Überlastung im Grundsicherungsamt

Praktisch verschlossen

Ein älterer Mann mit weißen Haaren und Brille steht vor dem Bezirksamt Mitte
Ein älterer Mann mit weißen Haaren und Brille steht vor dem Bezirksamt Mitte

Hamburgs Grundsicherungsämter schotten sich zunehmend ab – zum Leidwesen vieler Hilfesuchender.

Rainer Kurda ist einiges gewöhnt, was Ämter angeht. Seit zwölf Jahren begleitet der 78-Jährige Hilfesuchende bei Behördengängen. Doch ­was der pensionierte Nachrichtentechniker an diesem Dienstagmorgen Ende November 2022 im Grund­sicherungsamt Mitte erlebt, verstört selbst den erfahrenen Behördenlotsen. „Erst mal war ich vor allem erbost“, ­erinnert sich der Ehrenamtliche. „Dann musste ich meine Gedanken sortieren.“ Noch am selben Tag fertigt Kurda ein Gedächtnisprotokoll an.

Der Behördenlotse hat ein Ehepaar begleitet, das ­Leistungen für Asylbewerber:innen beantragen will. ­Sozialberaterin Christel Ewert hatte zuvor versucht, für das Paar telefonisch einen Termin beim Amt zu vereinbaren – erfolglos. Daraufhin hatte sie Kurda um Unterstützung ­gebeten. Als der Behördenlotse und das Ehepaar in das ­Behördengebäude in der Caffamacherreihe treten, nehmen sie als Erstes „großes Durcheinander“ wahr: „Einige der 40 bis 50 anwesenden Menschen liefen laut rufend und ­gestikulierend hin und her, lieferten sich mit den Sicherheitskräften heftige Wortgefechte und wurden von diesen zum Teil handfest zum Verlassen der Örtlichkeit aufge­fordert“, schreibt Rainer Kurda in seinem Bericht.

Eine Woche später sagt er am ­selben Ort im Gespräch mit Hinz&Kunzt: „Normalerweise läuft es auf Ämtern doch so: Du ziehst eine Wartenummer, und wenn die Nummer aufleuchtet, bekommst du Zugang zum Sachbearbeiter.“ Hier sei es jedoch komplett anders gewesen. „Die Leute ­waren richtig aufgebracht, wohl weil sie keinen Termin ­bekamen.“ Rainer Kurda will es genau wissen: Er geht zu ­einem Pult in der Mitte der Eingangshalle und erfährt dort, dass selbst für Notfälle an diesem Tag keine Zugangskarte mehr zu erhalten sei – obwohl das Amt erst seit wenigen Minuten geöffnet hat.

Der Behördenlotse spricht einen der Sicherheitsmit­arbeiter an. Am besten sei es, sich morgens um 6 Uhr vor das Amt zu stellen, erzählt dieser. Wenn die Tür des Bezirksamts um 7 Uhr aufgehe, habe man so eine gute Chance, einen Termin ab 8.30 Uhr zu bekommen. Allerdings würden nur zehn Karten für Notfälle vergeben, weil das Amt nur zehn Fälle pro Tag bearbeiten könne. Zehn ­Fälle? „Früher waren es mal 40“, habe der Sicherheitsmann gesagt. Rainer Kurda und das Ehepaar müssen unverrichteter Dinge nach Hause fahren. Ihr Begleiter kann es immer noch nicht fassen: „Eine Behörde muss für die Menschen zugänglich sein! Das Mindeste, das ich erwartet habe, war, dass wir die Gelegenheit bekommen, einen Antrag aus­zufüllen und abzugeben.“

Die Erlebnisse des ehrenamtlichen Helfers sind kein Einzelfall. Bereits im Oktober forderte die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Hamburgs Bezirksamtsleitungen dazu auf, den Zugang zu Grundsicherungsleistungen ohne Einschränkungen zu gewährleisten. Grund dafür: Anders als es das Gesetz vorsieht, sind einige Ämter derzeit für Hilfesuchende praktisch verschlossen. Stellvertretend für alle erklärte der Eimsbüttler Bezirksamtsleiter Kay ­Gätgens die Missstände mit den Folgen des Ukraine-Krieges. Die Geflüchteten würden die Grundsicherungsämter vor ­eine „weitere große Aufgabe“ stellen. Deshalb seien „nicht alle Abteilungen in der Lage, entsprechende Servicezeiten für eine Vorsprache ohne Termin umzusetzen“.

Das Bezirksamt Mitte erklärte auf Nachfrage: „Den ­beschriebenen Einzelfall können wir so nicht bestätigen.“ Richtig sei, dass das Grundsicherungsamt in den vergangenen Monaten „erhebliche Steigerungen der Fallzahlen zu bewältigen hatte“. Doch sei die Behörde zweimal die Woche für persönliche Vorsprachen geöffnet. Termin­buchungen, so die Sprecherin des Bezirksamts, seien allerdings nur online möglich. Die im Bericht des Ämterlotsen erwähnten zehn Nummern seien „für Notfälle, die keinen Aufschub zulassen, oder für Personen, die keinen Zugang zur Online-Terminvergabe haben“. Im Übrigen wechsle die Zuständigkeit für Asylbewerber:innen ab ­Januar zur Innenbehörde.

Im Bezirksamt weist ein Aufsteller Hilfesuchende da­rauf hin, dass sie im Internet einen Termin buchen können. Sozialberaterin Christel Ewert empört das: „Viele haben doch gar nicht die Ausstattung dafür!“ Für das Ehepaar hat sie noch am gleichen Tag nach einem Online-Termin geschaut. Der wäre jedoch frühestens eine Woche später möglich gewesen. Deshalb wurden die Leistungen für das Ehepaar schriftlich beantragt. Bis Redaktionsschluss (14.12.) habe es keine Eingangsbestätigung oder Rückmeldung ­seitens des Grundsicherungsamtes gegeben. Auf Hilfe wartete das Ehepaar Mitte Dezember noch immer vergeblich.

Artikel aus der Ausgabe:

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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