Glitzer&Beton : Ein letzter Tanz für Toleranz

Sie ist die Frontfrau der Band „Schrottgrenze“: Saskia Lavaux. Foto: Sebastian Madej

Mit ihrem Gala-Konzert zum Hinz&Kunzt-Jubiläum verabschiedet sich die Band Schrottgrenze von der Bühne – um Kraft zu tanken für einen Aufbruch in neue Zeiten.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Es wird heftig glitzern im Uebel & Gefährlich: „Schrottgrenze“ auf der Bühne, Didine van der ­Platenvlotbrug als Conférencière … Das gab es doch schon mal! Wer im Oktober 2019 dabei war, als die Indie-Rock-Band im St. Pauli-Bunker mit Freund:innen ihr neues Album „Alles zerpflücken“ feierte, könnte an ein Déjà-vu glauben. Was Fans aber auch wissen: Mit Schrottgrenze kann jedes Mal ein erstes Mal sein. 

Wir wären wahrscheinlich eine größere, bekanntere Band, wenn wir starrer bei einem Ding bleiben würden“, sagt Sängerin Saskia Lavaux und lächelt. „Aber das liegt uns halt nicht.“ Nicht, dass sie keine Ausdauer hätten. Transfrau Saskia, früher Sänger und Frontmann der Band, ist seit fast 30 Jahren bei Schrottgrenze, ebenso Gitarrist Timo Sauer. Dagegen sind die anderen neu: Bassist Hauke Röh kam 2015 dazu, Schlagzeuger Lars Watermann vor etwa drei Jahren.

Saskia und Timo sind zusammen groß geworden, auch musikalisch – das Gitarrespielen brachten sie sich gegenseitig bei. Sie waren 14, zwei Jungs aus der niedersächsischen Provinz, hörten Punk und träumten von etwas Großem, Wildem. 1995 erschien die erste Schrottgrenze-Platte mit dem Titel „Unehrlich, verlogen und stinkfaul“, kurz darauf startete die Band die erste Tour. Seitdem hat sie sich ständig gewandelt: vom Punk über melancholische Teen-Pop-Lyrik zum Indie-Rock mit antifaschistischer, inzwischen unüberhörbar queerfeministischer Haltung. Das gefällt nicht allen. Fans kamen und gingen – das sei völlig in Ordnung, sagen Timo und Saskia rückblickend. Es gab Jahre, da hatten sie selbst keinen Bock mehr auf Schrottgrenze.

„Als Band ist man schnell in dieser Mühle drin“, erklärt Saskia. „Im Winter Studio, dann Frühjahrskonzerte, Sommertour, Herbsttour, dann wieder ins Studio.“ Parallel dazu Proben, Planungen, Promo. „Das ist eine extrem neoliberale Arbeitshaltung in der Branche, die davon ausgeht, dass Musiker:innen alles machen, und das die ganze Zeit.“ Auch Timo erinnert sich: Besonders extrem seien die Jahre gewesen, in denen sie ausschließlich von ihrer Musik lebten und die Band zum Job wurde. „Erwachen, aufstehen, rausgehen, alles wieder aufdrehen, Synapsen rennen im Kreis …“, heißt es auf ihrer Platte „Schrottism“, die im Oktober 2007 erschien. 24 Konzerte spielten sie allein in jenen Herbstmonaten.

Im folgenden Frühjahr zog die Band die Reißleine, kündigte eine Pause auf unbestimmte Zeit an und löste sich schließlich ganz auf. „Damals hatten wir wirklich die Schnauze voll voneinander“, sagt Timo. Auch das änderte sich bekanntlich wieder: Ein Gastauftritt bei der be­freundeten Band „Herrenmagazin“ (einmalig, wie Schrottgrenze damals beteuerte), einige Gala-Konzerte in guter ­Gesellschaft, hier und da ein Festival – da waren sie wieder, nach sieben Jahren Funkstille, mit neuer Energie.

„Glitzer auf Beton“ erschien 2017 beim Hamburger Label Tapete Records, es war ein Statement: gegen den ­heteronormativen Mainstream, für Toleranz, Respekt und queere Liebe. Dass das mehr ist als eine Phase, weiß die Szene spätestens zwei Jahre später: Saskia outet sich als Transfrau, „’ne kräftige Schwester“ nach eigenen Worten, eine mit starker Stimme für alle, die in einer minder­heitenfeindlichen Gesellschaft Mut brauchen, um offen zu sich selbst zu stehen. Das ist Schrottgrenze heute: Eine queerfeministische Band, die sich dem Hass auf Anderslebende entgegenstellt, rechten und konservativen Hetzern den Kampf ansagt – und die auch die deutsche Indie-Rock-Szene gegen den Strich bürstet wie kaum eine andere.

Und was kommt jetzt? Ein letztes Konzert steht noch im Bandkalender, die Jubiläumsgala für Hinz&Kunzt im Uebel & Gefährlich. Dann wird es wieder auf unbestimmte Zeit still. „Wir wollen die Maschinerie mal wieder unter­brechen“, erklärt Timo. Zu vieles komme sonst zu kurz, ­Privatleben, Gesundheit, auch die Kreativität. Sie werde engagiert bleiben, sagt Saskia. Die Gesellschaft sei auf keinem guten Weg, „das macht unsere Arbeit als Aktivist:innen und als Musiker:innen umso wichtiger.“ Schrottgrenze kommt wieder, da sind sich beide sicher.
Die Welt wird dann eine andere sein. Ihre Musik auch.

 

Foto: Philipp Sell

„Nicht nachdenken, einfach machen!“

Die großen Spaßvögel der Gala sind zweifellos die Zuckerschweine. Ehe die Hamburger Ende November ihr 25. Jubiläumsjahr in ihrem Stammladen, dem Hamburger Sprechwerk feiern, kommen sie zu „Glitzer & Beton“. Die erfahrene ­Improtheater-Gruppe besteht aus mehreren Schauspieler:innen und einem Musiker. „Wir lieben den spontanen Moment auf der ­Bühne und die Interaktion mit dem Publikum“, sagt Zuckerschwein Stefan Suhr. „Es geht darum, gemeinsam etwas Neues zu schaffen. Und sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Der Trick ist: nicht nachdenken, sondern einfach machen.“

Nach den Vorgaben des Publikums werden die Spieler:innen kurze, sketchartige Szenen improvisieren.
Die Zuschauer:innen geben Begriffe vor, und die Zuckerschweine denken sich dazu spontan Songs, Pantomimen und ­weitere Späße aus. Dabei springen sie auch durch verschiedene Film- und Theatergenres. Die Leitfrage lautet dabei ­immer: Wie entsteht eine gute Geschichte?

 

Foto: Frederike Wetzels

Glückliche Gesichter, schwingende Hüften

Für Tanzbares steht Fritzi Ernst nicht in erster Linie – aber selbst „Keine Termine“, ihr Loblied auf das Nichtstun, dürfte es schaffen, einige Hüften im Uebel & Gefährlich zum Schwingen zu bringen. Fritzi wurde als eine Hälfte des Hamburger Indie-Duos „Schnipo Schranke“ bekannt. Vordergründig ging es in den Songs der beiden um Obszönitäten und Körperflüssigkeiten. Aber selbst Stücke wie „Pisse“ be­handelten Ernstes und haderten mit Depressionen, Über­forderung und Antriebslosigkeit.

Seit 2021 ist Fritzi Ernst solo unterwegs mit ihrem mini­malistischen Indie-Pop. Ihre Texte sind weniger unanständig, der Humor ist geblieben: „Alle treffen sich mit Leuten/ich geh nur raus zum Therapeuten.“ Ihr Album sei der „Soundtrack zur Pandemie“, schrieb „Der Spiegel“ vor zwei Jahren. Doch ­Fritzis Songs sind so gut, dass sie ohne Lockdown erst recht für glückliche Gesichter sorgen werden.

 

 

Foto: Eugen Herrmann

„Bei mir kann es auch rumpelig werden“

Norman Müller alias Digital Norman kredenzt zu Beginn und in den Umbaupausen der Gala eine Auswahl aus seiner umfangreichen Vinyl-Sammlung. Der Musiker, bekannt aus dem Team des Radiosenders ByteFM und regelmäßiger DJ im Golden Pudel Club („Mein Wohnzimmer!“) kennt sich mit Hip-Hop und Pop aus. Gern legt Digital Norman auch Kraut, Disco und Electronica auf, aber seine große Liebe gilt dem Funk. Besonders angetan haben es ihm Songs aus Ländern, die wenig mit diesem Genre verbunden werden: Norwegen, Italien oder Japan. „Ich bin keine Hitmaschine“, sagt Norman, „bei mir kann’s auch mal rumpelig werden. Aber natürlich sollen die Leute tanzen.“

 

Artikel aus der Ausgabe:

Happy Birthday: Die Hinz&Kunzt-Geburtstagssause

30 Jahre Hinz&Kunzt! In unserer neuen Ausgabe präsentieren wir das ausführliche Geburtstagsprogramm, schöne Erfolgsgeschichten und legen zugleich den Finger in die Wunde, weil in Hamburg nach 30 Jahren Hinz&Kunzt weiterhin etwa 2000 Menschen auf der Straße leben.

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Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.
Jan Paersch
Freier Kulturjournalist in Hamburg. Zwischen Elphi und Stubnitz gut anzutreffen - und immer auf einen Espresso.