Jörg Petersen : Hinz&Künztler wird Alltagsbegleiter im Seniorenheim

Jörg Petersen an seinem letzten Verkaufstag in Seevetal. Foto: Dmitrij Leltschuk

Der ehemalige Hinz&Künztler Jörg Petersen ist seit Neustem Alltagsbegleiter in einem Seniorenheim – in unbefristeter Stellung. Bis vor Kurzem verkaufte er unser Magazin in Seevetal.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Aufmerksam neigt der Mann mit dem gepflegten Vollbart sich der weißhaarigen Frau zu. „Alles in Ordnung?“, fragt Jörg Petersen und lächelt. Die Frau sitzt in der Abendsonne an ­einem mit Osterstrauß dekorierten Tisch im Gemeinschaftsraum eines Seniorenheims. Sie nickt und lächelt zurück. „Bis morgen“, sagt der Mann sanft. Er wirkt, als ob er für die Arbeit mit Senior*innen geboren sei. Dabei war er bis vor wenigen Monaten Hinz&Kunzt-Verkäufer in Seevetal.

Jetzt ist er stolz auf seinen Job im Haus Kirchberg im niedersächsischen Hittfeld. Er führt durch das Erdgeschoss im Wohnbereich „Gelb“, wo er heute gearbeitet hat. Er ist „Alltags­begleiter“, im Team zuständig für 61 Bewoh­ner*innen, organisiert Gespräche, Spiele, Lesungen und Spaziergänge. „Ich fühle mich hammerwohl hier.“ Jörg strahlt. Für den 50-Jährigen ist diese Stelle der erste richtige Arbeitsplatz seit Ewigkeiten. Jörg Petersen war ­obdach- und wohnungslos, zehn Jahre lang hat er Hinz&Kunzt verkauft.

„Ich mag die Menschen, vor allem in Hittfeld. Hier ist es wie auf dem Dorf, ich gehöre dazu.“– Jörg Petersen

Sein letzter Tag als Verkäufer ist erst wenige Wochen her. Wie ein Promi wurde der Hinz&Künztler an einem kalten Februarsamstag vor Edeka in Hittfeld gefeiert: Die Kund*innen grüßten, winkten und hupten. Es gab gute Wünsche und kleine Geschenke. Jörg war voll in seinem Element – und zufrieden. „Ich mag die Menschen, vor allem in Hittfeld. Hier ist es wie auf dem Dorf, ich gehöre dazu.“

Das Gefühl der Geborgenheit hat Jörg in seiner Kindheit vermisst. „Mein Vater hat heimlich getrunken und mich regelmäßig mit Gürtel und Zollstock geschlagen.“ In der Schule erlebt er Druck, hat stets Angst zu versagen. Selbstvertrauen kann der Junge nicht entwickeln. Nur seine Oma und sein Klassenlehrer halten zu ihm, wie er dankbar erinnert. Mit 18 ist ihm klar, dass er weg muss.

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Nach der Onlinepetition
Mittagspause mit Jörg
Jörg Petersen hat zusammen mit Hinz&Kunzt 100.000 Unterschriften für Obdachlose gesammelt. Eine Woche nach der Übergabe im Hamburger Rathaus haben wir mit ihm bei einer Currywurst über den Erfolg gesprochen.

Jörg geht nach Sylt, jobbt in einem Eiscafé. Nachts schläft er im Strandkorb. Danach heuert er bei einer Drückerkolonne in Berlin an, arbeitet in einer Kneipe, als Klomann und im Schallplattenvertrieb. Eigene Wohnung? Fehlanzeige. „Ich war immer nur Untermieter.“ Das Leben in Berlin wird ihm zu anstrengend, er wechselt nach Hamburg, landet zunächst auf der Straße. Doch bald findet er ein Zimmer und einen Job als Postbote. „Das gefiel mir“, sagt Jörg. „Du kriegst viel Herz zurück, wenn du nett bist. Und gute Gespräche hast du auch.“

Zehn Jahre lang arbeitet Jörg Petersen als Postzusteller. Nach einem guten Start fällt ihm die Arbeit zunehmend schwerer. „Ich wurde als Springer eingesetzt, brauchte immer länger für meine Touren.“ Um den Stress zu vergessen, fängt Jörg an zu spielen. Er verschuldet sich und kann die Miete nicht mehr zahlen. „Ich hab’ Platte gemacht, bin aber trotzdem anfangs noch zur Arbeit gegangen.“ Irgendwann kann er nicht mehr, meldet sich krank und taucht ab.

40 Jahre ist Jörg damals alt, hat Schulden, keine Wohnung, keine Arbeit und keine Perspektive. Ein Kumpel empfiehlt ihm Hinz&Kunzt. Er bekommt einen Verkaufsplatz in Hittfeld. „Das war meine Rettung. Wie ich am besten verkaufe, musste ich allerdings selbst entdecken.“ Den Schlüssel hat Jörg schnell gefunden: Durch Freundlichkeit und Ausdauer erobert er die Herzen der Menschen. „Ich merkte schnell: Hier ist ein sicherer Hafen für mich.“ Auch bei Hinz&Kunzt fühlt sich der Verkäufer wohl. „Das war wie eine Familie für mich.“ Ein Zimmer, in Barmbek, hat er schließlich auch.

Öffnet das Winternotprogramm auch tagsüber und für alle! Das forderten wir in einer Kunstaktion mit dem Scharlatan-Theater. Hinz&Künztler Jörg (Foto) legte mit einer Online-Petiton nach, stern.de berichtete live. Foto: Mauricio Bustamante.

Jörg gewinnt Selbstvertrauen, steht 2013 beim 20-jährigen Geburtstag des Straßenmagazins neben Stefan Gwildis auf der Bühne im Stadtpark. „Ich durfte aus meinem Leben erzählen und hatte vor Angst richtig Herzrasen. Da habe ich mir ein Meer voller Blumen vor­gestellt – und dann ging’s.“ Bald wird er politisch aktiv: Im Winter 2017 initiiert der Hinz&Künztler eine Petition zur Öffnung des Winternotprogramms; ein Jahr später moderiert er beim 25-jährigen Geburtstag von Hinz&Kunzt auf der Bühne der Markthalle.

Ein ungelöstes Problem plagt ihn: „Mein Gebiss war wahnsinnig schlecht. Ich wollte es längst in Angriff nehmen, hatte aber unglaubliche Angst vorm Zahnarzt. Früher bin ich in der Praxis mehrfach ohnmächtig geworden.“ Die Lösung ergibt sich, wie so vieles Gute in Jörgs Leben, an seinem Verkaufsplatz. Eine Kundin überredet ihn zu einem Termin bei ihrem Chef, einem Zahnarzt. Die Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Isabel Kohler fuhr mit. „Sonst hätte ich vielleicht gekniffen.“ Er lacht so, dass man die lückenlose Zahnreihe sieht.

Sein neuer Look gibt Jörg die nötige Zuversicht für den nächsten Schritt. „Ich wollte gern eine richtige Arbeit, am liebsten mit Obdachlosen oder mit Älteren. Ich wollte etwas zurückgeben.“ Er beginnt eine Ausbildung zum Alltagsbegleiter, schließt die Prüfung mit „Gut“ ab, „trotz meiner Prüfungsangst“. Er findet sofort einen Job. „Mein Arbeitsvertrag wurde mir zu meinem Verkaufsplatz gebracht“, amüsiert er sich. Vor Edeka fand der Hinz&Künztler auch eine Wohnung – natürlich durch einen Kunden. Stolz holt er sein Handy aus der Tasche und zeigt Fotos: frisch getünchte rote Wände, gemütliches Sofa. Sein Bruder hat bei der Renovierung geholfen. Seine Mutter war auch schon zu Besuch. Endlich sind wieder Familien­besuche möglich, ein kleines Stück Glück und Normalität.

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Ex-Verkäufer
Jörgs letzter Tag als Hinz&Künztler

Das Schönste für Jörg ist aber die unbefristete Anstellung. „Ich gehe immer zufrieden nach Hause, auch wenn ich abends manchmal kaputt bin.“ Besonders ungewohnt: der bezahlte Urlaub. „Als Hinz&Künztler konnte ich freimachen, aber das fühlte sich ganz anders an.“ Für Jörg schließt sich bei seiner Arbeit als Alltagsbegleiter ein Kreis. Einige seiner Klient*innen hat er nämlich schon als Magazinverkäufer vor dem Supermarkt kennengelernt. „Erst waren sie für mich da, nun bin ich für sie da.“

Artikel aus der Ausgabe:

Der Privatbankier

In Hamburg müsste viel mehr preiswerter Wohnraum entstehen. Die Grundstücke sind da. Was macht die Stadt falsch? Und: Bis die abgerissenen Esso-Häuser auf St. Pauli durch einen Neubau ersetzt sind, werden Jahre vergehen. Wer von den alten Mieter*innen wird von dem Rückkehrrecht dann noch Gebrauch machen? Außerdem: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner will für Aufstiegschancen ab der Kita sorgen – und Hartz-IV-Empfänger*innen mehr eigenes Geld lassen.

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Autor:in
Sybille Arendt
Sybille Arendt
Sybille Arendt ist seit 1999 dabei - in der Öffentlichkeitsarbeit und der Redaktion.

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