Gunter Groen ist Psychologieprofessor an der HAW Hamburg. Im Interview spricht er über Elternliebe, Systemsprenger:innen und wie wichtig die Liebe zu sich selbst ist.
Hinz&Kunzt: Wie kommt die Liebe von Eltern zu ihren Kindern eigentlich zustande?
Gunter Groen: Als Menschen sind wir die Lebewesen, die als Neugeborene am stärksten auf die Unterstützung und Fürsorge unserer Eltern angewiesen sind. Im besten Falle sind die elterliche Liebe und bedingungslose Zuneigung mehr oder weniger automatisch und selbstverständlich da. Aber auch die Natur hilft nach. Sie sorgt hormonell dafür, dass wir uns hingezogen fühlen, einfühlsam sind und die Bedürfnisse des Kindes versorgen.
Sind Zuneigung und Vertrauen für das Kind wichtig?
Bindung ist das wichtigste Grundbedürfnis eines Kindes, neben körperlichen Bedürfnissen wie Ernährung, Wärme und Schutz. Die emotionale Sicherheit wird in den ersten zwei, drei Lebensjahren ausgebildet, je nachdem, wie fürsorglich und feinfühlig wir durch unsere Eltern begleitet werden. Dadurch entsteht so etwas wie ein inneres Urvertrauen. Das begleitet uns ein Leben lang.
„Nachbeelterung kann Wunden heilen.“
Gunter Groen
Mit der Feinfühligkeit wird es manchmal kniffelig, etwa wenn Eltern gestresst sind. Und bei aller Liebe: Kinder können auch ganz schön anstrengend und herausfordernd sein.
Da haben Sie sicher recht. Eltern sind oft sehr gefordert und es kann nicht immer alles gelingen. Vor allem geht es um die grundsätzliche emotionale Verfügbarkeit der Eltern und das bedingungslose Annehmen des Kindes. Dass wir, so gut es geht, da sind für das Kind und dass wir merken: Was braucht das Kind gerade und wie können wir feinfühlig auf seine Bedürfnisse reagieren?
Bindung und Fürsorge können durch Belastungen der Eltern beeinträchtigt werden. Wenn Eltern krank sind, in Armut leben und sozial benachteiligt sind, rücken ganz andere, teilweise existenzielle Bedürfnisse in den Vordergrund. Wenn wir nicht wissen, wo das Essen morgen herkommt, an einer schweren Erkrankung leiden oder Angst vor der Gewalt des Partners haben, dann haben wir ganz andere Dinge im Kopf. Das kann sich wiederum auf die Entwicklung des Kindes auswirken.
Können Eltern, die mit sich selbst zu kämpfen haben, trainieren, damit die emotionale Bindung trotzdem gelingt?
Ja, es gibt mittlerweile viele Unterstützungsmöglichkeiten in Form von Beratung und auch alltäglicher Begleitung und Förderung, vor allem durch die „Frühen Hilfen“, die schon ab der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren genutzt werden können. Es gibt Angebote, bei denen Eltern gezielt unterstützt und an die Hand genommen werden, ihr Kind zu beobachten und zu überlegen, was es gerade braucht. Besonders auch emotional.
Viele Hinz&Kunzt-Verkäufer:innen sind in armen Verhältnissen aufgewachsen und erzählen von einer schweren Kindheit.
Selbstverständlich lieben auch arme, benachteiligte Menschen ihre Kinder, das klappt ganz oft sehr gut. Diese Eltern sind aber eben auch mit anderen, existenziellen Fragen und alltäglichen Herausforderungen beschäftigt. Deswegen haben sie es oft deutlich schwerer. Da müssen wir als Sozialstaat einspringen. Es gibt dieses besonders sensible frühe Zeitfenster, in dem unsere Bindung ausgeprägt wird. Hier müssen wir benachteiligten Familien bei Bedarf umfassende Unterstützung anbieten, damit so etwas wie Urvertrauen und eine gute Ausgangsposition gelingen können.
Das fehlt sicherlich vielen Hinz&Künztler:innen. Sie berichten aber auch von schlechten Erfahrungen in Heimen oder bei Adoptiveltern.
Kinder, die dieses frühe Vertrauen nicht erlebt haben, lehnen nicht selten auch andere Bezugspersonen ab, als eine Art Anpassungsstrategie. Sie sagen: „Lass mich besser in Ruhe, ich habe von dir auch nichts zu erwarten.“ Diese Zurückweisung durch ein Kind nicht persönlich zu nehmen, sondern bedingungslos da zu sein, egal was das Kind macht, ist aber wichtig. So können neue Bindungen und Beziehungen gelingen und trotz frühkindlich schlechten Erfahrungen neuer Halt gefunden werden. Es braucht kontinuierliche Bezugspersonen, die gleichmütig sind, die geduldig sind, die das Kind bedingungslos wertschätzen und ihm Raum geben.
Ein Kind, das wenig Liebe oder gar Gewalt erlebt hat, hat zunächst einen guten Grund, warum es sich so skeptisch, misstrauisch und manchmal aggressiv verhält. Es kämpft quasi um sein Überleben. Wenn wir das als Fachkräfte und Adoptiveltern anerkennen, dann kann das Kind eine positive Nachbeelterung erfahren, die emotionale Wunden heilen kann.
Und wenn es nicht gelingt, werden Kinder zu Systemsprenger:innen?
Es gibt Kinder, die so schlechte Erfahrungen gemacht haben, dass sie an Ämtern und Hilfeangeboten scheitern. Das ist schwer zu ertragen und eigentlich ein Skandal. Was kann ein zwölfjähriges Kind dafür, dass es nicht ausgehalten wird von den Heimeinrichtungen? Um diese Kinder besser auszuhalten, brauchen die Einrichtungen eine bessere Ausstattung, mehr Mitarbeitende, angepasste Konzepte und vor allem Kontinuität. Dazu kommt, dass auch die Jugendämter oft mit Personalmangel kämpfen. Mitarbeitende sind überfordert und Kolleg:innen wechseln den Job.
Welche Rolle nimmt das Jugendamt ein?
Eine sehr wichtige. Wir haben in Deutschland prinzipiell ein gutes System von Hilfen zur Erziehung, auch wenn das System oft überlastet ist und es deutlich mehr Geld und Ressourcen braucht. Zugleich haben die Jugendämter auch ein Wächteramt inne: Sie entscheiden, ob ein Kind in seiner Entwicklung und in seinem Wohlergehen gefährdet ist, und im Zweifelsfall auch, ob das Kind in seiner Familie noch gut aufgehoben ist. Und das ist manchmal ganz schön kniffelig.
Zurück zur Familie: Wie wichtig ist ein Dreieck aus Vater, Mutter und Kind?
Das ist nicht unbedingt der wesentliche Punkt. Es geht um zufriedene Menschen, die das Kind versorgen, die mit sich selbst halbwegs im Reinen sind und nicht ums soziale Überleben kämpfen müssen. Dabei hilft es, eine gute Partnerschaft und ein größeres Netzwerk zu haben. Egal, ob die Liebe gleich- oder gegengeschlechtlich ist. Auch Verwandte und Freunde können es sein, die mir als alleinerziehendem Elternteil Kraft und Unterstützung geben.
Was sind die Folgen mangelnder Liebe durch die Eltern?
Es gibt nicht immer automatische Folgen. Aber das Risiko für viele Probleme ist größer, vor allem für psychische Belastungen und Erkrankungen. Das fängt früh mit Bindungsstörungen an, wenn das Kind unzureichend emotional versorgt wurde. Es kommt dann deutlich schwerer in Kontakt mit anderen Gleichaltrigen oder Erwachsenen. Im weiteren Entwicklungsverlauf können Ängste oder aggressives Verhalten auftreten, im Jugendalter ist die Wahrscheinlichkeit für Depressionen, Essstörungen oder Süchte erhöht. Aber je nachdem, wann und wie stark jemand Ablehnung und emotionale Entbehrung in seiner Familie erlebt hat, kann durch neue Bezugspersonen wieder Stabilität und Vertrauen aufgebaut werden. Zugleich ist für die Kinder und die betroffenen Menschen die Liebe zu sich selbst wichtig. Sich selbst Mitgefühl zu schenken, sich klarzumachen, dass man gestrandet ist, weil man schlechte Bedingungen zum Aufwachsen hatte. Und nicht, weil man schlecht ist oder irgendetwas falsch gemacht hat. Dafür ist es wiederum auch wichtig, dass einen andere nicht stigmatisieren oder abstempeln.
Kann es auch zu viel Liebe geben?
Auch das ist möglich, in Form einer verstrickten Beziehung, die sich zu sehr an den Bedürfnissen der Eltern orientiert. Zum Beispiel, wenn Eltern ihre Ängste und Sorgen und ihr eigenes, zu starkes Sicherheits- und Bindungsbedürfnis auf das Kind projizieren. Wenn Bindung in dieser Form zu viel ist, dann werden Kinder gegebenenfalls unselbstständig, selbstbezogen und können schlechter mit Problemen umgehen.
Und wenn man gefühlt eine gute Kindheit hatte: Raten Sie als Psychotherapeut dazu, sie trotzdem zu reflektieren?
Man muss nicht seine ganze Kindheit durchdrungen und vollständig reflektiert haben, um ein glückliches Leben zu führen. Wenn man aber merkt, dass einem bestimmte Angewohnheiten oder Verhaltensmuster, gerade auch in Beziehungen, immer wieder in die Quere kommen, kann es sinnvoll sein. Biografische Hintergründe für solche Muster zu erkennen hilft, sich davon zu distanzieren und sich weiterzuentwickeln. •