Suchtkrank in Hamburg

Zwischen Strafen und Hilfe

Eine Frau mit Käppi auf kommt auf der Rolltreppe aus der U-Bahnstation Hauptbahnhof-Süd
Eine Frau mit Käppi auf kommt auf der Rolltreppe aus der U-Bahnstation Hauptbahnhof-Süd
Versucht unter dem Radar zu bleiben: Yasmin auf dem Weg zum August-Bebel-Park, um Drogen zu kaufen.

Toleranz im Konsumraum einerseits, Verfolgung durch die Polizei andererseits: Wie Hamburg mit Drogen umgeht und wie suchtkranke Menschen damit leben.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Yasmin hat Suchtdruck. Sie strafft die Träger ihres Rucksacks und hastet los. Gerade kommt sie von der Tafelausgabe im Hinz&Kunzt-Haus. Ihr nächstes Ziel: das Drob Inn. Vor der Drogenberatungsstelle am Hamburger Hauptbahnhof will sie neues Crack kaufen. Die 51-Jährige zieht sich die schwarze Kapuze über den Kopf. Auffallen? Bloß nicht! „Besonders der Polizei bitte nicht“, sagt sie und grinst schief. Auf dem Weg sucht sich Yasmin „ein ruhiges Plätzchen“, um ihr verbliebenes Crack zu rauchen – doch das ist nicht leicht. Je mehr sie sich dem August-Bebel-Park nähert, desto mehr Polizist:innen begegnet sie.

Ein verdrecktes Betonpodest muss reichen. Routiniert packt sie ihr „Besteck“ aus: Löffel, Salz, Wasser. Aus einer Plastikdose holt sie ihren letzten Rest der Droge, erhitzt sie mit einem Brenner auf einem Löffel. „Wenn der Stein kristallisch wird, ist es halbwegs guter Stoff“, murmelt sie, während sie sich wachsam umsieht. „Genau weiß man’s aber erst hinterher.“

Yasmin raucht lieber allein als im Drogenkonsumraum des Drob Inn. „Zu viel Trubel“, sagt sie. Obwohl sie selten die Essens- und Kleiderausgabe oder die pflegerische Hilfe, zum Beispiel die Wundversorgung, in der Einrichtung nutzt, ist sie fast täglich dort, um auf dem Vorplatz, dem August-Bebel-Park, Drogen zu kaufen – verbotenerweise.

Mit einem kleinen Tapetenmesser stopft Yasmin die Droge in ihre Pfeife. Seitdem das Gebiet um Hauptbahnhof und Drob Inn als Waffenverbotszone gilt, sei sie oft kontrolliert worden. Immer wieder hätten ihr Beamt:innen Taschenmesser abgenommen. Deshalb nutzt sie nun die billigste Klinge, die sie kriegen kann. Sie nimmt einen tiefen Zug aus ihrer Crack-Pfeife. Dann räumt sie ihre Utensilien zurück in ihre Blechdose und eilt weiter. Den Blick hält sie gesenkt.

„Ich höre nicht damit auf, weil es verboten ist.“

Yasmin

In Deutschland ist der Besitz, Handel und Verkauf von Drogen verboten – bei Verstößen drohen Geldstrafen und Haft. Trotzdem gibt es seit mehr als 25 Jahren in einigen Bundesländern wie Hamburg Drogenkonsumräume. Dort können suchtkranke Menschen unter Aufsicht von Sozialpädagog:innen oder Pflegepersonal mitgebrachte Drogen konsumieren – mit sauberem Besteck und Hilfe im Notfall. Die Ziele: Überdosierungen und Infektionen verhindern und eine Anbindung im Hilfesystem ermöglichen. Aber laut einer Auswertung der Bundesregierung auch: offene Drogenszenen zurückdrängen.

Dirk Schäffer, Drogenreferent der Deutschen Aidshilfe, kritisiert dieses ordnungspolitische Ziel im Gespräch mit Hinz&Kunzt als „Stadtbildkosmetik“. Laut Hamburger Sozialbehörde verfolgt der Senat einen „ganzheitlichen und abgestimmten Ansatz“ aus Prävention, Hilfe und Strafverfolgung. Schäffer hält das für widersprüchlich: Unterstützung auf der einen Seite, Repression auf der anderen – das passe nicht zusammen. Die aktuellen Verbote bezeichnet er als „Symbolpolitik“, die zeigen solle: „Wir tun etwas, denn wir bestrafen.“ Der Anstieg der Drogentodesfälle zeige jedoch, dass Strafen nicht hilfreich sind. In Hamburg sind 2024 insgesamt 102 Menschen an den Folgen von Drogenkonsum gestorben – die höchste Zahl seit 23 Jahren.

Viele Suchtkranke sind wohnungslos

Schäffer sieht in der Kriminalisierung das große Problem. Insbesondere junge Betroffene suchten oft zu spät Hilfe – aus Angst, bestraft zu werden. Die Folge: fortgesetzter Konsum, Beschaffungskriminalität und gesundheitliche und soziale Risiken. Laut Schäffer haben etwa 60 Prozent der Personen der offenen Drogenszenen in Deutschland keinen festen Wohnsitz.

Auch Yasmin war lange obdachlos. Sie bleibt vor dem buntbemalten Sichtschutz um den August-Bebel-Park stehen und lehnt sich an einen Laternenpfahl: „Ich gehöre hier zu den alten Hasen“, sagt sie nachdenklich und streift die Kapuze ab. Auch sie habe viele Freund:innen durch Drogen verloren. Viel Zeit, um innezuhalten, bleibt ihr nicht. Drei Männer in roten Westen nähern sich. Einer spricht sie an: Sie solle hinter den Zaun gehen, nicht davor stehen bleiben, sagt er bestimmt. Yasmin kennt die „Sozialraumläufer:innen“ schon. Laut Senat „werben sie dafür, dass im öffentlichen Raum bestimmte Regeln einzuhalten sind“. Sie dürfen aber weder ordnungspolitische Maßnahmen wie etwa Platzverweise durchsetzen noch Sozialarbeit leisten. Eilig geht Yasmin hinter den Sichtschutz. „Man will eben nicht, dass man uns sieht“, sagt sie.

Eine Frau mit Brille steht vor einem Tisch aus Metall in einem gefliesten Raum
Arbeitet seit 35 Jahren in der Drogenhilfe: Christine Tügel, Geschäftsführerin des Vereins Jugendhilfe, der das Drob Inn betreibt. Foto: Miguel Ferraz

Seit vergangenem Jahr trennt der bunte Sichtschutz die Konsumierenden vor dem Drob Inn vom restlichen Stadtbild. Der Träger selbst befürwortet das: „Er markiert den Raum, hinter dem sich die Klientel des Drob Inn aufhalten kann, und schützt sie davor, angegafft zu werden“, sagt Christine Tügel, Geschäftsführerin des Vereins Jugendhilfe, der das Drob Inn betreibt. Ein rechtsfreier Raum ist der Bereich jedoch nicht: Die Polizei kontrolliert auch dort. Handeln oder Weitergeben von Drogen ist verboten, auch in der Beratungsstelle selbst. Bei Verstößen müssen die Mitarbeitenden Hausverbote erteilen. „Unsere Klientel ist abhängig von illegalisierten Drogen – es ist völlig klar, dass sie sich diese irgendwo besorgen muss“, sagt die 64-Jährige.

Laut der aktuellen Hamburger Kriminalstatistik hat die Polizei die „Bekämpfung der öffentlich wahrnehmbaren Rauschgiftkriminalität“ im vergangenen Jahr „priorisiert verfolgt“. Auffällig sei seit einigen Jahren die deutliche Zunahme des Konsums von harten Drogen – vor allem von Crack. Von 2015 bis 2023 habe er sich nahezu verzehnfacht. 2024 gab es einen minimalen Rückgang um vier Prozent. Über 80 Prozent der 2212 Crack-Delikte wurden rund um den Hauptbahnhof festgestellt.

Wieso Drogen verboten wurden
Geschichte der Prohibition
Wieso Drogen verboten wurden
In ihrem Buch „Der Große Rausch“ erzählt die Historikerin Helena Barop die Geschichte der Prohibition nach. Hier erklärt sie, wieso Drogenverbote nur wenig mit dem Gesundheitsschutz der Konsumierenden zu tun haben.

Mit 16 Jahren griff Yasmin das erste Mal zu harten Drogen – um sich von den Schlägen ihres Stiefvaters und später denen ihres Partners abzulenken. „Durch die Gewalt zu Hause war meine Psyche kaputt“, sagt sie. Immer wieder litt sie unter Psychosen, machte mehrere Therapien. Heute lebt sie in einer Wohnung für chronisch Kranke und bekommt Frührente. „Das war ein langer Weg“, sagt sie.

Wie Yasmin leiden viele drogenabhängige Menschen an weiteren psychischen Erkrankungen, sagt Christine Tügel. Wer etwa depressiv ist, habe oft nicht die Kraft, Termine wahrzunehmen oder sich um Substitution – also die Einnahme einer legalen Ersatzdroge – zu kümmern. Zudem fehle es an psychiatrischer Versorgung.

DrugChecking und Übernachtungsplätze für Suchtkranke

Hoffnung setzt Tügel in ein neues Projekt in der Repsoldstraße 27: Dort will die Stadt Angebote verschiedener Träger zusammenführen – inklusive psychiatrischer Ambulanz. Auch das Projekt „Nox“, eine Übergangseinrichtung für obdachlose, aktiv konsumierende Drogenabhängige, die sich über dem Drob Inn befindet, soll dort laut Sozialbehörde im Laufe des Sommers um 30 Plätze erweitert werden. Das sei dringend notwendig, sagt Tügel: Die Plätze seien immer voll belegt.

Hoffnung setzt Tügel auch in das Vorhaben von Rot-Grün, DrugChecking in Hamburg zu ermöglichen. Anfang Juli hat der Senat die rechtlichen Grundlagen geschaffen, damit Nutzer:innen ihre Drogen auf andere Wirkstoffe hin testen lassen können, mit denen sie teilweise gestreckt werden. Tügel plant, im Drob Inn Schnelltests auf Fentanyl einzuführen – jenen Stoff, an dem in den USA bereits mehr als 100.000 Menschen gestorben sind. Er werde mittlerweile Straßenheroin beigemischt.

Ein Mann im weißen Hemd mit Sonnenbriulle in den Haaren spricht mit einem anderen Mann, der mit dem Rücken zur Kamera steht
Sozialarbeiter Florian Pittner (links) kennt die Probleme von suchtkranken Menschen wie Tim. Foto: Mauricio Bustamante

Drei S-Bahn-Stationen weiter östlich, am Bahnhof Holstenstraße, sieht Straßensozialarbeiter Florian Pittner von der Drogenberatungsstelle „Palette“ ähnliche Probleme: „Es gibt viel zu wenig konsumtolerante Übernachtungsmöglichkeiten“, sagt der 50-Jährige. „Die Menschen sind quasi dazu verdammt, auf der Straße zu leben.“ Auch Pittner hofft auf das kommende Angebot in der Repsoldstraße – vor allem für die medizinische Versorgung. „Der Staat ist in der Pflicht“, sagt er. Die Menschen bräuchten kurzfristige Hilfen, die würden bislang meistens Ehrenamtliche leisten – zum Beispiel das Arztmobil. „Es ist Bullshit, die Leute immer weiter verelenden zu lassen – nicht nur moralisch, auch ökonomisch“, sagt Pittner. Die Folgekosten für die gesundheitliche Behandlung Drogenkranker würden immer weiter steigen.

Rund 80 Menschen kommen täglich zur Palette – zum Mittagessen, zur Sozialberatung oder einfach auf einen Schnack. Einer von ihnen ist Tim* (Name geändert). „Hier werde ich akzeptiert, wie ich bin, und muss mich nicht verstecken“, sagt er 29-Jährige. Er lehnt etwas weggetreten an einem Fahrradständer vor der Einrichtung und nippt an einem Becher Wasser. Ihm gegenüber: Sozialarbeiter Pittner.

„Bei mir sind’s die Benzos“, erzählt Tim. Wegen Panikattacken bekam er das Beruhigungsmedikament schon mit 16 Jahren verschrieben – und merkte schnell, dass es half. „Macht dieses Angstgefühl weg“, sagt Tim. Eine Entgiftung habe er bereits gemacht, doch nach dem Tod seiner Mutter sei er rückfällig geworden. „Ich will wieder weg davon“, sagt er. Doch ihm fehle die Kraft, sich erneut um einen Therapieplatz zu kümmern. Immer wieder anrufen, dranbleiben – das schaffe er nicht. Pittner nickt. Selbst Versicherte wie Tim hätten es schwer. Wer keine Krankenversicherung hat, habe gar keine Chance.

Die Medikamente kauft er vor dem Drob Inn. „Das ist da wie ein großer Wochenmarkt.“ Doch wie Yasmin weiß er: „Du kannst nie sicher wissen, ob das Zeug okay ist.“

„Verbote ändern doch nichts.“

Tim

Tim seufzt. Er braucht Geld, um über den Tag zu kommen – dafür müsste er schnorren gehen. Doch seit vergangenem Jahr hat der HVV die Kontrollen gegen das Bettelverbot in den Bahnen verschärft. „Noch eine Sache mehr, wegen der ich Ärger mit der Polizei bekommen kann“, sagt er.

Wieso die Innenbehörde Strafverfolgung für notwendig hält

Rund um den Bahnhof Holstenstraße sei die Polizei sehr präsent, fahre regelmäßig mit großen Wagen vor und kontrolliere die Szene – teils auch in Zivil, sagt Pittner. Er betont jedoch, dass sich der Austausch mit den Beamt:innen verbessert habe. Er sagt: „Die machen halt ihren Job.“

Trotzdem kritisiert Pittner, dass einige Polizist:innen „unsensibel“ mit der Klientel umgingen. Die Polizei wiederum betont gegenüber Hinz&Kunzt, dass Nachwuchskräfte im Umgang mit Suchtkranken geschult würden und Beratungsstellen besuchten.

Laut der Hamburger Polizeigewerkschaft unterliegen die Beamt:innen bei Drogendelikten dem „Strafverfolgungszwang“. Ein Sprecher der Hamburger Innenbehörde verteidigt das Vorgehen: Die Bekämpfung der öffentlich wahrnehmbaren Drogenkriminalität – auch durch eine konsequente Strafverfolgung – sei notwendig, um das Angebot illegaler Drogen zu reduzieren und Anwohner:innen dauerhaft von den Begleiterscheinungen einer offenen Drogenszene zu entlasten.

Auch Yasmin ist schon oft beim Drogenkonsum erwischt worden und musste viele Strafen zahlen – zum Glück, sagt sie, sei sie nie im Gefängnis gelandet. Für sie ist klar: „Ich höre nicht auf, Drogen zu nehmen, weil es verboten ist – das hat mich ja auch nicht davon abgehalten, damit anzufangen.“

Viele ihrer Bekannten seien wegen Drogenbesitz im Gefängnis. „Du musst echt aufpassen, dir dunkle, stille Örtchen suchen“, sagt sie. Am liebsten würde sie ihre Drogen in der Apotheke kaufen – legal, rein, ohne Angst vor Strafen.

Auch Tim wünscht sich Veränderung. „Ich möchte mich nicht mehr fühlen wie ein Krimineller“, sagt er. Wenn die Polizei am August-Bebel-Park vorfahre, würden alle für einen Moment ihren Stoff verstecken, aber danach würde man weitermachen. „Die Verbote ändern doch nichts“, sagt Tim.

Dirk Schäffer, Christine Tügel und Florian Pittner sehen in der Strafverfolgung ebenfalls ein Problem. Tügel sagt, sie führe zur Stigmatisierung und zum Ausschluss aus der Gesellschaft. Sie wünscht sich eine Debatte über die Legalisierung des „Ameisendeals“ – dem Verkauf kleiner Mengen, die oft für den einmaligen Konsum bestimmt sind – innerhalb der Einrichtungen, wie dies in Zürich erprobt wird (siehe Seite 30). Dadurch würden Drogenabhängige weniger kriminalisiert und der öffentliche Raum entlastet.

Schäffer sieht Portugal als Vorbild: Dort wurde der Besitz geringer Mengen entkriminalisiert. Man setzt vor allem auf Hilfe und Gesundheit – mit Erfolg (siehe Infokasten). Der Experte ist sich sicher: „Strafen helfen nicht.“

Tim macht sich auf den Weg zum Drob Inn. Wie Yasmin hält er den Blick meistens gesenkt. Er eilt vorbei an Polizist:innen und Sozialraumläufer:innen.

Hinter dem Sichtschutz des August-Bebel-Parks ruft ein Mann: „Benzos!“ Er erinnert an einen Marktschreier. Tim hebt den Kopf und folgt ihm. Yasmin kreuzt seinen Weg. Sie kennen sich nicht – doch ihr Gang ist der gleiche: möglichst unauffällig, wachsam und rastlos.

Artikel aus der Ausgabe:
Hinz&Kunzt-Titelbild, man sieht diverse Pillen und Pulver. Titelzeile: Wem helfen Verbote?

Drogen: Wem helfen Verbote?

Wie suchtkranke Menschen die Doppelstrategie des Hamburger Senats – Hilfsangebote und Vertreibung – erleben, was Hamburg von der Schweizer Drogenpolitik lernen kann und wann und wo die Idee entstand, Drogenkonsum zu verbieten. Außerdem: Mit „Büchern“ sprechen in der „Human Library“.

Ausgabe ansehen
Autor:in
Luca Wiggers
Luca Wiggers
1999 in Hannover geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist Anfang 2022 nach Hamburg gezogen. Seit Juni 2023 Volontärin bei Hinz&Kunzt.

Weitere Artikel zum Thema