Unglück vor Lampedusa : „Das war auch mein Weg nach Europa“

Über 200 afrikanische Flüchtlinge sind in der vergangenen Woche bei einem Schiffsunglück vor Lampedusa ertrunken. 80 Afrikaner, die ihre Fahrt über das Mittelmeer überlebt haben, leben in der St. Pauli Kirche. Wie haben Sie die Überfahrt überstanden und wie sieht ihre Zukunft aus? 

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Heute lebt Andreas in der St. Pauli Kirche, noch 2011 floh er selbst von Libyen über das Mittelmeer nach Lampedusa.

„Als ich von dem Unglück vor Lampedusa erfuhr, habe ich mich sehr schlecht und sehr schwach gefühlt“, sagt der 30-jährige Andreas. Bei dem Sprecher der afrikanischen Flüchtlinge in der St. Pauli Kirche haben die schlimmen Bilder in den Nachrichten alte Wunden aufgerissen. Bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, war am vergangenen Donnerstag ein Boot mit hunderten Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa gesunken. Über 200 Menschen starben, die Fotos der Leichensäcke an Italiens Küste gingen um die Welt. „Das war auch mein Weg nach Europa“, sagt Andreas. Er hat ihn überlebt.

Dieser Weg begann für ihn im Februar 2011. Im libyschen Tripolis tobte der Bürgerkrieg, das Leben dort war gefährlich geworden. „Viele Zivilisten waren bewaffnet und die Nato hat Bomben geworfen“, erinnert sich Andreas. Die Flucht nach Europa war insbesondere für schwarze Afrikaner der letzte Ausweg, weil die libyschen Rebellen sie für Gefolgsleute Gadaffis hielten und bedrohten. „Sie haben uns vor die Wahl gestellt, das Land zu verlassen oder umgebracht zu werden.“ Tausende flohen über das Mittelmeer.

Längst nicht alle haben es geschafft: Andreas erzählt von einem Boot mit 600 Flüchtlingen, das gleich vor der libyschen Küste gesunken sei. „Sie sind alle gestorben, das Meer hat die Leichen in den Hafen gespült“, sagt Andreas. „Viele sind damals auf dem Meer ertrunken. Über sie spricht kein Mensch.“ Er selbst hat es auf einem Boot mit 1250 Flüchtlingen über das Mittelmeer geschafft, aber auch das war knapp. Eigentlich sollte die Reise nur zwei Tage dauern, doch dann erlitt das Boot einen Motorschaden. Drei Tage lang hätten sie auf offener See ausgeharrt, sagt Andreas: „Die italienische Marine kam und rettete uns. Wir wären sonst alle gestorben.“

Hamburger Senat beharrt auf Abschiebung

So wie die Flüchtlinge, die jetzt vor Lampedusa ums Leben kamen. Ihr Tod hat eine Welle der Empörung ausgelöst, auch innerhalb der SPD. „Wir bedauern diesen unfassbaren Verlust so vieler Menschen zutiefst. Die Küste vor Lampedusa hat sich wieder einmal in einen gigantischen Friedhof verwandelt“, sagte der SPD-Politiker und Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz. Er forderte, dass andere EU-Länder und auch Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen müssten. „Es ist eine Schande, dass die EU Italien mit dem Flüchtlingsstrom aus Afrika so lange allein gelassen hat.“

„Die ganze Betroffenheit ist bei der Politik in Hamburg nicht angekommen“, sagt Pastor Sieghard Wilm. In seiner St. Pauli Kirche beherbergt er seit April 80 der bis zu 300 Lampedusa-Flüchtlinge, die wie Andreas aus Italien in die Hansestadt weitergereist waren. Die Kirche will humanitäre Hilfe für die sonst obdachlosen Afrikaner leisten, bis der Senat eine Lösung findet. Der jedoch beharrt auf seiner Position, dass die meisten der Flüchtlinge nach einer Einzelfallprüfung nach Italien abgeschoben werden sollen – wo ihnen erneut die Obdachlosigkeit droht.

Kurz vor dem Winter spitzt sich die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Senat zu. Wilm will auf dem Kirchengelände Wohncontainer aufstellen lassen, weil die Kirche selbst keine Heizung hat. Die nötigen Spendengelder dafür sind bereits gesammelt: 60.000 Euro würde eine Stiftung geben. Die Altonaer Bezirksversammlung, die für die St. Pauli Kirche zuständig ist, könnte sich am 24. Oktober dafür aussprechen, der dafür notwendigen Baugenehmigung zuzustimmen. Doch der Senat stellt sich quer und soll angekündigt haben, die Errichtung der Container verhindern zu wollen. „Wir können nicht die Toten vor Lampedusa beklagen, aber den Überlebenden in Hamburg nicht helfen“, sagt Pastor Wilm. „Ich kann das nicht nachvollziehen.“

Das Winternotprogramm der Stadt kommt für die Lampedusa-Flüchtlinge auch nicht in Frage: In diesem Jahr müssen Obdachlose erstmals ihre Identitäten Preis geben, wenn sie in den öffentlichen Einrichtungen übernachten wollen. Die Sozialbehörde will so Obdachlose mit und ohne Rechtsanspruch auf eine öffentliche Unterbringung unterscheiden, hatte Senator Detlef Scheele (SPD) im Interview mit Hinz&Kunzt angekündigt. Wer nach Ansicht der Behörde keinen Anspruch hat, muss mit einem weniger komfortablen Schlafsaal vorlieb nehmen. Für die Flüchtlinge eine abschreckende Hürde: „Die Leute wollen ihre Identitäten nicht offenlegen, weil sie Angst haben, dann abgeschoben zu werden“, sagt Sieghard Wilm. Ein Sprecher der Sozialbehörde versichert hingegen, es würden „keine Daten erhoben, verarbeitet oder weitergegeben.“

St. Pauli unterstützt die Flüchtlinge

Die Bewohner St. Paulis stehen weiterhin hinter dem Pastor und den Flüchtlingen. In einem jüngst veröffentlichten St.-Pauli-Manifest solidarisieren sich zahlreiche Prominente wie Autor Roger Willemsen oder Moderatorin Lilo Wanders mit ihren Zielen. Darin heißt es: „Wir wollen Menschen, die aus unmenschlichen, unsicheren und unsatten Verhältnissen geflohen sind, um in Europa oft wieder unmenschlich und unsicher behandelt zu werden, mit unseren Möglichkeiten willkommen heißen, respektvoll behandeln und beschützen, wenn sie es wollen.“ Andere stimmen angesichts der Senatspolitik inzwischen wütende Töne an. Der St. Pauli Blog Magischer FC schreibt in einem über soziale Medien viel verbreiteten offenen Brief: „Euer Wegsehen, eure Ignoranz der Tatsachen ist so erbärmlich! Übernehmt endlich Verantwortung für die Menschen in eurer Stadt!“

Bei den Flüchtlingen macht sich indes Verzweiflung breit. „Die Regierung ist so hart, die will nichts von uns hören“, sagt ihr Sprecher Andreas. „Was glauben die, wie unsere Zukunft aussehen soll? Jeder weist uns zurück: Libyen, Italien, Deutschland.“ In Hamburg fühlen sie sich wie Kriminelle behandelt. Eine Personalienkontrolle eines Flüchtlings am Montag durch die Polizei schürt Ängste, der Senat könne jetzt eine härtere Gangart einlegen. Andreas ist beunruhigt: „Niemand in der Gruppe ist kriminell, wir wollen hier ein neues Leben anfangen.“

TV-Tipp: Arte zeigt am 8. Oktober um 22.15 die Dokumentation Festung Europa – Einsatz gegen Flüchtlinge

Text: Benjamin Laufer
Fotos: Benjamin Laufer (Portrait), Action Press (Titelbild)