Vorwürfe : Jobcenter sollen diskriminieren

Beratungsstellen beklagen die Dikriminierung von EU-Bürger:innen durch das Jobcenter. Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Irina Mortoiu schildert Fälle aus ihrer Arbeit. Foto: Mauricio Bustamante

Es sind schwere Vorwürfe von Beratungsstellen: Menschen aus Südosteuropa, die in Deutschland leben und arbeiten, würden von Behörden diskriminiert – und damit in Armut und Obdachlosigkeit getrieben.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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„Diskriminierungen sind keine Ausnahmen – sie sind die Regel“, sagt Irina Mortoiu: „Das ist der Eindruck, den ich in meiner täglichen Arbeit ­ge­winne.“ Die 47-Jährige arbeitet bei Hinz&Kunzt als Sozialarbeiterin. Sie hat beobachtet, wie Klient:innen aus Südosteuropa von Jobcenter und Familienkasse immer wieder Steine in den Weg gelegt bekommen, wenn sie Hartz IV, Mietzuschüsse oder Kindergeld beantragen.

Seit 2007 sind Rumänien und Bulgarien Teil der Europäischen Union, seit 2014 genießen ihre Bürger:innen volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das bedeutet: Sie können sich in anderen EU-Staaten aufhalten, dort arbeiten – und wenn nötig Hilfen beantragen.

„Diskriminierungen sind keine Ausnahmen – sie sind die Regel.“– Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Irina Mortoiu

Zwar versuchen Deutschland und andere Staaten, einen Teil der Zugewanderten per Gesetz von Sozialleistungen auszuschließen. Doch wer hier einen Job hat oder hatte, dem steht ­ Hilfe zu. Eigentlich. Denn Irina Mortoiu ­erlebt regelmäßig, wie Menschen, bei denen kein Zweifel an ihrer Leistungsberechtigung besteht, diese Hilfe verweigert wird. Der Schrank der Sozial­arbeiterin ist voll mit Aktenordnern, in denen sie ihre Korrespondenzen mit Jobcenter und Familienkasse lagert. Immer wieder würden die Behörden neue Unterlagen anfordern, die Angaben ­ihrer Klient:innen grundlos anzweifeln und plötzlich Zahlungen einstellen. „Erst kürzlich habe ich eine Familie beraten, der das Jobcenter die Miete nicht zahlen wollte – obwohl sie zweifelsfrei berechtigt war“, sagt die Sozialarbeiterin: „Als ich dagegen vorgegangen bin, hat die Behörde begonnen, die Familie unter Druck zu setzen, damit sie ihren Widerspruch zurücknimmt.“

Irina Mortoiu gelang es, eine Nachzahlung zu erwirken und sogar eine neue Wohnung für die Familie zu finden. Die hatte bislang in extrem schlechten Verhältnissen gelebt. Zunächst sagte das Jobcenter auch zu, Miete und Kaution zu übernehmen. Doch kurz nach dem Einzug hob die Behörde die Bewilligung wieder auf. „Ich habe dann einen Eilantrag beim Sozialgericht gestellt, und im Nu hat das Amt die Leistungen wieder zugesagt.“ Gezahlt wurde das Geld dann trotzdem erst Monate später. „Die alte Wohnung ist gekündigt, für die neue ist plötzlich kein Geld da: Eine solche Praxis treibt Menschen in die Obdachlosigkeit.“

Mit ihrem Ärger über dieses Vor­gehen gegenüber EU-Bürger:innen ist die Sozialarbeiterin nicht allein. Schon vergangenes Jahr kritisierte die Hamburger Diakonie, dass Anträge von Jobcentern pauschal abgelehnt und Ratsuchende weggeschickt würden.

Hamburger Beratungsstellen stellen Forderungen

In einem gemeinsamen Positionspapier fordern nun mehrere Hamburger Beratungsstellen, dass eine interne Arbeitshilfe der Bundesagentur für Arbeit zurückgenommen wird. Die richtet sich gegen „bandenmäßigen Leistungsmissbrauch in spezifischem Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“.

Die Anleitung listet detailliert Indizien für mutmaßlichen Leistungsmissbrauch von EU-Bürger:innen auf: etwa hohe Mieten oder sogar auffallend ­korrekt ausgefüllte Anträge. Nach ­Ansicht der Beratungsstellen führt die Arbeitshilfe dazu, dass Antrags­ver­fahren erheblich verzögert und ver­kompliziert werden durch immer neue ­Aufforderungen zur Mitwirkung. ­Betroffene würden so in Existenznöte gebracht. Über Einzelfälle gehe ein solcher Umgang mit EU-Bürger:innen deutlich hinaus.

„Unionsbürger:innen stehen nicht unter Generalverdacht.– Eine Sprecherin der Arbeitsagentur

Eine Sprecherin des Hamburger Jobcenters weist die Vorwürfe auf Nachfrage ausdrücklich zurück. Die Anforderung zusätzlicher Dokumente, etwa um den Arbeitnehmer:innenstatus zu prüfen, sei gesetzliche Vorgabe und „stellt keine diskriminierende oder gar rassistische Andersbehandlung bestimmter Personengruppen dar“. Im Gegenteil: Laut Bundesregierung sollen „Aufklärungsmaßnahmen“ der Ämter verhindern, dass Menschen in prekären Lebenslagen von Kriminellen ausgenutzt werden – etwa durch Scheinarbeitsverträge. Genau dieser Gedanke stehe hinter der genannten Arbeitshilfe, so die Regierung im März auf Anfrage der Linksfraktion im Bundestag.

Auch die Arbeitsagentur, die über die Familienkasse für die Auszahlung von Kindergeld verantwortlich ist, weist die Vorwürfe von sich. Zwar gebe es gesetzliche Regeln und Vorschriften, die zusätzliche Nachweise erforderten. Doch stünden „Unionsbürgerinnen und -bürger definitiv nicht unter Generalverdacht“, sagte eine Sprecherin Hinz&Kunzt: „Diskriminierungen ­jeglicher Art sind unzulässig und entsprechen nicht unserer Arbeitsweise.“

Diskriminierung bereits in der Heimat erfahren

Die Erfahrungen von Irina Mor­toiu und ihren Klient:innen sind andere. So hört sie in ihrer Beratung regelmäßig, dass Ämter bestehende Dolmetscherservices nicht nutzen und Menschen stattdessen wegschicken: „Denen wird gesagt, dass man sich mit ihnen nicht verständigen kann.“ Betroffene berichten ihr auch, wie sie von Sachbear­beiter:innen an­geschrien oder nicht beachtet würden. Ergebnis: Sie stellen die Anträge nicht und bekommen damit kein Geld, obwohl es ihnen zusteht.

Diskriminierungen und die Folgen wie fehlendes Geld, keine Krankenver­sicherung und Wohnungsverlust sorgen ­dafür, dass ihre Klient:innen unter ­massivem Druck stehen, erklärt die Sozial­arbeiterin. „Das macht was mit den Menschen. Die meisten derjenigen, die zu mir kommen, sind Roma, die auch in ­ihrer Heimat schon Diskriminierung erlebt haben. Die kommen hierher, und die Diskriminierung geht weiter.“ Am schlimmsten sei es für all jene, die nicht von Sozialarbeiter:innen unterstützt werden. Die hätten schlicht keine Chance. Die Rücknahme der ­Arbeitshilfe, wie sie die Beratungsstellen ­fordern, wäre daher ein guter erster Schritt, findet auch Irina Mortoiu. Und dann? „Ich würde mir zunächst einmal einfach wünschen, dass sich die Behörden an geltendes Recht halten. Und zwar von sich aus.“

Autor:in
Lukas Gilbert
Lukas Gilbert
Studium der Politikwissenschaft in Hamburg und Leipzig. Seit 2019 bei Hinz&Kunzt. Zunächst als Volontär, seit September 2021 als Redakteur.

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