Noch mal davongekommen

Wie eine Behindertengruppe wegen Ein-Euro-Jobbern fast die Arbeit verloren hätte

(aus Hinz&Kunzt 147/Mai 2005)

Sie sammeln Müll, harken Laub und legen Wege an im Stadtpark: 20 behinderte Menschen aus den Winterhuder Werkstätten. Seit vielen Jahren machen sie das. Doch plötzlich sind sie zu teuer, das Bezirksamt Nord will sparen. Sind die Ein-Euro-Jobber schuld?

German Pump hat einen feinen Sinn für Ironie. „Wir haben erfolgreich ein Minus ausgehandelt“, sagt der Abteilungsleiter vom Landesbetrieb Winterhuder Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WWB). Vor wenigen Tagen erst hat er den Vertrag mit dem Bezirksamt Nord in trockene Tücher gebracht. Statt 72.000 Euro jährlich bekommen die Werkstätten künftig nur noch 40.000 Euro dafür, dass sie täglich mit einer 20 Mann starken Gartengruppe im Stadtpark unterwegs sind. „Wir haben Glück gehabt“, meint der 47-Jährige, zwischenzeitlich habe er befürchtet, den Auftrag ganz zu verlieren.

Angefangen hat alles Ende Januar, so Pump. Das Gartenbauamt habe signalisiert, die Behinderten gerne weiter beschäftigen zu wollen – „doch für sehr viel weniger Geld“. In den Gesprächen sei auf die Sparvorgaben des Senats und die Verpflichtung verwiesen worden, Angebote mehrerer Anbieter einholen und das günstigste wählen zu müssen. „Die Konkurrenz waren Beschäftigungsträger mit ihren Ein-Euro-Jobbern“, glaubt Pump nach Recherchen. Das Bezirksamt Nord bestreitet einen direkten Zusammenhang: „Es gab kein Konkurrenzangebot zu den Tätigkeiten der WWB im Stadtpark“, erklärt Sprecher Peter Hansen. Seit mehr als zehn Jahren arbeite der Bezirk mit den Werkstätten „gut nachbarschaftlich“ zusammen: „Wir sind begeistert von der Einsatzfreude und Ausstrahlung dieser Menschen.“

Doch räumt der Bezirksamts-Sprecher ein: „Durch die Ausweitung der Ein-Euro-Jobs werden bisherige Maßnahmen natürlich in einem anderen Licht gesehen.“ Den Bezirken liege derzeit eine Behördenanfrage vor, inwieweit sie sich Beschäftigungsfelder für Ein-Euro-Jobber vorstellen können. Und da schon die Stadt Sozialhilfeempfänger gemeinnützig arbeiten ließ, haben die preiswerten Arbeitslosen die Gartenbauabteilungen längst erreicht. Im Bezirk Nord, so Hansen, sind derzeit 35 Ein-Euro-Kräfte in den Grünanlagen unterwegs. Betreut werden sie von Beschäftigungsträgern, „eigene Ein-Euro-Kräfte haben wir nicht mehr.“ Derweil gehen feste Arbeitsplätze verloren: 15 der vormals 100 Arbeiter-Stellen sparte der Bezirk in den vergangenen fünf Jahren im Grünbereich ein.

Laut Winterhuder Werkstätten soll ein Beschäftigungsträger angeboten haben, die Tätigkeiten der Behindertengruppe für 20.000 Euro jährlich zu übernehmen. Erst nach Appellen an die moralische Verpflichtung des Bezirks, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen, hätten die WWB den Zuschlag bekommen. Die wollen die Löhne der behinderten Mitarbeiter trotz der finanziellen Einbußen nicht kürzen. Doch bei der berufsbegleitenden Qualifizierung zum Beispiel werde man wohl sparen müssen. Geschäftsführer Wolfgang Pritsching: „Wenn es zu einem Verdrängungskampf zwischen Gruppen benachteiligter Menschen kommt und diese sich gegenseitig im Preis nach unten drücken, ist das bitter.“

Ulrich Jonas

Wie hält’s Hinz&Kunzt mit den Ein-Euro-Jobbern?
Nach all der kritischen Berichterstattung über die Ein-Euro-Jobs fragen Sie sich jetzt sicher, wie wir es bei Hinz&Kunzt damit halten. Wir sind genau in der gleichen Bredouille wie andere soziale Projekte auch: wenig Geld und viel zu tun.

An unserem Kaffeetresen im Vertrieb haben bislang einige Hinz&Künztler gejobbt. Andreas – wie die meisten – für lau, und Frank wurde für zehn Stunden bezahlt. Jetzt bekommen beide 1 Euro pro Stunde und dürfen 30 Stunden bezahlt arbeiten. Die Arbeit ist zusätzlich, und es wird auch niemandem sein Arbeitsplatz weggenommen. Im Gegenteil: Unbezahlte Arbeit wird jetzt besser bezahlt. Aber was passiert nach zehn Monaten? Geld, die beiden fest anzustellen, haben wir bislang nicht…

Ein richtiger Problemfall: Im Sekretariat bräuchten wir dringend eine 20-Stunden-Kraft, das Geld hätten wir vor der Einführung des Ein-Euro-Programms ausgeben müssen. Jetzt sieht die Sache anders aus: Wir könnten auf Kosten eines potenziellen Arbeitnehmers sparen und eine Ein-Euro-Kraft beschäftigen. Ein echtes Dilemma, das wir derzeit heiß diskutieren.

Birgit Müller

Aufopfern als Lebensinhalt

„Spiegel“-Reporter Bruno Schrep über eine 76-jährige Mutter, die 52 Jahre lang ihre schwerbehinderte Tochter pflegte – und sie dann tötete

(aus Hinz&Kunzt 194/April 2009)

Um ihr einen Heimaufenthalt zu ersparen, tötete die 76-jährige Anna D. ihre hilflose Tochter Johanna. Zuvor hatte sie die körperlich und geistig schwer behinderte Tochter über 52 Jahre lang gepflegt. Jetzt wurde die Frau wegen Totschlags zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.

„Ich hab mein Kind nie allein gelassen“, beteuert die kleine, zerbrechlich wirkende Frau mit leiser Stimme, „ohne mich war sie doch völlig hilflos.“ Und, etwas lauter: „Was wissen denn schon die andern?“
Zusammengesunken sitzt Anna D. in einem Anwaltsbüro in der Hamburger Hochhaussiedlung Steilshoop, auf dem Schoß eine blaue Akte, neben sich ihren hochbetagten Ehemann. 76 Jahre ist sie alt, angeklagt wegen Totschlags.
Ende vorigen Jahres erstickte Anna D. ihre schwerbehinderte Tochter Johanna mit einer Plastiktüte. Zuvor hatte sie die Tochter ein Leben lang betreut und gepflegt, über 52 Jahre. Von morgens bis abends, Tag und Nacht. Ohne fremde Hilfe. Immer. Als sie nicht mehr konnte, als die Kraft nicht mehr reichte, sah sie für sich und Johanna keinen Ausweg mehr.
Die Tragödie bahnte sich lange an, mehr oder weniger vor den Augen der Öffentlichkeit. Viele wussten um die Probleme der Familie D.: Ärzte, Juristen, Behördenmitarbeiter, Hausbewohner. Doch niemand traute sich, Alarm zu schlagen. Nicht aus Feigheit oder Gleichgültigkeit, sondern weil sich Anna D. seit vielen Jahren jede Einmischung verbat. Sie wollte sich nicht helfen lassen.
Der tragische Fall, schon von der zeitlichen Dimension wohl einmalig in Deutschland, erweitert die Diskussion um das Thema Sterbehilfe um ein weiteres Kapitel. Wann hört das Schicksal von Behinderten und ihren Angehörigen auf, Privatsache zu sein? Hätte von außen eingegriffen werden sollen? Und wenn ja, wann und wie? Warum hat nicht ein Profi die Betreuung übernommen? Hätte die Tochter in einem Heim untergebracht werden müssen, gegen den Willen der Mutter?
Johanna kommt im Mai 1956 zur Welt. Die Hausgeburt in dem kleinen nordhessischen Ort verläuft problemlos, Arzt und Hebamme gratulieren zu einem gesunden Baby.
Doch als das Neugeborene zwei Tage später plötzlich zittert, um sich schlägt, Schaum vor dem Mund bekommt, nicht mehr zu schreien aufhört, ist klar, dass etwas nicht stimmt. Über ein Vierteljahr wird Johanna in einem Kasseler Krankenhaus untersucht, die Diagnose ist nicht eindeutig. „Wahrscheinlich ein Sauerstoffmangel bei der Geburt“, vermutet einer der Kinderärzte und raubt den Eltern gleichzeitig jede Hoffnung: „Dieses Kind wird bald sterben.“

„Aber sie ist nicht gestorben“, sagt Anna D. heute, „ich habe sie nicht sterben lassen.“
Die gelernte Schneiderin kennt ab sofort nur noch ein Ziel: der Tochter das Überleben zu sichern, ihr das Dasein so schön wie möglich zu gestalten. Alle anderen Zukunftspläne sind plötzlich zweitrangig. Weitere Kinder, wie eigentlich geplant, werden gestrichen. Das Sparen für ein eigenes Haus ist Vergangenheit.
Johannas Entwicklung rechtfertigt alle Befürchtungen. Je älter sie wird, desto deutlicher werden ihre schweren körperlichen und geistigen Mängel. Das Mädchen zieht das rechte Bein nach, bewegt sich nur mit fremder Hilfe und mühsam hinkend vorwärts. Es kann nicht räumlich sehen, stolpert oft. Versucht zu sprechen, schafft aber außer Mama und Papa nur wenige undeutlich gestammelte Worte. Lernt nie lesen oder schreiben, bleibt zeitlebens im Stadium einer Zwei- bis Dreijährigen.
Auch die Bewältigung des Alltags bedeutet eine tägliche Herausforderung. Johanna kann sich nicht allein waschen, nicht allein anziehen, nicht allein zur Toilette gehen. Ihr Schicksal spricht sich herum. Im Ort wird über das komische Mädchen getuschelt, das so seltsam geht und noch seltsamer aussieht, immer von der Mutter geführt werden muss. Die D.s sind plötzlich Außenseiter.
Vier Jahre nach Johannas Geburt halten es die Eltern in der Provinz nicht mehr aus. Vater Karl-Heinz D., ein Zollbeamter, lässt sich nach Hamburg versetzen. In der Hansestadt, hat die Mutter in einer Zeitschrift gelesen, gebe es neue Förderungsmöglichkeiten für behinderte Kinder, bessere Behandlungsmöglichkeiten, sogar spezielle Schulklassen.
Hamburger Ärzte und Universitätsprofessoren untersuchen die Kleine, können jedoch nicht helfen, wirken ratlos. Diagnose- und Therapiemöglichkeiten sind Anfang der 60er- Jahre längst nicht so weit wie heute, Erfolge in der Medizin werden im aufstrebenden Nachkriegsdeutschland vor allem an chirurgischen Pioniertaten, wie etwa spektakulären Organverpflanzungen, gemessen.
Auch die Eingliederung von Behinderten in Kindergärten, Schulen und den Berufsalltag steht noch ganz am Anfang, die meisten leben unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Heimen. Immerhin: Anna D. macht für die Tochter eine Schule ausfindig, in der Kinder mit einem Handicap gemeinsam unterrichtet werden. Weil die meisten Mitschüler jedoch weniger schwer beeinträchtigt sind, wird Johanna oft gehänselt und drangsaliert, kann nicht bleiben.

„Sie haben ihr die Finger rumgedreht, bis es geknackt hat“, erinnert sich Vater Karl-Heinz D.

Die Mutter, damals Anfang 30, glaubt zu diesem Zeitpunkt noch an einen gemeinsamen Kampf mit Schicksalsgefährten. Sie organisiert eine private Behindertengruppe, versucht andere Mütter zum Mitmachen zu motivieren, entwirft Programme, hat große Pläne. Als das Projekt nach einem Jahr scheitert, reagiert sie verbittert. Der etappenweise Rückzug beginnt.
Zwar versuchen die Eltern noch zwei-, dreimal, die Tochter zumindest vorübergehend in einem Heim unterzubringen, zumindest für ein paar Stunden, ein paar Tage. Kein Haus genügt jedoch nur annähernd den Ansprüchen von Anna D. Die Enttäuschung über vermeintlich mangelnde Pflege und Betreuung sitzt tief.
Vor allem bei der Mutter, die ohnehin die Hauptlast trägt, verfestigt sich mehr und mehr die Überzeugung, dass nur sie allein genau weiß, was für Johanna gut und richtig ist. Tatsächlich kennt niemand besser die Bedürfnisse der Tochter, vermag sie niemand schneller zu trösten oder zu beruhigen.
Anna D. lässt sich zum Vormund einsetzen, kann seitdem über das Schicksal der Tochter allein bestimmen. 1978 bricht sie die Kontakte zu Behörden und Behinderteneinrichtungen weitgehend ab. Da ist Johanna 22 Jahre alt.
„Sicher keine gute Entscheidung“, glaubt Martin Eckert, Geschäftsführer des Vereins „Leben mit Behinderung Hamburg“, einer Selbsthilfeorganisation von über 1300 betroffenen Angehörigen. Eckert, selbst Vater einer 33-jährigen behinderten Tochter, versteht zwar noch im Nachhinein den Frust der Familie D., kennt die Erfahrung, sich mit seiner Not weitgehend allein gelassen zu fühlen. Trotzdem glaubt er: „Die Eltern haben zu früh resigniert.“
Tatsache ist: Ausgerechnet 1978, als Anna D. sich jede Hilfe von außen verbittet, wird in Hamburg eine der ersten Wohngruppen für junge Behinderte gegründet. Und spätes­tens seit den 80er-Jahren setzt sich in Deutschland mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass die Chancen von Behinderten steigen, wenn sie auch außerhalb der Familie gefördert werden.
In Großstädten wie Hamburg entstehen neue Werk- und Tagesstätten, versuchen speziell ausgebildete Lehrer, verborgene Fähigkeiten zu wecken, auch Schwerbehinderten Möglichkeiten zu eröffnen, sich unabhängig vom Elternhaus weiterzuentwickeln, mit Gleichaltrigen zusammenzuwohnen, zusammenzuarbeiten.
„Ein 20-Jähriger ohne Behinderung kann sich aus eigener Kraft von den Eltern freibeißen“, sagt Experte Eckert, „ein behinderter 20-Jähriger kann das nicht.“ Deshalb sei Loslassen so wichtig – für beide Seiten. „Auch ihr habt ein Recht auf ein eigenes Leben“, bläut Eckert klammernden Eltern ein, „denkt auch an euch, denkt an eure Partnerschaft.“ Immer wieder warnt er auch vor Selbstaufgabe:

„Hört auf, das Aufopfern zum Lebensinhalt zu machen.“

Genau auf diesen Punkt steuert die Familie D. zu. Jahrzehntelang dreht sich das Leben nur noch um die behinderte Tochter.
Wenn Vater Karl-Heinz D. nach dem Dienst nach Hause kommt, liest er Johanna erst mal zwei Stunden vor, später löst ihn seine Frau ab. Um die längst erwachsene Tochter nicht zu irritieren, bleibt die Lektüre fast immer gleich: die Märchen der Brüder Grimm und die Geschichten von Astrid Lindgren, vor allem die „Kinder aus Bullerbü“. „Nach 30 Jahren kannte sie jede Zeile auswendig“, berichtet der Vater, „wenn ich einen Fehler machte, protestierte sie sofort.“
Mutter Anna D. packt noch mit über 50 Jahren die Führerscheinprüfung, kauft ein Auto. Zweimal pro Woche fährt sie mit der behinderten Tochter zum Schwimmen, einmal zur Krankengymnastik, einmal zur Massage. Mehr schafft sie nicht.
Weil Johanna Unterhaltungsmusik liebt, bei Schlagerklängen entspannt wie sonst nie jauchzt und lacht, scheuen die Eltern keine Kosten, um ihr eine Freude zu machen. Wenn im Hamburger Congress Center die Blaskapellen vom „Musikantenstadl“ aufspielen oder das „Fest der Volksmusik“ gastiert, sitzt Anna D. mit ihrer Tochter immer in der ersten Reihe.
Vater und Mutter leben äußerst bescheiden, das Geld von der Pflegeversicherung und andere Einnahmen gehen fast ausschließlich für Johanna drauf. In ihrem Zimmer stapeln sich Schallplatten, Filme und handgefertigte Puppen, es gibt hochwertige Lautsprecherboxen, ein teures Fernsehgerät.

„Das Beste ist für Johanna gerade gut genug“, sagt die Mutter, „das hat sie verdient.“

Die Kontakte zu anderen werden immer weniger. Weil sich die Tochter vor Fremden fürchtet, laden die Eltern keine Freunde mehr ein. Die einzigen Verwandten leben in Hessen, sind weit weg. Mit den Nachbarn im vierstöckigen Mehrfamilienhaus grüßt man sich nett, mehr nicht. „Es war eine sehr, sehr eingeschränkte Existenz“, sagt Anna D. rückblickend.
Hilfsangebote lehnt sie freundlich, aber bestimmt ab. Die Familie lebt zwar inmitten vieler Menschen, dennoch isoliert in einer total abgeschotteten eigenen Welt. Als beide Eltern krank werden, gerät diese Welt in Unordnung. Die Familie driftet unaufhaltsam auf das düstere Finale zu.
Anna D., vom jahrelangen Heben und Stemmen der Tochter gezeichnet, bekommt ein chronisches Rückenleiden. Die schmächtige Frau, keine 1,60 Meter groß, kann nicht mehr gerade gehen, braucht ein Spezialbett, schluckt ständig Schmerzmittel. Täglich wird es ihr mühsamer, Johanna aus dem Bett zu hieven, anzukleiden, zu führen. Hausbewohner kriegen mit, wie endlos lange es dauert, wenn sich Mutter und Tochter die Treppe heraufquälen, Johanna schwer auf die Mutter gestützt.
Hinzu kommt, dass Vater Karl-Heinz D., inzwischen längst pensioniert, immer mehr abbaut, seine Frau nicht wie früher bei der Pflege unterstützt. Obwohl er zuckerkrank ist, starke Medikamente einnehmen muss, keinen Alkohol trinken soll, greift er immer häufiger zur Flasche, will das Elend um ihn herum vergessen. Manchmal schafft er es nicht mehr von der Straße bis zur Wohnung, die Ehefrau muss ihn nach oben bringen.
Im Rausch kommt es vor, dass er, früher undenkbar, seine behinderte Tochter lautstark beschimpft, in der Wohnung herumbrüllt. Bei einem Krankenhausaufenthalt im Oktober 2008 diagnostizieren die Ärzte bei dem 80-Jährigen eine beginnende Demenz. „Plötzlich hatte ich zwei Pflegefälle“, erinnert sich Anna D., „das war nicht mehr zu schaffen.“
Die inzwischen 76-Jährige zieht Bilanz, ganz allein, ohne mit irgendjemandem zu sprechen. Beschließt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Und die Tochter? Die soll mit ihr zusammen sterben.

„Ich konnte sie doch nicht in ein Heim geben, nach 52 Jahren“, rechtfertigt die Mutter ihre Entscheidung, „dazu hab ich sie zu sehr geliebt.“

Am 29. November, einem Samstag, gucken Mutter und Tochter abends gemeinsam Fernsehen, es gibt das „Adventsfest der Volksmusik“ mit dem Sänger Florian Silbereisen, den Johanna besonders mag. Sie ist gut gelaunt, versucht sogar mitzusingen. Wie immer wird sie von der Mutter zu Bett gebracht, wie immer bekommt sie noch eine Geschichte vorgelesen, wie immer bekommt sie ihre blonde Lieblingspuppe in den Arm gelegt. Dann geschieht etwas, das sie nicht kennt.
Schon seit vielen Jahren ist Anna D. Mitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, einer Organisation, die in Broschüren und im Internet Infos zum selbstbestimmten Suizid verbreitet, Patientenverfügungen verschickt, Sterbebegleitung anbietet. Über diese Organisation hat sie sich eine „Exit Bag“ schicken lassen, einen durchsichtigen Plastiksack mit verschließbarer Halskrause, der bei vorschriftsmäßiger Anwendung zunächst Atemnot auslöst, später infolge Sauerstoffmangels zum Tod führt. Diese Tüte stülpt Anna D. der Tochter über den Kopf, zieht den Verschluss fest zu. „Sie lag ganz still da, hat sich nicht gewehrt“, erinnert sich die Mutter, „sie hielt das Ganze wohl für ein Spiel. Ich konnte durch die Tüte noch ihr Gesichtlein sehen, sie hatte die Augen offen.“ Der Vater, der auf dem Wohnzimmersofa schläft, kriegt von alledem nichts mit.
Als Johanna nicht mehr atmet, schneidet sich Anna D. mit einer Schere und einem Küchenmesser die Pulsadern auf, wartet auf den Tod – vergebens. Die Blutung lässt schon bald nach, auch ein zweiter Versuch misslingt. Die Mutter muss weiterleben.

„Das ist die schlimmste Strafe“, sagt sie heute.

Erst am Montagmorgen, 36 Stunden nach ihrer Tat, informiert Anna D. ihren Hausarzt. „Ich habe was ganz ganz Schlimmes gemacht“, gesteht sie, bittet ihn, die Polizei zu alarmieren. „Warum haben Sie denn so lange gewartet?“, fragt eine der Beamtinnen. Antwort: „Ich hatte Angst, Johanna könnte wiederbelebt werden.“
Der Haftrichter lässt die Mutter, die alles gesteht, nach ausführlicher Vernehmung frei, sie darf – nach kurzem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik – schnell wieder nach Hause. Vater D., der auf die Polizisten einen verwirrten Eindruck macht, nicht orientiert scheint, kommt in ein Seniorenheim. Wie lange er dort bleiben muss, ob er eventuell wieder zurück in die Wohnung kann, ist noch offen. Zum Termin beim Anwalt hat er Ausgang bekommen.
„Niemand will doch im Ernst, dass diese alte Frau noch mal ins Gefängnis muss“, glaubt Norbert Müller, der Hamburger Verteidiger von Anna D. Als Indiz dafür wertet der Jurist, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft seine Mandantin nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags anklagte, sogar das Mordmerkmal der Heimtücke ausdrücklich verneinte.
Zur Heimtücke gehöre mindestens, dass ein Täter in „feindseliger Willensrichtung“ agiere, argumentierte der Staatsanwalt. Anna D. dagegen habe zweifelsfrei „aus altruistischen Motiven“ und „zum vermeintlich Besten ihrer Tochter“ gehandelt. Wegen der „außergewöhnlichen Umstände“ und der „Persönlichkeit der Beschuldigten“ beschränkte sich der Ermittler deshalb auf eine Anklage wegen Totschlags in einem minder schweren Fall.
Anna D. hat ihre Tochter auf dem Hamburger Hauptfriedhof anonym bestatten lassen.

„Das sind richtige Schicksale“

Das Spendenparlament fördert gemeinnützige Projekte. Aber inzwischen wenden sich immer mehr Einzelpersonen in ihrer Not an den Verein

(aus Hinz&Kunzt 171/Mai 2007)

Fast 316.000 Euro hat das Hamburger Spendenparlament auf seiner jüngsten Sitzung Ende März an soziale Organisationen verteilt. Damit konnte der Verein den höchsten Betrag seit seiner Gründung vor elf Jahren weiterreichen. Doch obwohl das Spendenparlament nur gemeinnützige Projekte unterstützt, gehen immer mehr Anträge von Einzelpersonen in Not ein. Hinz&Kunzt sprach darüber mit dem Vorsitzenden der Finanzkommission, Erich Wanko (60).

Brieffreundschaft mit Handicap

Der ungewöhnliche Kontakt zwischen Behinderten in Hamburg und St. Petersburg

(aus Hinz&Kunzt 171/Mai 2007)

Wohnanlage Am Frankenberg in Harburg, ein lichtdurchflutetes Zimmer im dritten Stock. Regina Köbnick (49) sitzt im Rollstuhl am Tisch und hält einige Briefe in der Hand. Ihr Mitbewohner Peter Alles (27) kommt dazu, klemmt seinen Blindenstock in einer Halterung am Tisch fest und breitet Geschenke aus, die er bekommen hat: Holztiere zum Zusammensetzen, gestrickte Handschuhe, Bilder.

„Sooo schön ist das hier!“

Behinderte und Nicht-Behinderte erobern den Alsterdorfer Marktplatz

Köstliche Häppchen. Melone und Ananas liegen mundgerecht geschnitten auf dem Probierteller eines Obststandes. Immer wieder greift Bernd Trape* zu. Ohne große Mühe erreicht er von seinem Rollstuhl aus die süßen Früchte. Den ermahnenden Blick des Obsthändlers ignoriert er. Wie lange er auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung Alsterdorf lebt, weiß er nicht genau. „Der ist später gekommen“, mischt sich der kleine weißhaarige Mann neben ihm ein. Er selbst sei schon 60 Jahre hier, prahlt er und greift ebenfalls zu.

„Ich hab’s mir schlimmer vorgestellt“, sagt der Obsthändler Jörg Ebeling. „Für uns alle ist das eine neue Erfahrung“, fügt er schnell hinzu und schickt erneut einen ermahnenden Blick in Richtung Bernd Trape. Der greift unbeeindruckt zum nächsten Stück Ananas.

Seit dem 5. September steht Jörg Ebeling mit seinem Obststand jeden Freitag auf dem neuen Alsterdorfer Markt. Nach dreijähriger Bauzeit ist auf dem Gelände der Evangelischen Stiftung Alsterdorf ein offener, großzügiger Marktplatz entstanden. Neben Ärztehaus und Geschäften werden demnächst auch der Fahrradladen „Alsterspeiche“ und das Atelier „Lichtzeichen“ ihre Räume beziehen. Mit der Umgestaltung hat die Stiftung, die seit 140 Jahren Menschen mit Behinderungen betreut, ihr ehemals abgeschlossenes Gelände zum Stadtteil hin geöffnet. Ein bundesweit einzigartiges Projekt. Ganz bewusst soll der neue Platz Menschen ohne Behinderung anlocken – zum einen mit den neuen Läden und dem Ärztehaus, zum anderen mit der noch im Umbau befindlichen Kulturwerkstatt, die sich zum Stadtteilzentrum entwickeln soll.

Kulturwerkstattleiter Martin Rand koordiniert rund 30 Mitarbeiter der Stiftung, die auf dem Platz präsent sind und bei Problemen und Konflikten zwischen Menschen mit und ohne Behinderung helfen sollen. „Patrouille ist ein schlechtes Wort“, sagt er. Die Erfahrungen der ersten Wochen sind gut: Es gab sehr wenige Probleme und in den letzten beiden Wochen sind Martin Rand und seine Mitarbeiter kaum noch gerufen worden. Fast immer seien es „einfache Kommunikationsprobleme“ zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, bei denen die „Platzmanager“ face to face vermitteln, berichtet er. Die Leitlinie seines Handelns formuliert er einfach und klar: „Ich möchte nicht, dass ein Mensch mit Behinderung anders behandelt wird als einer ohne.“

Einmal habe ein Behinderter einem anderen Kunden einen Muffin vom Teller geklaut, berichtet Andrea Eickhoff vom mobilen Kaffeestand. „So etwas geht natürlich nicht“, sagt die 38-Jährige. Doch solche Kleinigkeiten amüsieren sie mehr, als dass sie sie schrecken: „Ich bin gerne hier, es ist eine gute, eine besondere Atmosphäre.“

„Wir mussten aufhören, Anstalt zu sein – keine Gettoisierung mehr“, sagt Andreas Frost. Der 47-Jährige leitet eines der vier neuen Appartementhäuser, die am Marktplatz gebaut wurden. Jeweils 24 Behinderte leben auf zwölf Wohnungen verteilt in einem Haus. Im Erdgeschoss befindet sich eine so genannte Agentur. Hier arbeiten Heilerzieher und Sozialpädagogen. Sie unterstützen die Bewohner im alltäglichen Leben. Die neue Wohnform soll Selbstständigkeit, Autonomie und persönlichen Freiraum der behinderten Menschen fördern. Das sei für alle, auch für die Mitarbeiter der Stiftung, ein „Umlernen und müh- sames Rausarbeiten aus der eigenen Vergangenheit“, sagt Andreas Frost.

„Sooo schön ist das hier“, ruft Erika Müller gleich dreimal hintereinander und lacht. Gemeinsam mit ihrem Freund bewohnt die rundliche 50-Jährige eine der neuen Wohnungen: zwei Zimmer, Wohnküche, Duschbad und ein schöner Blick auf den Marktplatz. An den Wänden Fotos und Bastelarbeiten. Sie ist begeistert von ihrer neuen Wohnung und den vielen Geschäften. „Ich hab’ mich auch viel mehr rausgemacht“, sagt sie und strahlt. Ihre Freude wird noch größer, als ihr Freund Karl-Heinz Steinert unerwartet früher nach Hause kommt. Herzlich und zärtlich begrüßen sie sich und albern herum wie Teenager. Als sie vor einem Jahr ins neue Appartementhaus umzogen, habe sie „ein bisschen Bammel gehabt“, sagt Erika Müller. Jetzt ist sie mehr als zufrieden: „Wir fühlen uns beide glücklich“, sagt sie und legt den Arm um ihren Liebsten: „Den nimmt mir keiner weg.“

Knapp 100, etwas weniger als ein Drittel der Bewohner des Geländes, sind in die neuen Wohnhäuser gezogen. Die anderen wohnen zum Teil noch in trostlosen kasernenartigen Hochhäusern. Wie Walter Uehr, der beim Obststand auf Bernd Trape und seinen Begleiter Ernst Bude* trifft. Heute will Walter Uehr nicht einkaufen, nur mal gucken auf dem Platz. „Donnerstags kriegen wir Verpflegungsgeld, und dann wird es gleich wieder ausgegeben“, sagt er und lächelt verschmitzt. Sein Lieblingsgeschäft ist Aldi. Der 87-Jährige kann sich noch an die Zeiten der Verwahrung, der Zäune und Tore erinnern, als jeder einen Ausgangsschein brauchte, um das Gelände zu verlassen. „Tausendmal besser als früher“ findet er den neuen Platz. Schade sei nur, dass er zurzeit keine Werkstatt habe. So könne er gerade keine Flugzeugmodelle bauen.

In der Apotheke am Platz ist eines seiner begehrten Modelle zu sehen: ein roter Doppeldecker. Hoch in die Luft hält Walter Uehr sein Modell. Eine kräftige Windböe fegt über den Platz. Die Marktverkäufer springen nach ihren Schirmen. Der kleine Propeller dreht sich schneller und schneller. Gleich wird das Flugzeug abheben und eine Runde drehen über diesen besonderen Platz.

Annette Scheld

*Namen geändert

Jahr der Menschen mit Behinderungen
Das Jahr 2003 wurde von der Europäischen Union zum Jahr der Menschen mit Behinderungen ausgerufen. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Erst 1994 ist diese Ergänzung in Artikel 3 des Grundgesetzes, dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, aufgenommen worden. Doch trotz Benachteiligungsverbot können heute noch Behinderte aus Restaurants und Läden gewiesen werden, da es kein Antidiskriminierungsgesetz gibt.