Hamburgs alte Stadtgrenze

Steinen auf der Spur

Links: Altona, rechts: Hamburg. Foto: Andreas Hornoff

Von Blicken auf den Boden, einem wieder aufgetauchten Sockel und König Christian dem Siebten: ein Spaziergang entlang der Hamburger Grenzsteine und Fragen an Herrn Wendt.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Irgendwo hier muss er doch sein! Vielleicht sollten wir der Trommelstraße folgen, rauf bis zum
Hein-Köllisch-Platz? Mitten in St. Pauli-Süd werden wir fündig: An der Trommelstraße, Ecke Finkenstraße, liegt die gesuchte Gehwegplatte. Sie ist kleiner als die anderen, hat die Buchstaben „A“ und „H“ eingeritzt, dazwischen ein Strich. „A“ steht für Altona und „H“ für Hamburg. Wir stehen vor einem historischen Grenzstein und damit auf der einstigen Grenze zwischen Altona und Hamburg. Von 1640 an markierte sie die Gebiete zweier Städte, die lange heftig miteinander konkurrierten. Etwa 270 Grenzsteine und Grenzmarkierungen sind erhalten, um die 1000 soll es auf dem heutigen Hamburger Stadtgebiet gegeben haben: zwischen Hamburg und Altona, zwischen Hamburg und Preußen, zwischen Hamburg und Holstein.

Dass die meisten Standorte verzeichnet, dokumentiert und kartografiert sind, liegt entscheidend an Wolf-Rüdiger Wendt. Mit ihm wollten wir eigentlich vom Fischmarkt aus von Grenzstein zu Grenzstein durch die Stadt wandern. Denn wen man auch fragt, das Denkmalschutzamt der Kulturbehörde oder den Denkmalschutzverein, stets heißt es: „Am besten, Sie fragen Herrn Wendt.“ Herr Wendt, mittlerweile 80 Jahre alt, lässt sich in Sachen Grenzsteine einfach durch niemanden ersetzen.

Aber Herrn Wendts Knie mag grad nicht. Neulich erst operiert, will es lieber Ruhe. Stattdessen empfängt er uns gut gelaunt in seinem Haus in Poppenbüttel: „Was wollen Sie wissen?“ Wie alles anfing, vielleicht? „Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert und immer ein offenes Auge gehabt.“ Dann half sein Beruf: „Ich war bei der Hamburger Stadtentwässerung als Vermessungsingenieur tätig, war im Außendienst in der ganzen Stadt unterwegs und hatte immer meine Kamera dabei, um meine Arbeit zu dokumentieren“, erzählt er.

Als ihm die ersten Grenzsteine auffallen, ist sein Interesse geweckt: Aktenordner füllen sich mit Fotos und Unter­lagen, er erstellt ein Kataster. Aber soll er das nur für sich selbst machen? „Ich bin beim Denkmalschutzamt vorstellig geworden, und man hat mich mit offenen Armen empfangen.“ Dass die Grenzsteine heute denkmalgeschützt sind, ist auch sein Verdienst.

Jeder bisher entdeckte Stein ist genau erfasst: Größe, Umfang und Ort, wo er liegt; oft sind auch historische Karten und Auszüge aus Amtsblättern hinzugefügt. Zwei bis drei Stunden sitzt er dafür am Rechner. Also pro Tag! Denn noch immer kommen Grenzsteine hinzu, findet er in Archiven Hinweise. Im Dezember eines jeden Jahres kopiert er dann alles auf einen USB-Stick und bringt die Daten zum Amt. Herr Wendt sagt: „Ich lebe ja nicht ewig, und es wäre doch schade, wenn die Arbeit nicht in die richtigen Hände kommt.“

Geschichten kann er zudem auch jede Menge erzählen. Über die Zunftsteine der Zimmermänner oder die der Reeper auf der Reeperbahn, die damit ihr Gebiet absteckten. Feuerwehrsteine markierten früher den Verlauf der unterirdischen, feuerwehreigenen Fernmeldeleitungen, sehr nützlich bei der Großen Sturmflut von 1963, als das öffentliche Telefonnetz zusammenbrach.

Dann sind da noch die Grenzgänge. Denn links und rechts von den Grenzsteinen musste ein Streifen von Bebauung freigehalten werden. Davon übrig geblieben ist zum Beispiel ein Gang am Ende der Paul-Roosen-Straße auf St. Pauli, Ecke Talstraße. Mindestens vier Hamburger Fuß breit musste bis Anfang des 20. Jahrhunderts so ein Streifen zwischen den Häusern sein, umgerechnet etwa 1,15 Meter. „Es durften damals keine Fenster zum Grenzgang führen, weil die Leute alles aus dem Fenster kippten, auch ihre … Sie wissen schon“, sagt Herr Wendt.

An genau dieser Grenzgangecke fand man bei Straßenarbeiten den verzierten Sockel des damaligen Landesschildes auf der Grenze zwischen Hamburg und Altona, buddelte ihn aber einfach wieder ein. Als Jahre später hier neue Kabel verlegt wurden, kümmerte sich die ausführende Firma um das Fundstück im Boden, rief das Denkmalschutzamt an. Der Sockel wurde abtransportiert und lagert seitdem im Depot des Museum für Hamburgische Geschichte. „Nützt momentan keinem, aber ist gerettet“, sagt Herr Wendt.

„So richtig große Geheimnisse um die Grenzsteine gibt es nicht mehr“, meint er, der per se kein Grenzsteinfundamentalist ist. Wenn Straßen also verbreitert werden, etwa für eine Fahrradspur, wie gerade in der Walddörferstraße, dann müsse manchmal eben ein Grenzstein versetzt werden und stehe nun nicht mehr an seinem Ursprungsort. Wichtig sei, dass das Wissen bewahrt und verfügbar bleibe.

Tatsächlich soll es in der Eimsbütteler Chaussee, Hausnummer 45, laut Onlineverzeichnis (siehe Kasten S. 49) im Innenhof einen Grenzstein geben. Und zwar am Isebekkanal gelegen, der hier zum Teil unterirdisch durch Eimsbüttel führt. Doch mittlerweile ist der Innenhof mit schicken Stadthäusern bebaut. Kein Grenzstein ist zu entdecken, der hier aber garantiert irgendwo liegt.

Nun nehmen wir den Bus Richtung UKE. Denn an der Ecke Hoheluft­chaussee/Troplowitzstraße befindet sich ein Grenzstein, den uns Herr Wendt ans Herz gelegt hat. Diesmal müssten wir nicht suchend auf den Boden schauen. Er steht vor uns: fast einen Meter hoch, aus Granit, aus dem Jahr 1789, verziert mit dem Wappen Chris­tian VII., König von Dänemark. „Da pinkelt der Hund gegen, aber man steht stramm“, hat Herr Wendt gesagt und gelacht.

Da wir gerade beim dänischen König sind, lässt sich auch aufklären, ob Altona damals wirklich dänisch war, wie viele meinen. „Tatsächlich war der damalige dänische König zugleich Herzog von Holstein –
und so gehörte ihm als Herzog Altona“, sagt Herr Wendt. Ent­sprechend war Altona nie Teil des dänischen Königreichs, es gab dort kein dänisches Geld, Amtssprache war nicht Dänisch, sondern Deutsch; Umgangssprache war sowieso Plattdeutsch.

Was dagegen stimmt: Altona war für damalige Zeiten eine erstaunlich liberale Stadt. Juden durften sich nicht nur ansiedeln und Gewerbe treiben, sie waren auch im Rat der Stadt vertreten; ebenso wie
Mennoniten und Katholiken, die es im benachbarten protestantischen Hamburg lange schwer hatten. Deshalb galt Altona neben Glückstadt und Friedrichstadt zu Recht als eine der norddeutschen Toleranzstädte. Dänemark dagegen war ein nach innen wie außen autoritärer Staat. Es herrschte zum Beispiel Pressezensur, religiöse Freizügigkeit gab es nicht.

In diesem Sinne ist die Beschäftigung mit den Grenzsteinen eben mehr als eine hübsche Hamburgensie. Sie ist Gelegenheit, sich auch mit politischen Brüchen und Konflikten durch die Jahrhunderte hinweg vertraut zu machen. Weshalb Herr Wendt abschließend sagt: „Sich mit Geschichte zu beschäftigen, macht einen immer wieder schlau – und das kann ja nie schaden.“

Grenzstein-Wanderung

Am besten startet man am Fischmarkt: Dort liegt mit Blick auf die Elbe der erste Grenzstein. Den Pepermölenbek hochgehen: An der Brücke prangen die Wappen von Hamburg und Altona. Über die Trommelstraße sowie Lange Straße geht es weiter bis zur Reeperbahn, Hausnummer 170.

Hier steht ein schön restaurierter Grenzpfeiler. Nun die Talstraße entlang bis Ecke Paul-Roosen-Straße. Vor der Hausnummer 5 liegt ein Stein. In der nahen Brigittenstraße finden sich drei weitere, auf der Grenzlinie
befindet sich heute das Kommunale Kino „B-Movie“. Hier verläuft übrigens die Bezirksgrenze zwischen Altona und Mitte.

Von der Thadenstraße geht es weiter über das Schulterblatt zum Doormannsweg, wo sich gegenüber der Hausnummer 43 ein Stein auf dem Grünstreifen versteckt. Von hier aus folgt man den Grenzsteinen:
über den Eimsbütteler Marktplatz durch Eimsbüttel, Langenfelde und Lokstedt und dann im Bogen nach Eppendorf. Auch auf dem UKE-Gelände befinden sich zwei Grenzsteine. Weiter nordwärts führt
der Weg dann nach Fuhlsbüttel und Langenhorn sowie Ochsenzoll.

Grenzsteine und -markierungen finden sich auch in Wandsbek, Berne, Bergstedt und in Volksdorf. Hamburgs nördlichste Grenzsteine liegen im Duvenstedter Brook; die südlichsten in Harburg am Ende der Schwarzen Berge. Hilfreich ist die Webseite www.geoportal-hamburg.de. Einfach in die Suchmaske „Grenzsteine“ eingeben. Grüne Punkte markieren die Orte. Zu jedem Punkt werden der Straßenname, die Hausnummer sowie das Baujahr des Grenzsteins angezeigt.

Artikel aus der Ausgabe:

Tafeln vor dem Kollaps

Schwerpunkt Ehrenamt: Wie mehr als 1200 Freiwillige Hamburgs Obdachlosen helfen und wieso das problematisch ist. Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) spricht im Interview über die Überwindung der  Obdachlosigkeit. Außerdem: Wieso Antiquariate ums Überleben kämpfen und manchen Geflüchteten aus der Ukraine die Abschiebung droht.

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