Roma in Hamburg : „Betteln ist seelische Erniedrigung und physische Qual“

Regisseur Andrei Schwartz (rechts) mit Protagonist Tirloi. Foto: Andreas Hornoff

Im Interview spricht Regisseur Andrei Schwartz über seinen Film „Europa Passage“. Fünf Jahre lang hat er rumänische Roma begleitet, die in Hamburg auf der Straße leben und betteln.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Hinz&Kunzt: Herr Schwartz, Ihre Protagonist:innen pendeln zwischen der Obdachlosigkeit in Hamburg und ihrem trostlosen Heimatort in den Karpaten. Sie haben selbst rumänische Wurzeln – mit welcher Intention sind Sie dieses Projekt angegangen?

Andrei Schwartz: Es ist wie immer. Man findet Leute, die interessant sind, und dann will man wissen: Wie funktioniert ihr Leben? Und was hat dieses Leben für einen Preis?

Die wichtigsten Personen sind das Ehepaar Maria und Tirloi. War es schwer, ihr Vertrauen zu gewinnen?

Das ist bei diesen Menschen generell extrem schwer, weil sie zu oft die Erfahrung gemacht haben, immer wieder etwas zu verlieren. Ein Leben im Schatten war deshalb das, was für sie am besten funktioniert hat. Mit Maria und Tirloi ging es über die Sympathieebene: Sie haben gemerkt, dass wir Filmer sie als Menschen mögen.

Mit den anderen aus der Gruppe war es schwieriger?

Es wurde extrem kompliziert im Winter 2016/17, als sie aus dem Winternot­programm ausgeschlossen wurden und ihnen verklickert wurde, das hätten sie mir zu „verdanken“, weil ich sie in ­Rumänien gefilmt habe und sie dort ­eine Adresse hätten. Das war natürlich vorgeschoben, man wollte hier in Hamburg seitens der Sozialbehörde einfach keine rumänischen Bettler. Trotzdem gab es aus der Gruppe viel Aggressivität uns gegenüber. Maria und Tirloi haben uns aber weiter vertraut. Umso schöner war es, dass wir dann später sogar ein wenig mithelfen konnten, dass die zwei tatsächlich eine kleine Wohnung bei ­einer kirchlichen Gemeinde in Bramfeld bekommen haben.

Beide leben hier zunächst lange als Obdachlose, schlafen unter Brücken oder in Baracken, verdienen sich
ganz kleines Geld durch Betteln. Was empfindet man da hinter der Kamera: Scham, Traurigkeit, Wut?

Vor allem die körperliche Kälte. Nach vier, fünf Stunden im November draußen auf der nassen Platte haben wir manchmal gesagt: „Maria, wir zahlen dir jetzt zehn Euro, lass uns nach Hause was essen gehen.“ Es handelt sich beim Betteln nicht nur um eine seelische ­Erniedrigung, sondern auch um eine physische Qual.

Lautet die Antwort auf die Frage „Warum macht jemand das?“: Weil zu Hause in den Karpaten alles noch schlimmer ist, dort, wo das Binden von Reisigbesen lächerliche 40 Cent pro Stück bringt?

Ja. Rumänien bedeutet: Sie haben wirklich null Einkommen. Und jetzt teilen Sie doch mal 15, 20 hier erbettelte Euro am Tag durch Null – das ergibt mathematisch: unendlich! So ist dieser Mechanismus. Diese Menschen sind Proletarier, sie können nicht lesen und schreiben, sind es aber gewohnt, hart zu arbeiten. Aber für sie gibt es zu Hause einfach nichts. Und hier in Hamburg gibt es neben Betteln für solche ­Obdachlose wegen der fehlenden ­Anmeldung auch einen Markt für Schwarzarbeit. Billig-Arbeitskräfte ­werden überall gesucht.

Hier allerdings von sonst niemandem wirklich gewollt zu sein, schon gar nicht von Ämtern und Behörden:
Empfinden Sie selbst so viel Ablehnung als unmenschlich?

Ich bin kein Patriot, aber wenn mir etwas naheliegt, dann Hamburg. Ich ­lebe seit 1978 hier, hier fühle ich mich zu Hause. Über diesen Film habe ich auch die hässliche Fratze von Hamburg erlebt, mit behördlichem Rassismus. Etwa Polizisten, die die Gruppe morgens um sechs Uhr in der Kälte aus einem Schlafplatz in einer abgelegenen Ruine verjagen. Und bei so einem Film kann man ja nicht sagen: 16 Uhr ist Feierabend, ab nach Hause. Man ist involviert, und es nimmt einen mit.

Etliche rumänische Verwandte teilen das Armutsleben in Hamburg mit Maria und Tirloi. Macht es das erträglicher?

Tirloi hat ja inzwischen hier seinen Platz gefunden, mit Wohnung und sogar legaler Arbeit. Er identifiziert sich mit Hamburg und hat große Angst, dass dieses fragile Kartenschloss wieder zusammenfällt. Maria war die Chefin zu Hause, sie ist seinetwegen hier, aber mit dem Kopf immer noch im Dorf. Die beiden halten zusammen, sitzen aber nicht mehr wirklich im ­selben Boot. Das ist der Preis, den sie zahlen. Und es gibt eine zweite Spaltung – dadurch, dass sie als Einzige eine Wohnung haben. Da gibt es häufig Anfragen, etwa: „Können wir bei euch duschen?“ Letztes Jahr mussten die zwei 1400 Euro bei den Wasser-Nebenkosten nachzahlen. Und da überlegen sie natürlich dreimal, ob jemand anders bei ihnen duscht. Dadurch sind sie in einem ständigen Konflikt.

Die Betroffenen scheinen ihr Schicksal dennoch stoisch, fast fatalistisch zu ertragen …

Das täuscht. Eigentlich versuchen sie nur, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Wenn sie dann am Sonntag alle zusammen sind, dann lachen sie sich auch übereinander kaputt. Ohne diesen Humor wäre alles verloren.

Artikel aus der Ausgabe:

wild wilder Wald

Warum Wälder in der Stadt unverzichtbar sind, wo man trotzdem noch Wohnungen bauen kann und wieso der Sachsenwald zwielichtige Gestalten anzieht. Außerdem: Armutsbetroffene protestieren und Bildungsforscher Aladin El Mafaalani erklärt, was Armut mit Kindern macht.

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Autor:in
Jochen Harberg
Seit über 40 Jahren im Traumberuf schreibender Journalist, arbeitete festangestellt u. a. für Stern und Welt am Sonntag. Seit 2019 mit großer Freude im Team von Hinz&Kunzt.

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