Ballett-Tänzerin Mariia Zaritska : Leben im Spagat

Beim Hamburg Ballett John Neumeier finden sie, die elfjährige Mascha sei sehr talentiert. Foto: Dmitrij Leltschuk

Mariia Zaritska war Schülerin des Kyiv State Ballet, bis sie vor dem Krieg nach Hamburg floh. Seitdem wartet sie darauf, in die Ukraine zurückkehren zu können – und tanzt jeden Tag.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Die Ballett-Tänzerin Mariia Zaritska ist hungrig, sie möchte Pizza. Sie bestellt: einmal Hawaii bitte, dazu ein Glas Apfelsaft.

Mariia Zaritska wird von allen nur Mascha genannt. Sie ist elf Jahre alt, zart und blass und hat doch eine Stimme, die einen ganzen Tisch für sich einnehmen kann. Sie möchte nicht Ärztin werden wie ihre Mutter (wenn jemand anruft und über Kopfschmerzen klagt, ist ihr das schon zu viel).

Jeden Tag die Leiden der Menschen anzuhören, das weiß sie schon, hält sie nicht aus. Nein, Mascha möchte tanzen. Sie hat damit begonnen, als sie sechs Jahre alt war, erst Hip-Hop, später Ballett. Und sie zeigte Talent: Im September 2021 wird sie am Kyiv State Ballet College angenommen. Mascha trainiert, sie lernt die Strenge ihrer Lehrerinnen kennen. Ein halbes Jahr später flieht sie mit ihrer Mutter vor dem Krieg nach Deutschland.

Nun, in diesem Hamburger Pizzarestaurant, springt Mascha auf, tippelt grazil in grauer Jogginghose und klobigen weißen Sneakers ein paar Schritte nach rechts, den Arm leicht nach oben gedreht. Aus einer Musikbox klingt 1980er-Jahre-Rock, links von ihr steht ein Getränkeautomat, hinter ihr ein
Regal voll mit Weinflaschen und Kaffeekannen.

Nichts an dieser Situation passt zusammen, andererseits, was passt denn gerade schon?

Mascha wird gerade groß in einer Welt, in der sie wartet, und nicht mal so richtig weiß, worauf. Ihren Vater und ihren Bruder wiederzusehen, natürlich, und ihre beste Freundin, die wieder nach Kiew zurückgekehrt ist. Darauf, dass auch sie wieder in der Ukraine leben kann, dass der Krieg ein „kalter Krieg“ werde, sagt sie. Das sei das falsche Wort, meint ihre Mutter, nicht kalter Krieg, sondern: wenn der Krieg zu Ende ist.

Man kann natürlich fragen, was plant man schon mit elf Jahren, da lebt man doch im Hier und Jetzt. Aber es ist eben anders, wenn man Ballerina werden möchte, noch dazu, wenn man eine Ballerina im Exil ist. Man darf nicht einfach mal aufhören zu tanzen, sagt Mascha. Nur einen Monat ohne Ballett, und schon kann alles vorbei sein.

Wenn Mascha tanzt, dann denkt sie immer an die Zukunft, an die zwei, drei Sekunden, die gleich kommen werden und in denen jeder ihrer Schritte sitzen muss. Wenn sie auf der Bühne steht, fühlt sie nur noch Schmetterlinge in ihrem Körper. „Erfolgreich zu sein, das motiviert mich“, sagt sie. Und die Youtube-Videos von ihren liebsten Tänzerinnen: Wenn sie die anschaut, habe sie sofort den Drang, alles genau so nachtanzen zu können. Von Ekaterina Kukhar zum Beispiel, einer ukrainischen Primaballerina, die außerdem die Direktorin ihrer Ballettschule in Kiew ist. Oder von Maria Khoreva, einer russischen Tänzerin, an der sie im Grunde alles perfekt findet, ihre Bewegungen, ihre Grazie. Na ja, fast alles natürlich.

Mutter Juliia wollte als Kind auch Ballerina werden. Nun ist sie Ärztin. Foto: Dmitrij Leltschuk

Als Russland im Februar die Ukraine angriff, brach auch eine lang gehegte Illusion des Balletts zusammen: dass es märchenhaft und daher apolitisch ist. Die berühmten Tänzer:innen des russischen Staatstheaters, dem Bolschoi, äußerten sich nicht zum Krieg, und wenn, dann nicht gegen den Kreml. Eine der wenigen, die aus Russland floh, war die Primaballerina Olga Smirnova. Im Juni tanzte sie auf den 47. Hamburger Ballett-Tagen von John Neumeier. Genauso wie Mascha, die in jener Woche in der Staatsoper erstmals vor ein Hamburger Publikum trat.

Als sie und ihre Mutter im März nach Deutschland kamen, suchten sie nach einer Ballettschule für Mascha, googelten nach solchen, die ihren Unterricht für Ukrainer:innen öffneten. Die renommierte Hamburger Ballettschule von John Neumeier hatte das zwar nicht ausgeschrieben, doch Mascha bewarb sich trotzdem, schickte ein Foto, schrieb ein Bewerbungsschreiben, das begann mit: „Lieber Onkel John, …“. Die Gastgeberin, die Mutter und Tochter in Hamburg in ihrer Wohnung aufgenommen hatte, brachte das Mädchen zu den ersten Tanzstunden. Mascha wurde angenommen, nun trainiert sie sechsmal in der Woche. Vormittags geht sie zur Schule, auf das Charlotte-Paulsen-Gymnasium in Wandsbek.

Mittlerweile wird in der Ukraine wieder getanzt, das Kyiv State Ballett trainiert in der Heimat, auf Instagram veröffentlichten sie am 6. September ein Foto ihrer jüngsten Anfänger:innen in einem Spiegelsaal. Vor genau einem Jahr hat Mascha auch dort gestanden, aufgeregt und voller Vorfreude.

Manche Leute fragen sie nach der Ukraine, ja, am häufigsten ihre neue Freundin Nina. Nina tanzt auch Ballett, sagt Mascha, sie ist in Hamburg geboren, ihre Mutter ist aus St. Petersburg. Nina fragt oft: „Wie geht es deinem Vater, deinem Bruder?“ Mascha sagt dann, sie denke jeden Tag an die beiden, sie rufe sie an, sie vermisse sie.

Ein Mittwoch ist es, kurz nach 12 Uhr, als Mascha für das Titelbild von Hinz&Kunzt fotografiert wird. Erstaunlich ist, wie viele Menschen einfach vorbeigehen an diesem Mädchen im hellblauen Kostüm, mit heller Strumpfhose, zartrosa Schuhen, das hier im Schanzenviertel durch eine Gasse tanzt, zwischendurch kichert oder flucht. Doch, manche gucken – und lächeln: Der Paketbote, der gerade einen Staubsauger und „Pets Deli“ ausliefert, die Fahrradfahrerin mit dem eingepackten Falafel Dürüm in der Hand, die ältere Dame, die ein paar Meter zuvor noch ungeniert auf den Boden gespuckt hat. Da ist dieses Mädchen, das tanzt und tanzt, das für einen kurzen Moment freudige Überraschung in die fremden Gesichter legt und im Innern nur an die nächsten zwei, drei Schritte denkt.

Verletzt hat sie sich beim Ballett noch nie. Nur taten ihr eine Zeit lang die Knochen so weh, da sagte der Arzt: „Das geht vorbei, das passiert manchmal, wenn man wächst.“ Es schmerzt, man hält es kaum aus, doch eine Gewissheit gibt es in diesem Fall: Danach ist man größer.

Artikel aus der Ausgabe:

Auf dem Sprung

Die Elfjährige Mariia Zaritska ist aus Kiew geflohen und tanzt in Hamburg Ballett. Im Schwerpunkt: Was Verschwörungserzählungen mit Beziehungen anrichten – und wie man mit Argumenten dagegen halten kann. Außerdem: Atellierbesuch bei Regisseurin Katrin Gebbe („Die Kaiserin“).

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Autor:in
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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