Hamburgs Sozialsenatorin im Interview : „Ich bin verhaltener als andere“

Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) im Gespräch in der Hinz&Kunzt-Redaktion

Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) über das Winternotprogramm und die Abschaffung von Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Frau Leonhard, das Winternotprogramm für Obdachlose geht ins 30. Jahr. Ein Grund zum Feiern?

Melanie Leonhard: Schöner wäre es, wir bräuchten es nicht. Es erinnert uns schließlich jeden Winter daran, dass wir Probleme haben, die noch nicht gelöst sind: für die einzelnen Menschen und für die Stadt als Ganzes. Gleichwohl ist das Hamburger Winternotprogramm eine Institution geworden und hat einen viel höheren Anspruch als früher. Darauf kann und sollte man auch positiv blicken.

Dennoch gibt es Kritik. So müssen die Obdachlosen die Unterkunft jeden Morgen verlassen und dürfen erst am Abend wiederkommen. Warum gönnen Sie den Menschen nicht die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen?

Unser Ansatz ist, die Tagesstunden zu nutzen, um Beratungsangebote zu ermöglichen. Uns ist wichtig, dass das Winternotprogramm der Anfang einer neuen Entwicklung sein kann. Im Übrigen: Geschwächte, Erkrankte und Mobilitätseingeschränkte dürfen tagsüber in den Unterkünften bleiben. Und bei Eis, Schnee oder großer Kälte haben alle die Möglichkeit, tagsüber zu bleiben.

Sie sprechen von Beratungsangeboten, die die Betroffenen aufsuchen sollen. Das Hauptproblem dieser Menschen können die aber nicht lösen: Es gibt keine preiswerten Wohnungen.

Das ist ein Thema, das wir im Winternotprogramm nicht abschließend lösen können, sondern durch den Bau von Wohnraum angehen müssen. Wir ermöglichen aber einen ersten Schritt weg von der Straße. So ist es uns in den letzten Jahren im Rahmen des Winternotprogramms gelungen, mehr als 1000 Menschen aus der Obdachlosigkeit zu holen: in die öffentlich-rechtliche Unterbringung oder in eine Therapie beispielsweise.

Gerade mal sechs Menschen konnten aus dem letzten Winternotprogramm in Wohnungen vermittelt werden, 116 weitere vor allem in Unterkünfte. Angesichts von nahezu 2800 Nutzer:innen sind das erschreckende Zahlen.

Die Zahlen zeigen, wie schwierig die Beratungsarbeit ist. Je nach Winter haben die Hälfte bis zu zwei Drittel der Menschen keine Rechtsansprüche in Deutschland, also beispielsweise keinen Zugang zu Jobcenter-Leistungen. Das ist ein ernstes Problem, weil wir dann nicht mit Sozialleistungen helfen dürfen. Deshalb wollen wir auch durch Beratung verhindern, dass Menschen in die Obdachlosigkeit nach Hamburg einwandern. Das passiert zum Teil, weil man ihnen eine falsche Hoffnung macht, hier schnell Fuß zu fassen, was dann aber nicht gelingt – häufig deswegen, weil es nun mal sehr schwierig ist, hier ohne Deutschkenntnisse und ohne Schulabschluss Arbeit zu finden.

Ein Versprechen von Rot-Grün ist die „Pension für arbeitssuchende Zugewanderte“. Hier sollen Menschen aus EU-Staaten Hilfe finden, die auf der Straße gelandet sind, etwa weil sie Opfer von Arbeitsausbeutung wurden. Wann kommt das dringend benötigte Angebot?

Wir wollen Anfang kommenden Jahres an den Start gehen. Die große Herausforderung ist es, prekäre Arbeitsverhältnisse nicht zu verfestigen, sondern gemeinsam mit Akteuren aus der Wirtschaft ein Sprungbrett in den Arbeitsmarkt zu bieten – und bei Bedarf auch Hilfe bei Klagen gegen Arbeitgeber, die sich nicht richtig verhalten.

Den Wohlfahrtsverbänden schweben mindestens 40 Plätze vor.

Wir sind gerade dabei, die Planungen auf die Zielgerade zu bringen. Wir fangen zunächst mit einigen Plätzen an, und dann ist diese Größe sicher nicht unerreichbar.

Zurück zum Winternotprogramm: Kritisiert wird auch die Größe der Unterkünfte. In der Friesenstraße bringt die Stadt bis zu 400 Menschen in einem Haus unter, in der Halskestraße bis zu 300. Viele Obdachlose schreckt das ab. Warum gibt es nicht viel mehr kleinere, über die Stadt verteilte Unterkünfte?

Wir müssen mit den Immobilien arbeiten, die wir haben. Aber: Wir sprechen hier von Zwei- oder Dreibettzimmern, in der Halskestraße sogar mit eigenem Bad auf jedem Zimmer. Zudem sind Essensangebote und medizinische Versorgung sowie Beratung und Betreuung an zentralen Standorten viel besser zu gewährleisten – schon allein deswegen, weil wir das Personal und die häufig benötigten Sprachmittler überhaupt nur so vorhalten können.

Lassen Sie uns über Visionen sprechen: Bundesregierung, Europäische Union und die Bundesländer wollen bis 2030 Obdach- und Wohnungslosigkeit abschaffen. Wie wollen Sie dieses Projekt in Hamburg umsetzen?

Hamburg hat sich bereits vor zwei Jahren eine Art Masterplan gegeben: das Gesamtkonzept Wohnungslosenhilfe, in dem wir uns Maßnahmen vornehmen, die an unterschiedlichen Punkten ansetzen. Wir wollen, dass es gar nicht erst dazu kommt, dass Menschen ihr Dach über dem Kopf verlieren, also Obdachlosigkeit gar nicht erst entstehen lassen. Da, wo es dennoch Probleme gibt, wollen wir gute Hilfen anbieten. Das ist eine große Herausforderung. Aber man darf dieses Ziel deswegen nicht nicht erreichen wollen.

Die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege fordert konkrete, messbare Zwischenschritte. Die haben Sie noch nicht definiert.

Wie sollen wir die definieren in einer Situation, in der wir jeden Tag 100 Menschen aus der Ukraine unterbringen, die neu nach Hamburg kommen, aber zunächst wohnungslos sind? Welches Ziel, das wir uns Anfang des Jahres als Zwischenschritt gesetzt hätten, würde heute noch gelten können? Die Situation ist differenzierter, als sich Zahlen zu geben, die man einzuhalten wünscht.

Wir haben dennoch das Gefühl, dass Sie beim Projekt 2030 sehr verhalten auftreten.

Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um das Ziel zu erreichen, gemeinsam mit vielen Akteuren wie etwa Stiftungen oder Ehrenamtlichen-Projekten. Aber wir erleben im Moment Krisen und Kriege. Und ich bin realistisch genug zu sagen: Was nützt ein Versprechen, insbesondere wenn man nicht nur auf Obdach- sondern auch auf Wohnungslosigkeit schaut, wenn man weiß, dass in einer Großstadt wie Hamburg öffentliche Unterbringung mutmaßlich auch in sieben Jahren noch eine Rolle wird spielen müssen? Deshalb bin ich verhaltener als andere.

Auch vor dem Ukraine-Krieg waren die Unterkünfte der Stadt rappelvoll. Immer mehr Menschen leben dort immer länger, weil es keinen Wohnraum für sie gibt. Was muss geschehen?

Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum und können dabei auf Neubau nicht verzichten. Das bedeutet auch, dass es nicht so sein darf, dass Bauprojekte am Ende immer kleiner werden als geplant, weil Initiativen das fordern. Hier fehlt mir ein gemeinsamer Konsens in der Stadt.

Nur fünf Prozent der 2021 neu gebauten Wohnungen sind für Menschen mit Dringlichkeitsschein vom Wohnungsamt vorgesehen. Werden in Hamburg die falschen Wohnungen gebaut?

Es werden jedenfalls nicht genug von denen gebaut, die wir brauchen. Gerade beim Neubau für vordringlich Wohnungssuchende macht die Stadt viel, gemeinsam mit Saga und Fördern & Wohnen. Da freuen wir uns über weitere Akteure – zumal ich überzeugt bin, dass es ein großer Gewinn für alle Beteiligten ist, Wohnraum für diese Menschen in größeren Bauprojekten mit unterzubringen.

Bislang praktiziert Hamburg ein Stufenmodell: Obdach- und Wohnungslose müssen nachweisen, dass sie in der Lage sind, in einer Wohnung zu leben, bevor sie eine Chance auf Vermittlung bekommen. Was spricht dagegen, den Menschen erst eine Wohnung zu geben, in der sie dann andere Probleme angehen können?

Wir vermitteln auch direkt in Wohnraum. Aber oft kumulieren sich Problemlagen und Menschen sind nicht in der Lage, sich die Hilfe zu holen, die sie brauchen und die ihnen zusteht. Deshalb ist es für manche richtig, dass es erst mal um einen Therapieplatz geht, dass Rechtsansprüche geklärt werden. Und deshalb haben wir Wohnmodelle, die berücksichtigen, dass es mehr Begleitung braucht als einen Mietvertrag und einen Schlüssel.

Finnland holt mit „Housing First“ seit Jahren erfolgreich Menschen von den Straßen (siehe H&K, August 2022). Warum brauchen wir in Hamburg trotzdem erst ein Modellprojekt mit nur 30 Wohnungen?

Zuletzt gab es eine Untersuchung, die zu dem Schluss kommt, dass Housing First ein Baustein im Hilfesystem sein kann, aber niemals der einzige. Es gibt nach unserer Erfahrung viele Menschen, denen es nicht allein am Dach über dem Kopf fehlt, sondern mit denen wir gemeinsam auch viele andere Probleme zu lösen haben. Unterschiedliche Unterstützungsbedarfe brauchen also auch unterschiedliche Angebote.

Eigentlich müsste es jetzt schnell gehen: Die Verelendung unter Obdachlosen nimmt zu. Allein vergangenes Jahr sind mindestens 29 Menschen auf Hamburgs Straßen gestorben. Was muss geschehen? Die bisherigen Maßnahmen reichen offensichtlich nicht aus.

Ganz wichtig ist der Zugang zu medizinischer Versorgung. Deshalb haben wir die Schwerpunktpraxen für Obdachlose und das medizinische Angebot im Winternotprogramm. Deshalb wollen wir die Krankenstube ausbauen. Mit dem Winternotprogramm bieten wir außerdem jedem Menschen einen Schlafplatz an. Es gab keine Nacht, in der es nicht ein freies Bett gegeben hätte. Dass unser Angebot nicht immer angenommen wird, ist ein Problem, an dem wir alle gemeinsam arbeiten müssen, indem wir Vorbehalte abbauen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Artikel aus der Ausgabe:

Tafeln vor dem Kollaps

Schwerpunkt Ehrenamt: Wie mehr als 1200 Freiwillige Hamburgs Obdachlosen helfen und wieso das problematisch ist. Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) spricht im Interview über die Überwindung der  Obdachlosigkeit. Außerdem: Wieso Antiquariate ums Überleben kämpfen und manchen Geflüchteten aus der Ukraine die Abschiebung droht.

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Autor:in
Lukas Gilbert
Lukas Gilbert
Studium der Politikwissenschaft in Hamburg und Leipzig. Seit 2019 bei Hinz&Kunzt. Zunächst als Volontär, seit September 2021 als Redakteur.
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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