Hinz&Künztler Günther

Ein Zuhause im Wald

Ein Mann und ein Hund gehen unter Buchen entlang
Ein Mann und ein Hund gehen unter Buchen entlang
Hund Coco ist bei Günthers Streifzügen durch den Wald fast immer dabei. Foto: Mauricio Bustamante.

Früher zog Günther als „Vagabund“ durch Italien. Heute lebt der Hinz&Kunzt-Verkäufer in einer Hütte fernab von Menschen – und kommt dort zur Ruhe.

An dunklen Winterabenden macht Günther es sich gerne auf dem ­Sofa bequem. Im Ofen prasselt ein Holzfeuer und verströmt wohlige Wärme, sein „Baby“ Coco, ein gut zehn Jahre alter Schäferhund-Schnauzer-Mischling, döst im Korb. Wer das liest, könnte meinen, der 52-Jährige führe ein bürgerliches Leben. Wäre das Gerät, auf dem er Filme schaut, nicht ein kleines Mobiltelefon. Sein Bad nicht ein überdachter Anbau mit Wasser­toilette und Waschbecken, aber ohne ­Dusche. Und sein Zuhause nicht eine Holzhütte in ­einem Waldstück im Süden ­Hamburgs, die viele Jahre leer stand. Doch der Hinz&Kunzt-Verkäufer ist zufrieden, denn: „Hier ist es so ruhig.“

Ein Kumpel hat ihm die unter hohen Tannen stehende Hütte einst gezeigt, sieben Jahre ist das her. Günther war damals gerade mal wieder auf die Straße gezogen, nach ­einem Streit mit seiner Vermieterin, einer Landwirtin, bei der er einige Zeit Unterschlupf gefunden hatte. Ein paar Wochen ­habe er in einem Zelt neben der verlassenen Hütte geschlafen, erzählt Günther, bis eines Tages der Eigentümer vor ihm stand. „Es ­gefällt mir nicht, dass du hier wohnst!“, habe der gesagt. Und sich Günthers Mobil­nummer geben lassen. Drei Wochen später klingelte das Telefon: Es gebe zwei Möglichkeiten für seinen Einzug, so der Besitzer. ­Entweder er zahle eine kleine Miete. Oder er sorge dafür, dass die Hütte in Schuss bleibt. Günther entschied sich für Letzteres. Und hat hier sein Zuhause gefunden.

Wer verstehen will, warum dieser freundliche Mann sich fern anderer Menschen am sichersten fühlt, muss ihm auf ­eine Zeitreise folgen. Er habe sich da­ran gewöhnt, alleine zu sein, sagt ­Günther und erzählt von einer tristen Kindheit. „Alle dreiviertel Jahr“ seien sie umgezogen, wegen Arbeit oder ­Miete oder aus anderen Gründen. Immer wieder habe er die Schule wechseln und sich neue Freunde suchen müssen. Als die Mutter den 13-jährigen Günther fragt, warum er nie Kumpels mit nach Hause bringt, antwortet der: „Wozu soll ich mir Freunde suchen? Wir ziehen doch eh bald wieder um!“

Den biologischen Vater lernt er erst als Zehnjähriger für ein Wochenende kennen – danach sieht er ihn nie wieder. Sein Ziehvater stirbt ein Jahr zuvor an einem Herzinfarkt. Mit der Mutter verbindet ihn vor allem Streit. Günther zeigt auf zwei Narben in seinem Gesicht. „Ich sollte meine Suppe essen. Als ich das nicht gemacht habe, hat sie mir vor Wut den Teller ins ­Gesicht geschleudert.“ Als 15-Jähriger beginnt er eine Tischlerlehre in Winsen an der Aller. Offiziell wohnt die Mutter mit ihm in der Wohnung. Tatsächlich habe sie unter der Woche in Hamburg gelebt und er weitgehend für sich selbst gesorgt. Nach einem Jahr platzt Günthers Traum: Er muss die Ausbildung abbrechen. Der Holzstaub löst bei ihm Asthma aus.

Der Jugendliche macht viele Praktika, als Autoschlosser, Mechaniker, Lackierer, Elektriker und Maurer. Doch eine neue Berufung findet er nicht. Es folgen Jahre als Kurierfahrer, Aktenvernichter und Sicherheitsmann. Gutes Geld, lange Nächte. „Wenn ich ein Mädel kennengelernt habe, musste ich der sagen: ,Wir können uns frühestens in zwei Wochen wiedersehen.‘ Darauf hatte ich irgendwann keine Lust mehr.“ Zu der Zeit lebt Günther auf St. Pauli in einer WG, mit einem Cousin, der eines Tages sagt: „Lass uns auf die Straße gehen! Wir kaufen uns Rucksack und Schlafsack, gehen nach Italien und schnorren uns da durch!“ Wenige Tage später brechen die beiden auf. Den Wohnungsschlüssel schmeißen sie unterwegs in einen Fluss.

Die folgenden zehn Jahre verbringt Günther in Italien, als „Vagabund“, wie er es nennt. Zieht mit wechselnden Kumpels durchs Land und bettelt. Haust mit anderen Obdachlosen in ­einer leer stehenden Villa mit Pool. Arbeitet bei einem Deutschen auf dessen Weingut und darf im Gegenzug dort mietfrei wohnen. Und lernt eines Tages eine Einheimische kennen. Die beiden verlieben sich, bekommen ein Kind, ziehen gemeinsam nach Hamburg und heiraten dort. Doch das Glück währt nur kurz: „Sie war so eifersüchtig, ich habe es irgendwann nicht mehr aus­gehalten“, erzählt Günther. Es ist nicht das erste Scheitern: Schon als 20-Jähriger bekommt er mit seiner damaligen Freundin eine Tochter. Die Beziehung ­zerbricht schon vor der Geburt. In Günthers Augen ist seine Mutter schuld daran. Sie habe damals ­nebenan gewohnt und „wegen jeder Kleinigkeit Stress gemacht“. Was er dazu beigetragen hat, dass seine Beziehungen zerbrachen, sagt er nicht.

Aber der ehemalige Vagabund weiß, dass er kein einfacher Mensch ist. „Ich hab ’ne offizielle Klatsche“, sagt er. Der Fachbegriff für die Besonderheiten, die Ärzte bei ihm festgestellt haben, fällt ihm zunächst nicht ein. Stattdessen erzählt er, wie es dazu kam, dass er angeblich lebenslang Hausverbot beim Jobcenter erhielt: Einen ganzen Vormittag habe er dort warten müssen, um kurz vor der Schließung des Amtes festzustellen, dass er seinen Personal­ausweis vergessen hatte. Ohne Ausweis kein Geld, habe der Sachbearbeiter daraufhin nur gesagt. Da sei er ausgerastet: „Ich habe rumgebrüllt und gegen eine Tür getreten. Aber ich habe niemanden verletzt.“

Er wird in eine Tagesklinik geschickt und zu Psychologen – und schließlich für arbeitsunfähig erklärt. Seitdem bekomme er eine kleine Rente. Zusammen mit dem, was er durch den Verkauf von Hinz&Kunzt verdient, reiche das zum Leben. ­Irgendwann beim Erzählen fällt ihm der Begriff ein, der sein Wesen beschreiben soll: „Narzissmus.“ Stimmt das? Er unterbreche andere oft beim ­Reden, sagt er. „Das ist aber keine Absicht.“ Er könne durchaus schweigen. Dafür müsse man ihm aber sagen: „Günther, jetzt musst du mal zuhören!“

Unter den Vordächern der Hütte lagern Holzbalken, Wassertanks und Stromgeneratoren. „Ich habe anfangs zu viele Baustellen gleichzeitig auf­gemacht“, sagt Günther. Wenn er von seinen Plänen erzählt, spürt man schnell: Der Mann ist ein Bastler mit Ideen. Solarpaneele auf dem Dach sollen eines Tages Strom erzeugen, eine Filteranlage Regen- in Trinkwasser verwandeln. Erst mal allerdings will er das Dach erneuern. „Und wenn die Hütte fertig ist, baue ich den kaputten Ofen vor der Tür zum Grill und Pizzaofen um.“

Der Kontakt zur jüngeren Tochter ist bis heute schwierig. Manchmal, sagt Günther, fällt ihm ein, dass er „die Kleine“ gerne anrufen würde. Dann schaue er auf die Uhr und stelle fest, dass es schon wieder zu spät am Abend sei für ein Telefonat. ­Immerhin, die Weihnachtstage wird er nicht ­alleine verbringen: Seine ältere Tochter hat ihn ein­­ge­laden, sie und ihre drei Kinder zu besuchen. Er freut sich darauf, sagt Günther. Das Festessen hat er schon im Kopf: „Ich werde Ente zubereiten.“

Artikel aus der Ausgabe:

Zuhause gesucht!

Unserer Gesellschaft fehlt der soziale Zusammenhalt? Das Gefühl scheint aktuell weit verbreitet. Wir haben das Projekt „Tausch & Schnack“ in Hamburg-Eimsbüttel besucht und mit dem Wissenschaftler Thomas Lux über die Kraft von sogenannten Triggerpunkten gesprochen und festgestellt: Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland ist gar nicht so klein. Außerdem: Weihnachten steht vor der Tür und wir bei Hinz&Kunzt haben bereits begonnen uns darauf einzustimmen. 

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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