Krimi-Autorin Nora Luttmer

„Ich möchte wissen, wo ich bin“

Autorin Nora Luttmer. Foto: Miguel ferraz

Von einer heimlich bewohnten Gartenlaube, einer geschlossenen Bäckerei und tiefen Wasserlöchern hinter dem Deich: ein Ausflug mit der Krimi-Schriftstellerin Nora Luttmer nach Ochsenwerder.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Hier hat er sich seitlich durch die Hecke geschlagen. Kam nicht von vorne durch die Gartenpforte, wollte nicht, dass ihn seine Fußspuren im Schnee verraten. Man sollte nicht merken, dass hier einer heimlich überwintert: Marcu sein Name, 15 Jahre alt; zu Hause rausgeschmissen, aus der Wohngruppe abgehauen. In die Gartenlaube ist er eingebrochen, macht es sich wohnlich, kocht sich gerade Nudeln, die elektrische Heizung glüht. Hauptsache, es entdeckt ihn niemand, bis die Kleingartensaison im März wieder beginnt. Dann will er weitersehen.

Anfang Dezember vergangenen Jahres: Autorin Nora Luttmer steht in einer verschneiten Ochsenwerder Kleingartenanlage. Normalerweise nimmt sie das Fahrrad und ist von ihrer Wohnung in der Hamburger Neustadt in gut 40 Minuten hier. In einer anderen Welt, ruhig, naturbelassen, kaum ist man von der vierspurigen Andreas-Meyer-Straße abgebogen. Seit ein paar Jahren haben sie, ihr Mann und die Kinder hier eine Parzelle.

„Schwarzacker“ ist Nora Luttmers dritter Kriminalroman um die Ermittlerin Bette Hansen, die hier aus den Vier- und Marschlanden stammt, die nie wieder in die Gegend zurückkehren wollte und nun im Hause ihres verstorbenen Vaters mitten in Ochsenwerder wohnt. Dieses Mal geht es um den jugendlichen Marcu, der eines Abends Zeuge wird, wie ein Schuss fällt. Um eine seit Langem verschwundene Frau geht es; um zwei ältere Brüder, die seit Jahren nicht mehr miteinander reden. Nun ist der eine von beiden tot. Orte des Geschehens: eine Gartenlaube, die zugefrorene Gose-Elbe gleich nebenan, die Wege und  Höfe Ochsenwerders. Das im Winter, alles schneebedeckt, genau wie heute.

„Das Wetter passt perfekt zum Buch“, sagt Nora Luttmer, tritt ein bisschen auf der Stelle, damit sie warm bleibt. Es war ein weiter Weg hierher, einerseits. Andererseits hat sich alles wie von selbst gefügt.

Geboren wird sie in Köln, wächst in Bergisch-Gladbach auf, will von dort weg. Es zieht sie in die Welt. Nach dem Abitur Anfang der 1990er-Jahre reist sie nach China, dann nach Vietnam; sie studiert Südostasienkunde. Sie hat ein Stipendium für ein Jahr, hängt noch ein Semester dran, so sehr gefallen ihr das Land und seine Bewohner:innen.

„Ich habe damals recht schnell Vietnamesisch gelernt, das ging gar nicht anders“, erzählt Nora Luttmer. Sie will mit den Menschen reden und die wollen erzählen: „Ich war wie ein Briefkasten: Man hat mir Geschichten anvertraut, die man den eigenen Leuten, den Freunden und Verwandten nicht erzählen konnte“, sagt sie. Aber ihr konnte man sie erzählen, der Deutschen, die man nie wieder treffen würde und bei der das Erzählte gut auf­bewahrt blieb. Wie die Geschichte von der jungen Frau aus Hanoi, die einen weitläufig verwandten Cousin verstecken musste, der wegen Drogenhandels gesucht wurde. „In Vietnam steht auf Drogenhandel die Todesstrafe, sie war damit selbst enorm gefährdet und kannte den Cousin überhaupt nicht – aber die Familie hat das von ihr verlangt, sie hatte so eine Angst“, erzählt Nora Luttmer. Eine Geschichte also, in der es um Leben und Tod ging. „Und so bin ich nach und nach auf den Krimi gekommen“, sagt sie, während wir die Kleingartensiedlung verlassen und hoch zum Deich gehen, auf der anderen Seite runter ans Ufer der Gose-Elbe, langsam: Es ist glatt und rutschig, das Wasser wird vom Wind kräftig aufgeraut.

Drei Krimis um den Hanoier Kommissar Ly entstehen damals; Ly, ein Einzelgänger wie Bette Hansen. Dann sollen die Krimis in Hamburg spielen, wo Nora Luttmer mittlerweile wohnt und eine Familie gegründet hat: „Ich dachte, hole ich doch die Vietnamesen nach Hamburg.“ Ihr Krimi „Dunkelkinder“ handelt von vietnamesischen Kindern, die nach Europa gebracht werden und auf illegalen Cannabisfarmen arbeiten müssen; überwiegend in Großbritannien, in den Niederlanden, aber auch in Deutschland wurden Fälle bekannt: „Oft sind es Straßenkinder, die keiner vermisst“, erzählt sie. Angesiedelt ist der Roman in Rothenburgsort. Der Stadtteil mit seinem Mix aus Wohnen, Gewerbe und Industrie, aus Tristesse und Aufbruch inspiriert sie.

Ist man in Rothenburgsort angekommen, ist man schon gut auf dem Weg Richtung Vier- und Marschlande. „Und ich dachte, wenn ich hier in Ochsenwerder einen Garten habe und meine Zeit verbringe, möchte ich wissen, wo ich bin.“ Also beginnt sie, die Gegend zu erkunden, auf der Suche nach Atmosphäre und besonders nach Geschichten. Sie gewinnt Anwohner:in­nen dafür, ihr einiges vom Leben zu erzählen, von früher und von heute; die ersten Kontakte vermittelt ihr der Vorsitzende ihres Kleingartenvereins.

Wie kam sie auf die Figur der „Bette Hansen“? Anfang 50, eigen, fast verschlossen ist die und selbst erstaunt, wie ihr das Leben in der dörflichen Enge gefällt, dabei hat sie zuvor mitten in Barmbek gewohnt. „Ich hatte keine Lust auf Polizeikrimis“, erzählt Nora Luttmer. „Da muss die Spurensicherung anrauschen, es gibt immer einen nervigen Vorgesetzten und man steckt in dieser ganzen Polizeibürokratie fest.“ Also brauchte sie eine Polizistin, die nicht mehr im Dienst ist, aber noch ermitteln kann. Sie könnte eine Krankheit haben, mit der sie trotzdem so fit bleibt, dass sie als Mordermittlerin arbeiten kann, das ist die Idee. ­Eines Abends sitzt Nora Luttmer mit einer befreundeten Ärztin zusammen. Die beiden kommen auf die Krankheit „Narkolepsie“, bei der man plötzlich einschläft, im Sitzen, im Stehen, im Gehen. Bette, die frühere Kommissarin, hat eine eher milde Form.

Wir steigen wieder ins Auto, auf den langen und kurvigen Ochsenwerder Norderdeich. „Ich mag es gerne, wenn man viel über die Gegend erzählt“, sagt Nora Luttmer und zeigt auf die kleinen, dunklen Seen, die plötzlich auf der Deichinnenseite auftauchen. „Bracks“ nenne man die. „Wenn bei einer Sturmflut der Deich bricht, schießt das Wasser wie bei einer Springflut ins Land und bohrt tiefe ­Löcher – bis zu zehn, fünfzehn Meter tief“, sagt sie.

Nächster Halt: das Naturschutz­gebiet „Die Reit“, hier mündet die  Gose-Elbe in die Dove-Elbe. „Manchmal kann man hier die Seeadler kreisen sehen“, sagt Nora Luttmer mit Blick in den Himmel. Hier beobachtet ihr jugendlicher Krimiheld Marcu des Nachts im Schneegestöber drei Männer, die über das zugefrorene Gewässer auf einen Hof zugehen, wo es bald darauf brennt.

Letzte Station: Ochsenwerder, der Ort selbst. Mit Dorfkern, mit Kirche samt Friedhof, einer Kita, einer ­Schule, zwei geschlossenen Gaststätten und der Bäckerei, in der kein Licht brennt. „Die Tochter vom ehemaligen Bäcker hat in die Bäckerei nach Kirchwerder eingeheiratet“, weiß Luttmer. Und auch, dass die so sehr an Elternhaus und Bäckerei hängt, dass sie den Laden nicht aufgeben kann und daher noch zweimal in der Woche öffnet: Sonnabend und Montag, jeweils von 7 Uhr bis 11 Uhr.

Um die Ecke könnte dann Bette Hansen wohnen. Nebenan ein ehemaliges Bahnhofsgebäude, Rotklinker. Hier fuhr die Marschbahn, nachdem zuvor das Obst und Gemüse per Boot in die Hamburger Innenstadt gebracht wurde. Später, Anfang der 1950er-Jahre, wird Ochsenwerder ans Hamburger Straßennetz angebunden, und aus dem Bahndamm wird ein Wanderweg.

Auf diesem kommt Krimiheld Marcu aus seiner Gartenlaube angerannt. Er rennt um sein Leben! Vor wem er flieht, wie es ausgeht und was vorher passiert ist, das wird hier selbstverständlich nicht verraten.

Nora Luttmer steht auf einer schneebedeckten Wiese, den Ort im Blick. Im Hintergrund Treibhäuser, die mittlerweile aus rundgespannter Plastikfolie bestehen; am Horizont ballen sich die Wolken, die bald weiteren Schnee bringen werden. Wenn man genau hinschaut, sieht man da plötzlich ein Haus, aus dem Bette Hansen heraustritt. Dick eingepackt, mit Mütze und Handschuhen, macht sie sich auf den Weg, zu Fuß. Wegen ihrer Krankheit fährt sie ja kein Auto mehr.

Artikel aus der Ausgabe:

Eins geht noch?

Laut einer Studie kann sich etwa jede:r Fünfte in Deutschland vorstellen, einen „trockenen Januar“ – einen „Dry January“ – einzulegen. Wir haben für Sie ohne moralischen Zeigefinger mit Suchtexperten und Menschen gesprochen, die mit und ohne Alkohol leben. Außerdem im Magazin: Warum unser Hunger auf Fisch im Senegal zum Problem wird.

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