Kommentar : Wir müssen das hinkriegen – für alle!

Der politische Wille muss da sein, damit Obdachlose und Flüchtlinge künftig nicht auf der Strecke bleiben, fordert Hinz&Kunzt-Chefredakteurin Birgit Müller in unserer Oktober-Ausgabe.

Bim
„Den politischen Willen, Obdachlose unterzubringen, den gibt es eben nicht“, kritisiert Chefredakteurin Birgit Müller.

(aus Hinz&Kunzt 272/Oktober 2015)

Freunde fragen mich manchmal, ob es uns bei Hinz&Kunzt frustriert, wenn sie oder andere sich jetzt intensiv für Flüchtlinge engagieren – und die Obdachlosen so ins Hintertreffen geraten.

Nein, dass sich so viele um die Neuankömmlinge kümmern und offen für sie sind, finde ich richtig toll. Das macht mir Mut für die Zukunft. Das geht übrigens nicht nur mir so, sondern auch anderen im Team. Ein Kollege ist ganz aktiv als Flüchtlingshelfer. Auch viele Obdachlose und Ex-Obdachlose engagieren sich – in den Messehallen und anderswo.

Und die Obdachlosen sind nicht ins Hintertreffen geraten. Sie waren es schon, bevor die Flüchtlinge kamen. Denn jetzt wird erst so richtig deutlich, was alles möglich ist, wenn eine ganze Stadt sich anstrengt. Hamburg hat 26.000 Menschen untergebracht. Mehr schlecht als recht, aber immerhin. Politiker, Behördenmitarbeiter, Mitarbeiter der Unterkünfte, Freiwillige – sie arbeiten bis an den Rand der Erschöpfung. Detlef Scheele (SPD), der im September noch Sozialsenator war, platzte in der Bürgerschaft sogar der Kragen, als die ignorante AfD die Not der Flüchtlinge kleinredete: „Machen Sie die Augen auf, Himmel, Arsch und Zwirn!“

Diese Meisterleistung einer ganzen Stadt, dieses „Himmel, Arsch und Zwirn“ begeistern mich. Und machen mich gleichzeitig ein bisschen neidisch. Warum wird das Thema Obdachlosigkeit nicht mit derselben Power angepackt?

Wir kommen uns schon vor wie die letzten Jammerlappen, wenn wir gebetsmühlenartig wiederholen, dass es keine bezahlbaren Wohnungen oder Unterkünfte mehr gibt. Und mit den Jahren jammern wir auf einem immer niedrigeren Niveau. Früher forderten wir bezahlbaren Wohnraum für Obdachlose, dann wenigstens Einzelzimmer in Unterkünften, jetzt: dass sie überhaupt ein Bett bekommen. Und neulich, der Tiefpunkt: dass sie in einer verdreckten Ecke liegen bleiben dürfen, weil die immerhin überdacht ist.

Aber den politischen Willen, Obdachlose unterzubringen, den gibt es eben nicht. Trotz aller Sympathie-Bekundungen. Das schürt den Verteilungskampf, und so wird eine Gruppe von Menschen in Not gegen die andere ausgespielt. Das macht sich natürlich auch bei uns im Projekt bemerkbar.

Neulich mussten wir einen Hinz&Künztler rausschmeißen. „Pack“, hatte der gebrüllt, mit allem Hass, den er gerade zur Verfügung hatte. Die Flüchtlinge seien „ein PACK“ …

Konflikte dieser Art sind wir gewohnt. Hinz&Kunzt ist ein Kooperationsprojekt – zwischen Menschen, die schon als Kinder Rückhalt hatten und solchen, die nie auf Rosen gebettet waren. Je weniger einer vom Leben bekommen hat, desto weniger hat er oft auch zu geben. Binsenweisheit: Je weiter unten einer steht, desto größer der Wunsch, dass unter ihm noch einer stehen müsse. Das mag ihm Sicherheit geben. Das alles können wir verstehen, aber nicht tolerieren.

Entsprechend berührt sind wir, wenn Menschen aus unseren Reihen sich eben nicht ausspielen lassen und sich sogar noch für andere engagieren. Das erleben wir derzeit eben auch.

Denn Fakt ist: Allen geht es schlecht. Den Flüchtlingen – und den rund 2000 Obdachlosen und EU-Wanderarbeitern, von denen gerade niemand mehr spricht. Alle brauchen ein Dach über dem Kopf – menschenwürdig und ohne Wenn und Aber.

Unser Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer ist angesichts der Hamburger Hilfsbereitschaft sogar ganz zuversichtlich: „Wer 26.000 Menschen unterbringen kann, der kann auch 28.000 Menschen unterbringen“, sagt er. Wenn man es hinkriegen will!

Text: Birgit Müller
Foto: privat