbreiten von ansteckenden Krankheiten wie Läusen und Krätze verhindert werden.“

Laut fördern & wohnen sind an beiden Standorten des Winternotprogramms Reinigungskräfte täglich je acht Stunden im Einsatz, um die Räume gemäß dem Infektionsschutzgesetz zu reinigen – also genau so lange, wie die Unterkünfte geschlossen sind. Im Münzviertel sind den Angaben nach täglich vier Reinigungskräfte im Einsatz, am Schaarsteinweg drei. „Das ist die Personalmenge, die uns zur Verfügung steht“, sagt f&w-Sprecherin Schwendtke.

Ließe sich der Reinigungsvorgang nicht anders organisieren, damit die Unterkünfte schneller wieder geöffnet werden könnten? Zum Beispiel durch mehr Personal oder durch etagenweise Reinigung? Fragen danach weicht f&w aus. Eine Tagesöffnung wäre von der Sozialbehörde nicht vorgesehen. „Also sehen wir keinen Anlass, am Procedere der Reinigung etwas zu ändern“, sagt Sprecherin Susanne Schwendtke.

Das Winternotprogramm kann also angeblich nicht tagsüber geöffnet werden, weil es in dieser Zeit gereinigt werden muss – gleichzeitig sollen die Reinigungsmaßnahmen nicht beschleunigt werden, weil das Winternotprogramm tagsüber nicht geöffnet werden soll. Absurd.

Rechtlich sei die notwendige Reinigung ohnehin kein Argument, heißt es zudem aus der Kanzlei Bernzen Sonntag.

Sind die „Integrationschancen“ bei ganztägig geöffneten Unterkünften nicht besser?

Sozialbehörde: „Die Erfahrung mit den ganztägig nutzbaren Wohncontainern zeigt, dass dort keine besseren Integrationschancen bestehen. Ziel des sozialen Hilfesystems der Stadt Hamburg ist es aber, keine „Lethargie“ entstehen zu lassen.“

Versteht man unter Integration die Vermittlung aus dem Winternotprogramm in eine Wohnung oder eine dauerhafte Wohnunterkunft, lässt sich dieses Argument der Behörde nicht halten. Im vergangenen Winter konnten 55 von 145 Bewohnern der ganztägig nutzbaren Wohncontainer bei Kirchengemeinden vermittelt werden – also knapp 38 Prozent. Das bedeutet, dass sie zum Beispiel in eine eigene Wohnung oder eine dauerhafte Unterkunft einziehen konnten. Aus den tagsüber geschlossenen Einrichtungen des Winternotprogramms gelang die Vermittlung von 45 Obdachlosen – und das bei 810 Übernachtungsplätzen, die über die Monate von deutlich mehr Menschen genutzt wurden. Die Statistik ist jedoch wohl lückenhaft, da diese Unterkünfte anonym genutzt werden können. Dennoch: Die Chancen, aus den Containern bei Kirchencontainern in ein geregelteres Leben zurückzufinden, sind weit größer als aus den tagsüber geschlossenen Einrichtungen.

Woran das liegt, darüber lässt sich nur spekulieren. Sozialarbeiter gehen davon aus, dass die gute Betreuung in den kirchlichen Einrichtungen ein Grund dafür ist. Sie werden als „hoch engagiert“ bezeichnet. Aber auch die Tatsache, dass die Obdachlosen ihre Wohncontainer tagsüber nicht verlassen müssen, wird als weiterer Grund für die guten Vermittlungschancen angeführt: „Man kann sich auf andere Dinge konzentrieren, wenn man ausgeruht ist“, sagt Nikolas Borchert, Sozialarbeiter bei der Caritas. Wer ausgeschlafen und nicht durchgefroren sei, bekomme es „besser gewuppt“, sich Perspektiven aufzubauen.

Die Sozialbehörde verweist aber darauf, dass sich „Integrationschancen“ nicht bloß an der Vermittlung in Wohnraum bemessen. Dazu gehöre auch, dass Obdachlose Beratungsstellen oder das Jobcenter aufsuchten, denn sie sollten sich aktiv an der Verbesserung ihrer Lebenssituation beteiligen – und deswegen tagsüber die Unterkünfte verlassen. Osteuropäische Obdachlosen kann im Rahmen solcher Beratungen auch dazu geraten werden, in ihrer Heimatländer zurückzukehren.

Doch Mitarbeiter aus Beratungsstellen halten dieses Argument für nicht stichhaltig. Bettina Reuter vom Verein Ambulante Hilfe sagt: „Man muss sich ja nicht jeden Tag acht Stunden lang beraten lassen.“ Längst nicht jeden Tag gebe es Neuigkeiten für ihre Klienten, die auf der Suche nach einer Wohnung sind. Und am Wochenende werde ohnehin keine Beratung angeboten.

Können „anspruchsberechtigte“ Obdachlose in anderen Unterkünften wohnen?

Sozialbehörde: „Die öffentlich-rechtliche Unterbringung steht auch obdach- bzw. wohnungslosen Menschen zu, sofern sie Ansprüche auf Sozialleistungen haben. Unter 20 Prozent der Nutzer/innen des Winternotprogramms kommen hierfür infrage und werden in den Einrichtungen sowie in den zahlreichen sozialen Beratungsstellen über ihre Ansprüche informiert.“

Kann tatsächlich jeder Fünfte aus dem Winternotprogramm in andere Wohnungslosenunterkünfte gehen, wie die Behörde es behauptet? Tatsächlich gibt es immer mehr Plätze für Wohnungslose in Hamburgs öffentlich-rechtlichen Unterkünften. Seit einigen Monaten baut die Sozialbehörde die Kapazitäten aus: Fanden Ende 2014 noch 2583 Wohnungslose in diesen Unterkünften Platz, waren es im Dezember 2015 schon 2982 – immerhin 399 Plätze mehr.

Ob osteuropäische Obdachlose auf diese Plätze keinen Anspruch haben – so wie die Sozialbehörde es behauptet – ist spätestens seit einem Urteil des Bundessozialgerichts aus dem vergangenen Dezember höchst umstritten. Demnach haben Europäer hier nämlich Anspruch auf Sozialhilfe, sobald sich ihr Aufenthalt in Deutschland „verfestigt“ hat – also nach sechs Monaten. „Obdachlosigkeit dürfte so gravierend sein, dass für EU-Bürger auch ein Anspruch auf Maßnahmen bei der Beschaffung einer Wohnung besteht“, schreiben uns die Juristen aus der Kanzlei Bernzen Sonntag. Maßnahmen bei der Beschaffung einer Wohnung – dazu gehört auch die öffentlich-rechtliche Unterbringung.

Doch selbst wenn nur 20 Prozent der Nutzer des Winternotprogramms Anspruch auf eine öffentlich-rechtliche Unterbringung hätten, reichen die Plätze in den regulären Unterkünften für sie nicht aus. Das bestätigt Bettina Reuter, die beim Verein Ambulante Hilfe Hamburg Wohnungslose berät: „Wenn sie zur Fachstelle für Wohnungsnotfälle in den Bezirken gehen, dann sagen die ihnen in der Regel, dass sie keine anderen Unterkünfte als das Winternotprogramm haben.“ Wohnungen würden die meisten erst recht nicht finden, sagt Reuter. Auch nicht mit Hilfe von Beratungsstellen: „Die Leute kommen hier voller Hoffnung her, aber die Hoffnung können wir nicht erfüllen.“

Kommen viele Obdachlose nach Hamburg, weil das Winternotprogramm so luxuriös ist?

Sozialbehörde: „Bei einer ganztägigen Öffnung des Hamburger Winternotprogramms wäre eine noch größere Sogwirkung nach Hamburg zu befürchten, da insbesondere auch andere Großstädte nur eine Aufenthaltsmöglichkeit als Erfrierungsschutz in der Nacht anbieten.“

Immer wieder heißt es aus der Sozialbehörde, es würden Obdachlose aus anderen Städten nach Hamburg kommen, weil das Angebot an Notunterkunftsplätzen hier verhältnismäßig gut ist. Belege für eine solche Sogwirkung, die über Einzelfälle hinaus gehen, sind uns nicht bekannt. Richtig ist aber, dass viele Kommunen ihrer Verpflichtung zur Unterbringung Obdachloser auch im Winter nicht oder nicht ausreichend nachkommen und Hamburg mit dem Winternotprogramm verhältnismäßig gut dasteht.

Aber: Kann es ein Argument gegen eine ganztägige Öffnung der Notunterkünfte sein, dass andere Städte Obdachlosen noch weniger Schutz bieten? Juristisch jedenfalls nicht, sagt Experte Ruder: „Örtlich zuständig ist die Stadt Hamburg, gleichgültig, wo sich der Betroffene vorher aufgehalten hat.“ Mit einer möglichen Sogwirkung gegen eine Ausweitung des Winternotprogramms zu argumentieren, übersehe die rechtlichen Zusammenhänge und sei deshalb „verfehlt“.

Können Obdachlose nicht einfach tagsüber in Tagesaufenthaltsstätten gehen, um nicht draußen sein zu müssen? 

Gerichte haben entschieden, dass Obdachlose ganztägig einen Anspruch auf eine Unterkunft haben. So befand beispielsweise das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, sie seien „so unterzubringen, dass sie die Möglichkeit haben, sich in der Unterkunft ganztägig aufzuhalten.“ Das sei eine Frage der Menschenwürde. Nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg können die Unterkünfte tagsüber und nachts allerdings räumlich getrennt sein. Demnach ist eine Unterteilung in Schlaf- und Tagesaufenthaltsstätten also grundsätzlich mit der Menschenwürde vereinbar und somit erlaubt.

Voraussetzung ist laut Gericht allerdings, dass die Obdachlosen ihre Habe in der Nachtunterkunft auch tagsüber in einem abschließbaren Behältnis zurücklassen können. Im Winternotprogramm ist das nicht möglich: „Besondere Habseligkeiten könnten in Absprache mit der Standortleitung über Nacht verwahrt werden, müssen aber am Morgen wieder entgegen genommen werden“, sagt fördern&wohnen-Sprecherin Jasmin Lotz. Es gebe in den Unterkünften ohnehin keine Schränke.

Außerdem müssten Tages- und Nachtunterkünfte „zeitlich so aufeinander abgestimmt“ sein, dass dem Obdachlosen „jederzeit eine Unterkunft zur Verfügung steht“ – also ohne zeitliche Lücken. Zwar finanziert die Sozialbehörde eine Handvoll Tagesaufenthaltsstätten. Allerdings haben die nicht ganztägig geöffnet und liegen zudem oft weit voneinander entfernt: So öffnet von den städtisch finanzierten Einrichtungen morgens vor 10 Uhr nur der Stützpunkt mit gerade mal acht Sitzplätzen. In den Mittagsstunden hat zudem meist nur die TAS der Diakonie mit ihren 88 Plätzen geöffnet – die in der Bundesstraße in Eimsbüttel liegt, mehr als vier Kilometer vom Winternotprogramm im Münzviertel entfernt. Zur Erinnerung: Mehr als 650 Obdachlose müssen ihre Unterkünfte morgens um 9 Uhr verlassen.

Die Einrichtungen beklagen auch immer wieder, dass sie überlastet seien und deswegen Obdachlose abweisen müssten – zuletzt nach der Ausweitung der Öffnungszeiten einiger Aufenthaltsstätten im Januar. Auch dass die Stadt in Hammerbrook eine weitere Einrichtung eröffnete, reicht demnach nicht aus: „Die neue Aufenthaltsstätte entlastet und ist deshalb freuen wir uns über den Rückzugsort für Obdachlose in Hammerbrook“, sagte zwar der Sprecher der Hamburger Diakonie, Steffen Becker. „Sie schließt aber weder die Lücke am Wochenende noch den Bedarf unter der Woche.“ Die zusätzlichen Plätze deckten den Bedarf für einen Erfrierungsschutz bei Tage „bei weitem nicht ab“, bemängelte auch Eva Lindemann vom Herz-As-Betreiber Hoffnungsorte Hamburg.

Text: Benjamin Laufer
Foto: Annabel Trautwein

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