Hinz&Künztler Sebastian

Der Kämpfer

Ein glatzköpfiger Mann sitzt auf seinem Rollator und lacht freundlich in die Kamera
Ein glatzköpfiger Mann sitzt auf seinem Rollator und lacht freundlich in die Kamera
Foto: Dmitrij Leltschuk

Sebastian, 46, verkauft Hinz&Kunzt vor Lidl in Schnelsen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Freudestrahlend kommt Sebastian zum Interview. Heute morgen hat der 46-Jährige die ersehnte Nachricht erhalten: Die „Clearingstelle Gesundheitsversorgung Ausländer“, eine Hilfseinrichtung der Stadt, hat dem Polen zugesichert, die Kosten für die Unterschenkelprothese zu übernehmen. „Wenn ich gut trainiere, muss ich bald nicht mehr im Rollstuhl sitzen“, sagt der Hinz&Kunzt-Verkäufer.

Sebastian ist ein muskulöser, sportlicher Typ. Früher sei er jeden zweiten Tag Fahrrad gefahren und ins Fitnessstudio gegangen. Nun macht er Yoga. „Ich bin noch jung!“, sagt er. „Ich muss mich bewegen! Wenn ich nur rumsitze, geht es mir schlecht.“

Die Folgen eines Unfalls haben ihn in ein anderes Leben geworfen. Damals, vor zwei Jahren, war der Bauarbeiter gerade nach Hamburg gekommen. Sein Chef, Inhaber einer polnischen Firma, habe ihm hier einen lukrativen Job versprochen. Da er keine Familie mehr in Breslau hat, hielt ihn in der Heimat nichts, erzählt er.

Der Chef brachte ihn und weitere Landsleute im Kleinbus nach Hamburg und quartierte sie in einem Wohnhaus ein. Er versprach Arbeitsvertrag und Krankenversicherung – die entsprechenden Papiere habe er aber nie erhalten, sagt Sebastian. Es fällt ihm sichtlich schwer, über diese Zeit zu sprechen. Er sagt: „Ich will nach vorne blicken, sonst werde ich verrückt!“

Vier Tage habe er in einer Hamburger Schule Wände gestrichen. Dann sei er nach der Arbeit auf dem Weg zum Supermarkt ausgerutscht. Sebastian brach sich den Fuß und musste operiert werden. Was wie ein ärgerliches Unglück erschien, entwickelte sich zum Albtraum: Die OP-Wunde entzündete sich. Es folgten vier Monate im Krankenhaus und zwölf weitere OPs. Weil die Infektion sich ausbreitete, mussten Ärzt:innen schließlich den Unterschenkel amputieren. „Das war am 6. Dezember 2023“, sagt Sebastian mit bitterem Ton. „Nikolaus.“

Sechs Wochen danach sei er vom Krankenhaus in eine städtische Winternotunterkunft gebracht worden. Dann hat Sebastian Glück im Unglück: Die Stadt eröffnet ein neues Heim für besonders pflegebedürftige Obdachlose. Und er ist einer der Ersten, die einziehen dürfen. Ein guter Ort, sagt Sebastian nach einem Jahr dort und erklärt: „weniger Menschen, gute Krankenpflege, viel weniger Stress“.

Seit Frühjahr 2024 verkauft Sebastian Hinz&Kunzt. Vor wenigen Tagen habe ihn eine Leserin zum Ausflug eingeladen, erzählt er: „Sie hat mich mit dem Auto abgeholt, wir sind Schiff gefahren und haben Kaffee getrunken. Das war schön.“ Um Gespräche nicht nur mit der Übersetzungs-App oder den Händen führen zu müssen, lernt er Deutsch mithilfe zweier Lehrbücher. „Ich würde gerne bald einen Sprachkurs machen.“

Kürzlich habe er bei der Arbeitsagentur vorgesprochen und sich jobsuchend gemeldet. „Ich möchte so schnell wie möglich wieder arbeiten – egal was.“ Er könne auch wieder auf einer Baustelle helfen, meint Sebastian kämpferisch: „Zum Malen brauche ich doch nur die Arme, oder?“

Artikel aus der Ausgabe:
Hinz&Kunzt-Titelblatt mit einem Mann, der einen Nackthund auf dem Arm hat und sagt: "Er ist total eifersüchtig."

Wahre Liebe

Was ist Liebe und wie lebt man sie aus? Und was geschieht, wenn Kinder zu wenig elterliche Liebe bekommen? Außerdem: Abschiebungen vom Flughafen sind laut Diakonie oft kritikwürdig und Hinz&Künztler Rüdiger hat endlich eine Wohnung.

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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