Reportage

„Der Bahnhof ist wie ein eigener Organismus“

Der Obdachlose Karsten bereitet sich auf seine Nacht am U-Bahnsteig vor. Foto: Mauricio Bustamante

Der Hamburger Hauptbahnhof ist Mittelpunkt zahlreicher Debatten: um Sicherheit, Drogenpolitik und Verelendung. Wer sind die Menschen, um die es in diesen Debatten geht? Eine Nacht am Hamburger Hauptbahnhof. 

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Mittwochabend am Hamburger Hauptbahnhof. Eine Masse an Menschen schiebt sich an den Gleisen entlang. Überall ist Bewegung, niemand bleibt lange an einer Stelle. Es ist ein unruhiger Ort.

In dieser Nacht Anfang Februar werden Menschen an unterschiedlichen Ecken des Bahnhofs innehalten und von diesem Ort erzählen: ein ehemaliger Sozialarbeiter, ein HSV-Fan, eine Frau namens Schnitte. Viele von ihnen verbringen ihre Nächte dort. Sie sind diejenigen, die die Debatten rund um den Hamburger Hauptbahnhof direkt betreffen; und sie sind diejenigen, die darin meist unsichtbar bleiben, weil sie selten jemand nach ihrer Meinung fragt. Was bedeutet dieser Ort für sie? 

Ein paar Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt liegt die Drogenberatungsstelle Drob Inn. Die erste Dunkelheit legt sich über den Platz vor dem Haus, Feuerzeuge klicken, Züge rauschen über die nahe gelegenen Gleise. Wenn man näher an die Silhouetten herantritt, die sich um das Gebäude sammeln – es müssen mehrere Hundert sein – zeichnen sich Gesichter ab. Eine Frau sieht sich suchend um. Ob man sie mal etwas fragen dürfe? Was macht sie hier? Katia ist 39 Jahre alt und sagt, sie suche hier nach Menschen, denn sie habe niemanden mehr. Sie erzählt von einer Trennung und dem Tod ihrer Mutter. Und dass sie vor einem Monat ihren Job als Altenpflegerin gekündigt habe, weil ihr alles zu viel wurde. Sie kam schon mal los vom Heroin, seit zwei Wochen nimmt sie es wieder, dazu manchmal auch Crack. 

Ob sie weiß, wo sie Hilfe finden kann – oder hier, das Drob Inn, ob sie da mal reingehe? „Manchmal überlege ich mir das, weil ich denke, es ist ja ihr Job, anderen Menschen zu helfen. Aber dann mache ich es nicht, weil es mir so peinlich ist, dass ich wieder abgestürzt bin. Dass ich nicht mal meine Briefe öffnen kann“, sagt sie. Sie müsste jemanden um Hilfe bitten, sagt sie, aber das kann sie gerade nicht. Sie müsse auch mal wieder zum Zahnarzt, aber auch das ist ihr peinlich.

Um kurz vor 22 Uhr bildet sich auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs, neben dem „Saturn“-Gebäude, eine Schlange. In der Dunkelheit haben Menschen in pinkfarbenen Westen Klapp­tische aufgebaut und bereiten eine Verteilaktion für Obdachlose vor. Die Szene erinnert an einen Flohmarkt: Auf mobilen Herdplatten wird gekocht, mit Taschenlampen in der Hand suchen Freiwillige in Kisten nach Schuhen, Kleidung, Lebens­mitteln und verteilen sie an die Wartenden.

An der Straßenecke gegenüber machen ein Mann und eine Frau Platte. Ob sie oft hier am Hauptbahnhof seien? Ja, schon, man müsse sie jetzt aber entschuldigen: Sie hätten ein ­Beziehungsproblem und das, na ja, sei ihr Wohnzimmer. 

Ein paar Meter weiter legen sich zwei junge Männer gerade schlafen. Einer von ihnen heißt Stefan und sagt, er mache seit mehr als drei Jahren Platte und habe eigentlich schon überall in Hamburg geschlafen. Seit etwa einem Jahr teilt er sich seinen Schlafplatz mit Richy, alleine werde man schließlich beklaut. Tagsüber seien die beiden rund um den Hauptbahnhof unterwegs, nachts schliefen sie hier beim „Saturn“-Kaufhaus. Mit der Kälte hätten sie kein ­Problem, erklärt Stefan und klopft wie zum Beweis auf seinen Schlafsack. Und warum sind sie gerade hier am Hauptbahnhof? „Hier gibt es eigentlich alles: Duschen, Essen, Klamotten. Hier in Hamburg muss niemand hungern.“ Aber was heißt das, nicht hungern zu müssen? Im Laufe der Nacht wird Richy noch mehrmals durch den Bahnhof streifen und Mülltonnen nach Pfandflaschen durchsuchen.

Am südlichen Eingang des Hauptbahnhofs, gegenüber vom Steintorplatz, bittet ein junger Mann mit einem HSV-Fischerhut um einen Kaffee und Gebäck. Er steht da, den Schlafsack über der Schulter, den Kaffee in der Hand, während rechts und links die Menschen an ihm vorbei irgendwo hinströmen, in Bars oder Restaurants oder vielleicht einfach nur nach Hause. Bedeutet dieser Ort für ihn nicht Stress, inmitten all dieser Leute? Erst versteht er die Frage nicht, dann schüttelt er heftig den Kopf. „Stress ist für mich, wenn es keine Leute gibt. Viele Leute bedeuten eine Chance auf etwas Geld, auf Essen.“ Tausende Passanten habe er heute schon gefragt, 60 Cent habe er bis jetzt und ein halbes Brötchen in der Jacke.

Er ist einer von jenen, die in der Masse auffallen, weil sie ihren anonymen Fluss stören. Und einer von jenen, für die es kaum Rückzugsorte gibt am Hauptbahnhof. Tagsüber stehen Leute angelehnt an Mauern, andere sitzen auf dem Boden, Bänke gibt es kaum. Manche ehemaligen Sitzgelegenheiten sind heute mit Gittern verkleidet. Eine der wenigen geschützten Sitzmöglichkeiten bieten die Wartehäuschen an den Bahngleisen, doch auch die schließen kurz vor Mitternacht. Wer sich dort aufhält, den erinnern Mitarbeitende des Sicherheitsdienstes der Bahn daran, dass nun Feierabend sei.

An die Ärmsten denken

Der Umbau des Hamburger Hauptbahnhofs ist wichtig für eine Stadt, die zukunftsfähig ist. Nur wie soll diese Zukunft aussehen? Not
und Verelendung sind am Hauptbahnhof besonders sichtbar. Menschen verbringen hier die Nächte und sind auf Versorgung angewiesen. Der Umbau wäre eine Chance, diesen Ort auch für sie erträglicher und zu einem gut strukturierten Anlaufpunkt zu machen. Heute ist unser Hauptbahnhof das eindeutige Bild sozialer Spaltung. Menschen in Not halten sich hier auf, weil sie auf Essen und etwas Geld zum Überleben angewiesen sind. Wenn nun Milliarden an Steuergeldern ausge­geben werden, müssen gesellschaftliche Auf­gaben mitgedacht werden. Das geht: Intelligente Architektur kann Schutzräume und soziale Strukturen schaffen. Ein Bahnhof für alle bietet Sitzmöglichkeiten, Duschen, geschützte Räume, Möglichkeiten zum Austausch und Hilfe in der Not. Werden die Planungen für den Hauptbahnhof weiterent­wickelt, sollte das einfließen. Natürlich kann nicht das Ziel sein, den Bahnhof als Schlafplatz für Arme zu gestalten. Würdiger Wohnraum ist die einzige Lösung des Problems. Die Planung eines öffentlichen Gebäudes sollte aber soziale Missstände sehen und den Anspruch haben, zu ihrer Überwindung beizutragen. aej

Am Hauptbahnhof wird es langsam ruhiger. Nach Mitternacht fahren kaum noch Züge, schließlich stellen auch die S- und U-Bahnen ihren Betrieb ein. Nur wenige Reisende sind zu sehen, stattdessen entstehen in vielen Ecken Schlafplätze. Hinter einer überlebensgroßen Hans-Hummel-Skulptur in der Wandelhalle ragen die Füße eines Menschen heraus, der Schlaf sucht. Eine Etage über ihm hat sich ein Mann einen Schlafplatz aus Kartons errichtet, der an eine Festung erinnert. Ein Straßenmusiker, der tagsüber noch Gitarre für die Vorbeigehenden spielte, hat sich neben seinem Koffer unter einer Decke eingerichtet und liegt nun schlafend an seinem Arbeitsplatz.

Im Untergrund, neben den Gleisen der U3, breitet ein junger Mann zwischen Rolltreppe und Wand einen grauen Schal aus und legt seinen Rucksack ab. Karsten ist 23 Jahre alt. Er hat das Gesicht eines alten Jungen, rote Augen und aufgerissene Hände, immer wieder reibt er sich damit über das Gesicht. Er ist so müde, dass er nicht alle Fragen beantworten kann, obwohl er möchte. Er werde nachts oft von Sicherheits­leuten vertrieben, erzählt er. Seit fünf Jahren sei er obdachlos, er wolle einfach nur schlafen. Wieso er am Hauptbahnhof ist? So genau kann er das nicht sagen, er sei auch schon mal im Winternotprogramm gewesen, aber da wolle er nicht mehr hin. Er schlafe mal hier, mal dort. „Irgendwann stresst dich ein Ort zu sehr“, sagt er.

Unten, vor dem Eingang zur U1, sitzt Schnitte und liest. Am liebsten mag sie Thriller, heute ist es einer mit dem Titel: „Jäger in der Nacht“. Das Buch hat sie gefunden, wie sie jedes ihrer Bücher findet, hier am Hauptbahnhof, in ihrer „Zentrale“. Schnitte heißt eigentlich anders, möchte aber so genannt werden. Sie sei obdachlos, seit sie als 14-Jährige aus dem Heim abgehauen sei. Heute ist sie Mitte 40, sie nehme Drogen und habe „einen Sammeltick“. Sie lebe seit Jahren mit Läusen, weil sie niemanden finde, der sie behandelt. Schnitte zählt all die Dinge auf, die es ihr schwer machen, in ein Leben abseits der Straße zu finden. Dann fragt sie: „Warum kann man nicht jedem die Chance geben, in eine Wohnung zu ziehen? Und wenn es klappt, dann darf man dort bleiben.“ Für sie, sagt Schnitte, hätte sich vielleicht viel verändert, wenn ihr jemand vor Jahren dieses Angebot gemacht hätte. 

Viele der Menschen, die man nachts am Hauptbahnhof antrifft, sind obdachlos, doch in ganz unterschiedlichen Phasen ihres Lebens. Da ist zum Beispiel Marcello, ein junger Mann, der gerade auf die Hilfe hofft, die Schnitte bis heute nicht bekommen hat.

Seit eineinhalb Jahren sei er obdachlos, ursprünglich komme er aus Bremerhaven. Der Rucksack mit seinen Papieren sei ihm geklaut worden, die brauche er aber, um eine Wohnung oder Sozialhilfe zu bekommen. „Ich versuche gerade mit Sozialarbeitern, die wiederzubekommen. Ich habe aber keine Ahnung, wie lange das noch dauert“, sagt er. Bis es so weit ist, schlafe er jeden Tag woanders. Und der dauernde Lärm, die Lichter, die vielen Menschen, strengt ihn das nicht an? „Das ist für mich kein Problem. Daran habe ich mich gewöhnt. Manchmal macht jemand Ärger, aber das gehört dazu.“ Eigentlich hatte sich Marcello geschworen, nie Alkohol zu trinken. Bei seiner Mutter, die Alkoholikerin war, habe er gesehen, was das mit Menschen macht. Doch mittlerweile schafft er keinen Tag mehr ohne. „Irgendwie muss man sich zum Betteln überwinden.“

Um 00:27 Uhr schimpft ein Mann über drei Security-Mitarbeiter, sie hätten ihn mit seinem Essen aus dem Bahnhof vertrieben. Um 1:50 Uhr sitzen drei gestrandete Reisende auf Gleis 8. Um 1:58 Uhr wischt ein Mann mit orangener Weste den Boden zur U1. Wird hier jede Nacht sauber gemacht? „Ja“, sagt er und setzt seine Arbeit fort.

Um kurz vor 4:00 Uhr grüßt in der Wandelhalle ein Mann mit einem Rollator, auf den er einen Rollkoffer geschnallt hat. Ob man mal 30 Cent für einen Döner habe, fragt er, lacht, unterbricht sich: Ein Scherz, er sei doch nur ein gestrandeter Rentner, 66 Jahre alt, auf dem Weg von seiner Eigentumswohnung in Laboe zu seiner Tochter in Süddeutschland, und habe den letzten Zug verpasst. Er war mal Sozialarbeiter, deshalb sei das für ihn hier am Hauptbahnhof so interessant. Er ist der Erste in dieser Nacht, der nicht von Einsamkeit erzählt, sondern von einem glücklichen Leben. Dann holt er eine Flasche Schnaps hervor, der einzig erkennbare Inhalt seines großen, schwarzen Rollkoffers, und trinkt alleine einen Schluck. 

Auf dem frisch gewischten Boden des Südstegs stehen oberhalb von Gleis 11 zwei Männer am Geländer, einer sitzt im Rollstuhl, der andere, Peter, steht daneben. Sie werden zwei Stunden später immer noch hier stehen, als der Bäcker gegenüber die ersten Frühstücksbrötchen verkauft und sich der Bahnhof langsam wieder füllt. 

Ein bisschen surreal sei das hier am Hauptbahnhof, sagt Peter, der manchmal bei seinem Bruder schlafen darf und die Nächte sonst auf der Straße oder eben am Bahnhof verbringt. Einmal habe er richtig Panik bekommen, als ihm klar wurde, inmitten wie vieler Menschen er sich hier befand. „Der Bahnhof lebt, er hält nie still. Aber so muss es ja auch sein. Für mich ist der Bahnhof wie ein eigener Organismus.“

Außerdem bekomme man immer mal einen Kaffee oder auch ein Brötchen geschenkt. Im Moment warte er aber nur darauf, dass die Züge wieder fahren und er so zu seiner Substitutions-Ambulanz komme. Froh sei er, dass er heute statt Straßendrogen mit Ersatzstoff klarkomme. Sorgen macht er sich dennoch: „Ich bin jetzt 52. Wie soll das sein, wenn ich 60 oder 70 bin? Daran will ich gar nicht denken“, sagt Peter und denkt dann doch laut darüber nach: „Ich will endlich Feierabend machen. Ich habe keine Lust mehr, und es geht auch einfach nicht mehr. Durch die Sucht komme ich nicht mehr aus der Obdachlosigkeit raus. Da bin ich mir sicher. Ich werde wohl damit sterben. Ein Freund von mir ist vor einer Weile einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Das wäre mein Traum.“

Unten an der U3 sieht man etwas später noch einmal Peters Kumpel in seinem Rollstuhl, diesmal ist er allein. Er dreht sich suchend nach den Menschen um, man versteht ihn kaum, als er in die Menge fragt: „Wie spät ist es, wie spät ist es?“ Die Leute hasten vorbei. Es ist 6:42 Uhr. Ein neuer Tag am Hauptbahnhof beginnt.

Artikel aus der Ausgabe:

Frauen im Hafen

Der Hamburger Hafen ist eine Männerdomäne? Von wegen! Wir stellen Frauen vor, die den Hafen verändern. Außerdem: Philosophin Eva von Redecker im Interview über die Rolle von Frauen in Revolten, eine Reportage über Menschen am Hauptbahnhof und ein Porträt von Boxweltmeisterin Dilar Kisikyol, die für Inklusion und Feminismus kämpft.

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Autor:in
Lukas Gilbert
Lukas Gilbert
Studium der Politikwissenschaft in Hamburg und Leipzig. Seit 2019 bei Hinz&Kunzt. Zunächst als Volontär, seit September 2021 als Redakteur.
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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