„Wir wollen dich hier nicht!“

Straßenkinder fliehen vor Vernachlässigung oder Missbrauch auf die Straße. Dort führen sie ein Leben zwischen Traum und Trauma

(aus Hinz&Kunzt 168/Februar 2007, Jugendausgabe)

Jessy ist 17, seit fünf Jahren Punk: Ihre Haare hat sie selbst gefärbt, die alte Jeans mit Kugelschreiber bekritzelt, an den Schuhen klirren kleine Glöckchen bei jedem Schritt. Um den Hals trägt sie eine Kette mit einem kleinen Totenkopf – ein Geschenk von ihrem Freund Keisake aus Tokio. Sie hat ihn in einem Internetchat kennengelernt, als sie noch aufs Gymnasium ging und davon träumte, irgendwann mal Japanologie zu studieren. Als ihr Leben noch in geordneteren Bahnen verlief.

Punk wird sie mit 12. Ihre Mutter hatte zu ihr gesagt: „Du bist aufsässig wie ein Punk.“ Jessy hat nur vage Vorstellungen, was das ist. Aber sie ist neugierig. Ein paar Tage später geht sie allein auf den Wandsbeker Marktplatz, da hockt regelmäßig eine Gruppe Punks und schnorrt. Jessy stellt sich dazu, alle sind nett zu ihr, sie fühlt sich ernst genommen von denen, die frei leben und sich von niemandem etwas sagen lassen. „So bin ich“, denkt Jessy.

Zu Hause erlebt sie die Hölle: Ihre Mutter hat einen neuen Mann kennengelernt. Der prügelt und missbraucht das Mädchen. Irgendwann setzt Jessy eine Grenze. „Wenn noch was passiert, haue ich ab“, schwört sie sich.

Jessy fällt es heute noch schwer, von dieser Zeit zu erzählen. Sie kratzt an ihren Nägeln, pult kleine Nagellackreste ab, das macht sie, wenn sie nervös ist. Dann erzählt sie von dem Moment, als ihr Stiefvater die Grenze endgültig überschritten hat – und Jessy auf die Straße geht. Es begannt mit einem normalen Konflikt: Jessy wollte mit einer Freundin weggehen, ihr

Stiefvater war dagegen. Er brüllte, drohte, aber Jessy wollte sich diesmal nicht einschüchtern lassen. Da packte der Stiefvater Jessy und schlug ihren Kopf mehrmals mit aller Kraft gegen eine Wand.

Im Café Sperrgebiet lebt ein ganzer Kuscheltierzoo auf blauen Sofas. Im Bücherregal der Anlaufstelle für Prostituierte in St. Georg stehen Gesellschaftsspiele, Frauenromane von Danielle Steel und Groschenhefte mit Alpenromantik auf dem Cover. An den Wänden: Bleistiftzeichnungen von Comicfiguren, aber auch Buntstiftbilder, wie sie Kinder malen. Nicht nur Punks wie Jessy, auch viele Prostituierte in St. Georg haben ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße. Die Jüngsten, die ins Sperrgebiet kommen, sind 13 Jahre alt.

Auf dem Tisch liegt ein Buch mit orangenem Einband, es sieht aus wie ein Poesiealbum. „Fiese-Freier-Buch“ ist mit Edding auf den Einband gemalt. Drin stehen Warnungen, aufgeschrieben mit runder Mädchenschrift. Vor dem älteren Herren, der Mädchen schlägt, die nicht alles mitmachen, was er will. Oder die vor dem VW, bei dem sich auf dem Hintersitz ein zusätzlicher Mann versteckt. Dazu die Autonummern. Denn Prostitution bedeutet in St. Georg für Minderjährige: Autostrich.

„Es gibt auch Hotels, vor denen sich erwachsene Frauen anbieten“, erklärt Stefanie Leich, Sozialpädagogin im Café Sperrgebiet, „aber Hoteliers, die das Minderjährigen erlauben, drohen Strafen.“ Illegale Prostitution ist gefährlich, im Auto sind die Mädchen schutzlos den Freiern ausgeliefert.

200 Frauen kommen regelmäßig hierher – um mit den Sozialarbeitern zu reden, von einer Ärztin untersucht zu werden, auszuruhen, an manchen Tagen können hier auch Frauen übernachten. Etwa 30 der jungen Prostituierten sind minderjährig. Manche arbeiten in zweiter Generation: „Wir haben hier Mädchen, deren Mütter schon in St. Georg anschaffen gingen.“ Mit Schule oder normalen Kontakten zu Gleichaltrigen lässt sich das Leben am Hansaplatz kaum verbinden: „Wenn die anderen Mädchen übers Flirten und die erste Liebe reden, was sollen unsere Frauen dann erzählen?“

In einer Ecke des Aufenthaltsraumes hängen neun Kreuze, darunter sind Teelichter drapiert. Bei jedem Kreuz steht der Vorname eines Mädchens. Maria und Melanie stehen da, die 2001 in St. Georg erwürgt wurden. Ein anderes Mädchen ist erfroren. Eine starb an einer Überdosis. „Wir wissen nicht, ob etwas schief gegangen ist, oder ob sie einfach keine Lust mehr hatte.“

Das Jugendamt bringt Jessy in einer Jugend-WG unter. Inzwischen ist sie 14. „Das war furchtbar da“, erinnert sie sich, „jeden Tag hatten meine Mitbewohner andere Leute zum Saufen und Kiffen da.“ Ein paar Jungs haben es auf Jessy abgesehen, zweimal wird sie von den Betrunkenen fast vergewaltigt. So oft es geht, verlässt sie nachts die Jugendwohnung. Schläft bei Bekannten. Schlägt sich die Nacht auf dem Kiez um die Ohren. Oder übernachtet auf der Straße, bei „ihren“ Punks. Die Schule hat sie abgebrochen.

Immerhin hat sie wieder Kontakt zu ihrem leiblichen Vater, seit sie von zu Hause weg ist. „Er hat zu mir gesagt, dass er stolz auf mich ist – das habe ich damals von niemandem gehört“, sagt Jessy. Wenige Wochen später stirbt er, und sie fühlt sich einsam. So einsam, dass sie bei ihrer Mutter anruft und nach Hause will. Die Antwort: „Du kannst kommen, aber du weißt, wir wollen dich hier nicht.“

Danach geht sie zurück in die Jugendwohnung. „Ich konnte nicht aufhören zu heulen“, sagt Jessy, „die anderen waren echt genervt von mir.“ – „Sauf was, dann geht’s dir besser“, raten ihre Mitbewohner. Jessy beginnt zu trinken. Noch heute wird sie zappelig, wenn sie einen Tag keinen Alkohol bekommt.

Auf eine Sache freut sie sich: Jeden Nachmittag klingelt ihr Handy. Keisake will mit ihr reden. Die Internetbekanntschaft entwickelt sich zu Jessys wichtigstem Freund außerhalb der Punk-Szene. Jessy träumt von Japan, während sie in Hamburg im Schlafsack auf der Straße liegt. Malt Mangas, die japanischen Comicfiguren mit den riesigen Augen. Und schreibt Gedichte über das Leben als Straßenkind.

Manchmal gehen Marc Olszewski die Argumente aus: „Wie soll ich einem 21-Jährigen, der seit vier Jahren nix gemacht und auf der Straße gelebt hat, sagen: Raff dich auf, du hast noch eine Chance auf einen Job? Völlig unrealistisch, bei der aktuellen Arbeitsmarktsituation.“

Marc Olszewski ist Sozialarbeiter bei Off Road Kids. Das Büro in St. Georg ist nüchtern eingerichtet, hier gibt es keine kuscheligen Sofas und bunte Farben. Seit zwei Jahren arbeiten die Streetworker in der Büroatmosphäre. Denn der Arbeitsplatz der Sozialarbeiter ist eigentlich auf der Straße.

Das Off-Road-Kids-Konzept funktioniert so: Möglichst schnell sollen die Sozialarbeiter in den Metropolen minderjährige Ausreißer ansprechen – noch bevor die in der Szene Kontakte aufbauen. Und im günstigsten Fall wieder zurückschicken in die Heimatorte.

Mehr als 900 Kinder konnte die Organisation, die auch Projekte in Berlin, Dortmund und Köln betreibt, so nach eigenen Angaben seit 1994 von der Straße wegbringen. In Hamburg ist die Zielgruppe der „Ausreißer“ allerdings nicht so stark vertreten. Kinder, die sich von der Punk-Szene angezogen fühlen, gehen nach Berlin und Köln: „Das war zu Hafenstraßen-Zeiten sicher anders.“

Ein größeres Problem sind in Hamburg die Jungerwachsenen: „Die fallen durch jedes Raster.“ Jugendhilfemaßnahmen greifen nicht mehr. Und viele ARGE-Mitarbeiter schlagen den Jungerwachsenen vor, doch einfach wieder zurück zu ihren Eltern zu gehen, statt ihnen

eine Wohnung zu bezahlen. Minderjährige, die in Hamburg auf der Straße leben, sind oft auch Hamburger – diese Erfahrung macht zumindest Marc Olszewski: „Straßenkinder machen schlechte Erfahrungen im Elternhaus. Ein Abend im ‚Onkel Ottos‘ wird dann nach dem fünften Bier zu einer ganz lustige und tolle Sache. In der Szene findet man das, was man immer gesucht hat: Aufmerksamkeit, Verständnis.“

Laute Musik dringt aus der bunt bemalten Kneipe an den Hafentreppen. „Onkel Otto“, Punk-Kneipe auf dem Kiez: Schwarz gestrichene Wände, eine Gruppe Männer mit langen Ledermänteln lärmt am Tresen. Dazwischen streunt ein Hund mit eingekniffenem Schwanz. Zwei ältere Trinker sitzen schweigend abseits an einem Tisch, das Holsten für 1,50 Euro in der Hand. In den Ecken stehen Rucksäcke. Eine jüngere Punkerin hat sich auf einer der Bänke ausgestreckt, die Augen geschlossen, das runde Gesicht auf eine Armeejacke gelegt. Auch Jessy verbrachte Nächte bei „Onkel Otto“ oder in anderen Kneipen auf dem Kiez. „Da ist es warm, trocken, manchmal kann man kurz schlafen.“ Einzige Alternative: „Platte machen“, also draußen schlafen.

Jessys Platte war in Altona. Rund um einen Baum vor dem Altonaer Bahnhof lag sie, zusammen mit 15 anderen Punks. Es tut weh, wenn die Kälte anfängt in den Schlafsack zu kriechen. An einem Morgen sind Jessys Hände und Füße blau gefroren und eine dünne Schneedecke liegt über den Schlafsäcken. Sonst hängt Jessy meistens auf dem Kiez ab – schnorren. „Manche Jungs fühlen sich dann als Beschützer, die sieht süß aus, der helfe ich jetzt“, sagt Jessy, „Andere denken: Das ist eine Schlampe, Lutsch meinen Pimmel, dann kriegst du Geld.“

Gewalt gehört mit zum Kiez. „Die Männer sind aufdringlich, allein geht das als Frau gar nicht, aber ich hatte ja immer meine Punks.“ Einem Freund von ihr wurde bei einer Auseinandersetzung ins Bein geschossen.

Jessy richtet Gewalt gegen sich selbst. Ein feines Netz aus Narben durchzieht die Haut aufihren Unterarmen. Mit einem Messer ritzt sie ihre Haut auf, bis Blut hervorquillt. Sie kämpftaber gegen den Drang an. „Weil Keisake mir gesagt hat, dass ich ihm damit weh tue.“ Seit sie von zu Hause weg ist, leidet sie an Depressionen: „Wenn ich morgens aufwache,habe ich keine Energie. Und ich bin unglücklich – kann aber nicht weinen.“ Vergangenes Jahr verbrachte sie deswegen einige Wochen in der Psychiatrie.

Bianca (Name geändert) ist raus aus der Szene. Schicke Klamotten, geschminkt. Kein Gedanke mehr daran, dass die 20-Jährige mit 13 ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße hatte. Bianca bleibt vage, was zu Hause genau passiert ist: „Ich kam mit meiner Mutter nicht zurecht, ich bin dann immer seltener nach Hause, tagsüber war ich am Hauptbahnhof, nachts auf Partys oder habe bei Freunden gepennt.“ Schon nachmittags stehen die ersten Jugendlichen auf der Brücke, die die beiden Galerien in der Wandelhalle verbindet, und unter der der Strom der Reisenden zwischen Hachmannplatz und Spitaler Straße fließt.

Keine Punks: Die Jungs tragen weite Baggy- Hosen, die Mädchen Figurbetontes von H&M.Für die meisten ist es auch nur ein kurzer Zwischenstop, Treffpunkt, um dann zu einer Party weiterzuziehen. Andere halten es stundenlang vor der McDonalds-Neonreklame aus. Richtig auf der Straße leben die wenigsten der Jugendlichen am Hauptbahnhof. Kommen eher bei anderen Jugendlichen unter, die eine Jugendwohnung haben. Oder bei „Sozialfreiern“, Erwachsenen, die aus sexuellem Interesse Jugendliche bei sich übernachten lassen.

Wichtigster Anlaufpunkt für die Szene am Hauptbahnhof ist das KIDS („Kinder in der Szene“) am Hachmannplatz. Ein Billardtisch, Sofaecke, bunt gestreifte Wände, die Einrichtung könnte auch als ganz normales Jugendzentrum durchgehen. Etwa 250 Besucher von 13 bis 18 Jahre kommen regelmäßig hierher, das Durchschnittsalter ist 16.

Im KIDS können sich die Jugendlichen auf halten, Wäsche waschen, duschen und gemeinsam essen. Das ist besonders wichtig, weil Drogen wie Ecstasy das Hungergefühl unterdrücken: „Wahrscheinlich hätte ich ohne das KIDS überhaupt nichts mehr gegessen“, erinnert sich Bianca.

Der Träger Basis & Woge e.V. versucht auch mit anderen Projekten, für Straßenkinder eine Perspektive zu erarbeiten. Im „Hirntoaster“ versuchen sich Lehramtstudenten mit einer Hausaufgabenhilfe für Straßenkids. „Doktor Georg“ ist eine medizinische Beratungsstelle speziell für Stricher.

Bianca hat Glück. Die Sozialarbeiter setzen sich in der Schule dafür ein, dass sie trotz langer Fehlzeiten den Realschulabschluss machen kann. Jetzt wird sie Erzieherin.

Jessy lebt jetzt in einer Jugendhilfeeinrichtung in Altengamme. Weit draußen, alle Stunde fährt ein Bus bis Bergedorf. „Ich habe das Gefühl, da eingesperrt zu sein“, erklärt sie. Manchmal denkt sie daran, abzuhauen. Aber eigentlich will Jessy nicht mehr auf die Straße. In vier Monaten wird sie 18. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass sie dann gleich eine eigene Wohnung bekommt.

Vielleicht geht sie auch nach Japan. Diesen Monat wird Keisake sie besuchen. Sie versucht, Geld zusammenzukratzen, um ihn am Frankfurter Flughafen abzuholen. Jessy ist nervös, wenn sie an die erste richtige Begegnung denkt: „Ich bin gespannt, wie er sich bewegt, wie er riecht.“ Vielleicht ändert sich dadurch alles. Keisake jedenfalls hätte sie gerne bei sich. Jessy kramt ihr strassverziertes Handy aus dem Rucksack. Eigentlich müsste es in den nächsten Minuten klingeln.

Marc-André Rüssau

Wie viele Kinder in Deutschland auf der Straße leben, ist umstritten. Das Familienministerium ging 1998 von 7000 aus, das Kinderhilfswerk „terre des hommes“ kommt in einer Studie auf 9000. Das bundesweit tätige Hilfsprojekt „Offroad Kids“ geht von 1500 bis 2500 Minderjährigen aus.

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