Buch „Blumen und Brandsätze“

Ein neuer Blick auf Deutschland

Klaus Neumann im Gespräch mit Hinz&Kunzt- Autor Frank Keil. Foto: Mauricio Bustamante

Der Kulturwissenschaftler Klaus Neumann untersucht in seinem Buch „Blumen und Brandsätze“ die Geschichte des Umgangs mit Geflüchteten in Hamburg-Altona und in der Sächsischen Schweiz. Eine Begegnung.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Achtung! Das Buch, um das es gleich geht, kann einen aufwühlen. Es kann einen auch beschämen, während man es liest: Habe ich das alles vergessen? Etwa, dass im Mai 1993 im Deutschen Bundestag mit dem sogenannten Asylkompromiss das Recht auf Asyl, das bis dahin als unantastbar galt, ein­geschränkt wurde? Dass die Stadt Hamburg seinerzeit die ihr damals zugewiesenen DDR-Übersiedler:innen, dann die Aussiedler:innen und schließlich Kriegsgeflüchtete jahrelang auf Schiffe in Altona verfrachtete, zuweilen in gerade mal acht Quadratmeter großen Viererkabinen? Und dass, nachdem die sogenannten Flüchtlingsschiffe 2006 endlich abgeschafft wurden – da saßen die Grünen mit im Senat –, die nächsten Schutzsuchenden in ein abgelegenes Dorf in Mecklenburg-Vorpommern gebracht wurden, wo weder ein Arzt noch eine Bushaltestelle in der Nähe waren? Hieß eines der Flüchtlingsschiffe nicht so neckisch „Bibby Altona“? Und hieß das Dorf nicht „Horst“? Langsam fällt einem wieder so einiges ein.

Klaus Neumann beschwichtigt: „Es ist ja auch lange her.“ Er ist der ­Autor des neuen, faktenreichen ­Buches „Blumen und Brandsätze“, eine historische Studie und keine ­programmatische Schrift, die sich in aller Ruhe und Ausführlichkeit der ­Geschichte des Umgangs mit Geflüchteten in Deutschland widmet: von 1989 an und damit den Tagen vor, während und nach dem Mauerfall bis ins vergangene Jahr 2023. 34 Jahre also.

2018 beginnt er mit der Arbeit an seinem Buch. Wobei – die Idee dazu hat er schon länger, langsam entstanden durch seinen Blick auf Deutschland aus der Ferne. Denn während seines Studiums der Kulturwissenschaften interessieren ihn zunächst Kulturen außerhalb Europas. Zwei Jahre lebt er in einem kleinen Dorf auf der Insel Neubritannien, die zu Papua-Neuguinea gehört, arbeitet an einer ethnografischen Studie, lernt dafür die lokale Sprache. Anschließend zieht es ihn ins australische Melbourne.

Von 1989 auf 1990 ist Neumann etwas länger auf Besuch in Deutschland. „Ich fand es sehr unangenehm hier – besonders die Stimmung gegenüber ausländischen Menschen“, sagt er. 1991 kommt es in Hoyerswerda zu rassistischen Ausschreitungen, 1992 folgen der Brandanschlag in Mölln und der Angriff auf das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, 1993 der ­Anschlag in Solingen.
Doch dann, gut 20 Jahre später, der Sommer 2015: Zigtausende kommen über die Balkanroute nach Europa und nach Deutschland. Angela Merkel ruft: „Wir schaffen das!“ Die Szenen etwa auf dem Münchner Hauptbahnhof, wo den Geflüchteten Essen, Kleidung und eben Blumen überreicht werden, sind auch im australischen Fernsehen zu sehen, und die dortigen Zuschauer:innen sind verblüfft. „Dazu muss man wissen, dass Australien, was Flüchtlinge angeht, sehr rigide ist“, sagt Neumann. Nicht gegenüber ­denen, die legal einreisen, da sei man sehr großzügig. „Aber bei denen, die mit Booten versuchen, ins Land zu kommen, kennt man keine Gnade.“

Ein Melbourner Magazin schickt ihn für einige Wochen nach Deutschland, er berichtet über das Engagement und die Euphorie, die damals herrscht. „Ich habe Deutschland nicht wieder­erkannt“, sagt er. 2018 zieht Klaus Neumann zurück nach Deutschland, geht nach Hamburg. Noch immer sei ihm das Land anfangs entspannt vorgekommen. Was sich ändern wird, je mehr er in die Forschungen zu seinem Buch eintaucht.

Besonders interessiert ihn das ­Lokale: Er blickt dabei immer abwechselnd in den Bezirk Hamburg-Altona und in den Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Nicht um zu vergleichen, sondern um in der Unterschiedlichkeit der beiden Regionen immer wieder neu zu untersuchen, was geschieht, wenn sich das Geschehen von der großen Politik weg hin vor die eigene Haustür verlagert. Wenn ­eine Wiese mit Wohnpavillons für Über- und Aussiedler:innen bebaut werden soll, wie im Februar 1990 im Hemmingstedter Weg in Osdorf, Bezirk Altona. Oder wenn im Winter 1991 ein leer stehendes, ehemaliges Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter:innen als Durchgangslager für Asylsuchende genutzt werden soll, wie im sächsischen Porschendorf, 30 Kilometer südöstlich von Dresden. Wie die Bevölkerung ­reagiert, sich ­positioniert. Wie Politiker:innen sich Stimmungen widersetzen oder sie anheizen. Ob sich Unterstützer:innen von Geflüchteten aus der Deckung wagen. Auch ob man am Ende Kompromisse findet oder nicht: Im Hemmingstedter Weg kann die örtliche Kirchengemeinde eingebunden werden; bietet an, sich um die Ankommenden zu kümmern und bekommt dafür eine lange gewünschte Kita, ein Deal sozusagen. Auch in Porschendorf gelingt es schließlich, die ört­lichen Proteste gegen die Einrichtung ein­zudämmen. Im benachbarten ­Pirna dagegen kommt es zu ­gewalttätigen Aktionen und Über­griffen. Es gibt ­allerdings ein kleines ­Detail: Trotz der weitgehend feindlich-­verfestigten Stimmung schlägt eine kleine Gruppe von Porschen­dorfer:innen, die in der Wendezeit ­aktiv waren, vor, die ­Ankommenden doch besser dauerhaft in gemeinde­eigenen Wohnungen unterzubringen, damals ein Novum.

Klaus Neumann schaut dazu in Archiven, wühlt sich durch Verwaltungs­akten, Drucksachen und Sitzungs­protokolle, etwa von Stadtrats- und Kreistagssitzungen. Er wertet Zeitungsartikel und Flugblätter aus, führt gut 170 Interviews. Er begleitet Bürgerinitiativen, die angetreten sind, um die Unterbringung von Geflüchteten zu verhindern oder die sich gründen, um ihnen zu helfen. Er zeichnet nach, wie sich die Gemüter erregen und wieder beruhigen. Und er erzählt etwa die ­Geschichte der Auseinandersetzung um die geplante Unterbringung von 4000 Geflüchteten auf einem Areal ­nahe des Krankenhauses Rissen im Herbst 2015 – und wie die dortige Bürgerinitiative am Ende den Hamburger Senat und die Bürgerschaft dazu bringt, mit ihnen einen „Bürgervertrag“ abzuschließen, der ihren Einfluss auf die Gestaltung sichern soll.

„Es ist sicherlich eine gute Idee, solche Verträge zwischen einer Bürgerinitiative und der Politik zu schließen“, sagt Neumann rückblickend. „Nur …“, er setzt eine kurze Pause: „Wie ist das ­demokratisch legitimiert?“ Landesparlamente wie lokale Parlamente werden regelmäßig gewählt; und wie setzt sich eine Bürgerinitiative zusammen? „Besonders wenn es um die ­Einzelheiten in einem solchen ­Vertrag geht, dann sind nur noch ganz ­wenige Bürger involviert.“

Wenn Klaus Neumann zwischen dem Osterzgebirge und Altona pendelt, trifft er immer wieder auf jede Menge Vorurteile. „Man weiß ja oft, wie die anderen sind, bevor man sie überhaupt gesehen hat“, sagt er. Und so, wie man ihm in Sachsen berichtet habe, in Hamburg-Altona gebe es eine Parallelgesellschaft, in der sich die deutschen Bewohner:innen fremd und unwohl fühlen, denke man in Altona bei Sachsen generell an Dunkeldeutschland, wo alle die AfD wählen würden: „Man zählt sich nicht nur in Altona schnell zu den Guten, die nicht so sind wie die anderen.“

Man merkt zugleich beim Lesen, wie sein Ton nüchterner und dann pessimistischer wird, je mehr er in der Gegenwart ankommt. Ein Beispiel: Begonnen hat Klaus Neumann seine Recherche gleich nach seiner Ankunft in Berlin mit einem Besuch bei einem Diskussionsforum für die Seenotrettung im Mittelmeer: der Saal voll, die ­Stimmung bestens. Kein Wunder: Tags zuvor hatten sich bei einer ­Demonstration rund 10.000 Menschen unter der Losung „Seenotrettung ist kein Verbrechen!“ versammelt. „Als ich die letzten Seiten von ‚Blumen und Brandsätze‘ schrieb, empörte sich kaum noch jemand über die Krimi­nalisierung der Seenotretter.“

Und doch will er unser Gespräch nicht allzu pessimistisch beschließen. Er geht gedanklich noch einmal ins Dresdner Umland, in die 40.000-Einwohner-Städte Pirna und Freital, wo die AfD bei den letzten Wahlen je etwa gleich hohe Stimmenanteile erzielen konnte. „Das sind Städte, in denen das Wort des Oberbürgermeisters bei den Menschen noch ein ganz anderes Gewicht hat als das einer Bezirksamts­leiterin in Altona.“ In Freital stehe dem Rathaus derzeit ein Politiker vor, der wegen der Corona-Politik der Landesregierung aus der CDU ausgetreten sei und der wenig Sympathien für Asylsuchende zeige. In Pirna gebe es jetzt einen Oberbürgermeister, der zwar nicht Mitglied der AfD sei, aber von ihr aufgestellt wurde. Und doch gebe es zwischen beiden Orten einen wesentlichen Unterschied: „Im Gegensatz zu Freital gibt es in Pirna eine ­starke und aktive Zivilgesellschaft, und zwar auch deshalb, weil es dort vorher einen Oberbürgermeister gab, der ­klare Kante gezeigt hat; der sagt: ,Wir müssen die Würde der anderen ­achten‘“, sagt Klaus Neumann. Das sei doch schon mal was. Und er setzt ­hinzu: „Es macht einen großen Unterschied, ob Leute Haltung zeigen; ob sie sagen: ‚Bleib anständig, stell dich ­dagegen – ich mache das, und du kannst das auch!‘“ Oder ob nicht.

Artikel aus der Ausgabe:

Schöne neue Fahrradwelt?

Läuft Hamburgs Umbau zur „Fahrradstadt“ eigentlich sozial gerecht ab? Antworten gibt unter anderem Verkehrssenator Anjes Tjarks. Außerdem: Reportage aus einem Pflegeheim für Alkoholkranke und ein Gespräch mit Rocko Schamoni über seine Anfänge in Hamburg.

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