Human Library

Mit Büchern sprechen

Christian (rechts) ist ein offenes Buch, wenn es um Obdachlosigkeit geht. Er kann Human-Library-Besucher Sven alle seine Fragen beantworten. Foto: Dmitrij Leltschuk
Christian (rechts) ist ein offenes Buch, wenn es um Obdachlosigkeit geht. Er kann Human-Library-Besucher Sven alle seine Fragen beantworten. Foto: Dmitrij Leltschuk
Christian (rechts) ist ein offenes Buch, wenn es um Obdachlosigkeit geht. Er kann Human-Library-Besucher Sven alle seine Fragen beantworten. Foto: Dmitrij Leltschuk

In der „Human Library“ sollen durch Gespräche Vorurteile abgebaut und Stereotype hinterfragt werden. Das Motto: Unjudge – enturteile.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Wer auf der Straße lebt, ist süchtig“, „sieht ungepflegt aus“, „ist gefährlich und kriminell“, „hat keine Bildung“ – die Liste möglicher Vorurteile gegenüber Obdachlosen ist lang. Was viele denken, aber kaum jemand ausspricht, ist im Bibliothekskatalog der Human Library aufgelistet. Mit einem Blick auf die entsprechende Seite nickt Human-Library-Besucher Sven zustimmend. „Ich habe da so eine innere Abwehr“, sagt der 47-Jährige ehrlich. Fragen habe er viele – aber jemanden einfach auf der Straße ansprechen? Das habe sich nie richtig angefühlt.

Genau dafür gibt es die Human Library – hier werden Menschen statt Bücher ausgeliehen. Wer seine Vorurteile gegenüber einem bestimmten Thema abbauen oder Fragen loswerden möchte, kann sich hier mit Menschen mit entsprechender Lebenserfahrung unterhalten.

20 menschliche Bücher stehen heute zur Ausleihe bereit: „pansexuell“, „schwarz“, „blind“,„bipolar“ – jeder „Buchtitel“ steht für eine Erfahrung, die in der Gesellschaft oft mit Stereotypen belegt ist. Die Bücher repräsentieren aber keine ganze Gruppe – es geht immer um persönliche Erfahrungen. Organisatorin Shirley Hartlage erklärt: „Wir fragen potenzielle Bücher vorher: ,Was ist deine Motivation? Wie stabil bist du?‘“ Während der Veranstaltung sind Shirley und ihr Team für die Bücher da – für den Fall, dass sich jemand unwohl fühlt, zum Beispiel falls ein:e Besucher:in respektlos war. „Das Wichtigste ist, dass sich alle sicher fühlen“, sagt die 52-Jährige.

Hier blieb kein Stuhl frei: Trotz Hitze war die Human Library gut besucht. Foto: Dmitrij Leltschuk
Hier blieb kein Stuhl frei: Trotz Hitze war die Human Library gut besucht. Foto: Dmitrij Leltschuk

Shirley lächelt zufrieden, als sich Besucher Sven zielstrebig für das Buch „ohne festen Wohnsitz“ entscheidet. „Wir alle haben Vorurteile“, sagt sie ermutigend. Bis zu viermal im Jahr wird Shirley zur Bibliothekarin der Human Library. Seit 2023 organisiert sie die Hamburger Ausgabe der menschlichen Bibliothek. Ihr Antrieb: Diskriminierung entgegentreten. Sie und ihre Kollegin Katharina Bloemberg arbeiten im sozialen Bereich, sind gut vernetzt und sprechen gezielt Menschen an, deren Themen unterrepräsentiert sind – alles ehrenamtlich. Eine staatliche Förderung gibt es nicht. Und doch: Der Andrang wächst. Immer mehr Menschen wollen ein Buch sein, wollen Fragen beantworten, um für mehr Toleranz zu sorgen.

Auf der Pinnwand hinter ihr wechselt Shirley das Schild „ohne festen Wohnsitz“ jetzt von „verfügbar“ zu „ausgeliehen“. Ihre Kollegin Katharina begleitet Besucher Sven zu zwei kleinen Stühlen im Schatten eines Bauwagens. Hier wird sich jetzt für 30 Minuten unterhalten – anstatt bewertet.

Es ist warm, die Luft flimmert. Die Stühle im Garten hinter der Trinitatis Kirche in Altona sind bald alle belegt. Unter den Girlanden zwischen den Bäumen surren Gespräche. Ein Plakat im Garten weist auf das Abweichen von der klassischen Regel hin: „Bitte nicht sprechen in der Bibliothek“ – das „nicht“ ist durchgestrichen.

Aus einem Pavillon, der als Rückzugsort für die Bücher dient, tritt ein großer, hagerer Mann.

„I am a book of the Human Library“ steht auf seinem T-Shirt. Er setzt sich zu Sven. „Ich bin dein Buch“, sagt er grinsend und stellt sich als Christian vor. Ein Vorurteil wäre damit schon mal aus dem Weg geräumt: Der Obdachlose ist gepflegt, sauber. Zudem entpuppt sich der 43-Jährige als aufgeschlossen und wortgewandt. Sven und er verstehen sich auf Anhieb. Die Stimmung ist gelöst. Sven traut sich die Fragen zu stellen, die ihm schon lange durch den Kopf gehen.

„Warum bist du obdachlos?“, fragt er. Christian antwortet ruhig: Er habe bei seinem Vater gelebt. Als das Haus abgerissen wurde, habe er auf der Straße gestanden. Eine eigene Wohnung? Zu teuer. Hilfe annehmen? Schwer. „Ich sagte mir, dass das schon okay so ist und ich frei bin – damit ich meine Scham nicht überwinden und nicht nach Hilfe fragen musste“, erinnert er sich. Dass Christian nicht konkreter wird, ist okay. In der Human Library entscheidet das Buch selbst, welche Fragen es beantworten will – und wo die Grenze ist. Ob er sich wünsche, wieder eine Wohnung zu haben? „Ja, klar“, sagt Christian sofort.

Sven fragt nach Rivalitäten um die Schlafplätze auf der Straße. Christian schüttelt denKopf: „Es gibt an vielen Orten Regeln.“ Zum Beispiel in der Mönckebergstraße: Jede:r schlafe dort an einem Stammplatz. Wer anderen die Platte wegschnappe, breche den Kodex.

Hat die Hamburger Ausgabe der Human Library mitaufgebaut: Shirley Hartlage, Foto: Dmitrij Leltschuk
Hat die Hamburger Ausgabe der Human Library mitaufgebaut: Shirley Hartlage, Foto: Dmitrij Leltschuk

Ein Vorurteil möchte Christian unbedingt ansprechen, auch ohne dass Sven danach fragt: „Die meisten Obdachlosen sind sehr ordentlich.“ Er nickt, um seinen Worten Ausdruck zu verleihen. „Ich stehe immer früh auf und mache meine Platte sauber. Das machen die meisten.“ Mehr Dreck machten oft andere: „Die Partyleute – die kommen vom Kiez, grölen, pinkeln irgendwohin. Da habe ich oft Angst, dass sie mir auf den Schlafsack machen.“ Sein Zuhörer nickt verständnisvoll.

„Hast du das Gefühl, wahrgenommen zu werden?“, fragt Sven. „Viele gucken weg“, antwortet Christian und zuckt mit den Schultern. Doch manchmal sei das auch angenehm, dann habe er seine Ruhe. Dafür gebe es Orte, an denen er gesehen wird. Zum Beispiel beim Verein „Dein Topf“. Die Essens- und Kleiderausgabestelle sei für ihn ein Anker. „Da darf ich mein ganzes Zeug mit hinnehmen. Da bin ich willkommen, so, wie ich bin.“

Zur Human Library kam Christian durch das Nachbarschaftsprojekt im Trinitatis Quartier, zu dem er oft geht. Die Leiterin habe ihn auf die Bibliothek aufmerksam gemacht. „Da war ich sofort dabei.“ Christian grinst. Das Gespräch mit Sven ist das erste, das er als Buch führt. Darin scheint er aufzugehen. Er wird immer offener.

Sven hört zu, stellt Fragen. Immer wieder nickt er erstaunt – etwa als Christian erzählt, dass man sich auf der Straße oft untereinander hilft. „Gestern hat mir einer zwei Pfanddosen abgegeben – dabei ist das Premiumpfand.“ Natürlich würden sich auch immer mal „irgendwelche Pappenheimer“ kloppen. Meistens, sagt Christian, halte man zusammen.

Die härteste Nacht? „Minus zwölf Grad“, antwortet Christian. „Ich hatte drei Skihosen an, acht Lagen obenrum. Pappe isoliert gut, aber kalt bleibt’s.“ Ins städtische Winternotprogramm gehe er ungern. „Ein Raum mit mehreren fremden Leuten – das ist nichts für mich.“

„Fünf Minuten habt ihr noch“ – beide schrecken kurz hoch, als eine Bibliothekarin die beiden erinnert, dass die Ausleihzeit gleich vorbei ist. Christian will noch ein letztes Vorurteil entkräften: „Du musst noch wissen, dass nicht alle Obdachlosen Alkoholiker sind“, sagt er zu Sven. „Klar, einige schon. Aber ich zum Beispiel nicht.“

Die Zeit ist um, Sven bedankt sich und sie verabschieden sich. Sven bleibt noch einen Moment sitzen, nachdem Christian in den Pavillon zurückgekehrt ist. „Das hat echt etwas verändert für mich“, sagt er bewegt. Für ihn steht fest, dass er wiederkommen möchte – vielleicht nächstes Mal auch als Buch: „Burn-out“ könnte seines heißen, sagt er.

Organisatorin Shirley hat beobachtet, wie Buch und Leser sich verabschiedet haben: „Eine Win-win-Situation“, sagt sie. Für die Bücher sei es bestärkend, ihre Geschichte in einem geschützten Raum zu erzählen. Für die Lesenden ist es ein Perspektivwechsel, sagt sie und hängt das Schild mit dem Buchtitel „ohne festen Wohnsitz“ wieder zu „verfügbar“.

Christian wird an diesem Nachmittag noch mehrmals ausgeliehen. Auch für ihn ist klar: Er wird wiederkommen zur Human Library – an den Ort, an dem Fragen erlaubt sind, Offenheit gewünscht ist – und Urteile draußen bleiben.

Artikel aus der Ausgabe:
Hinz&Kunzt-Titelbild, man sieht diverse Pillen und Pulver. Titelzeile: Wem helfen Verbote?

Drogen: Wem helfen Verbote?

Wie suchtkranke Menschen die Doppelstrategie des Hamburger Senats – Hilfsangebote und Vertreibung – erleben, was Hamburg von der Schweizer Drogenpolitik lernen kann und wann und wo die Idee entstand, Drogenkonsum zu verbieten. Außerdem: Mit „Büchern“ sprechen in der „Human Library“.

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Autor:in
Luca Wiggers
Luca Wiggers
1999 in Hannover geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist Anfang 2022 nach Hamburg gezogen. Seit Juni 2023 Volontärin bei Hinz&Kunzt.

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