Geflüchtete aus Russland helfen Ukrainerinnen in Hamburg : „Es wird nie wieder so sein, wie es früher war“

Zlata Poliashenko (Mitte) und das Ehepaar Alexander und Galina Goncharenko sind nach Hamburg geflohen: die eine aus der Ukraine, die anderen aus Russland. Foto: Dmitrij Leltschuk

Ein geflohenes russisches Ehepaar organisiert in Hamburg Seminare für traumatisierte Ukrainerinnen. Kann das funktionieren?

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Als russische Soldaten die Ukraine am frühen Morgen des 24. Februar 2022 überfallen, fährt Alexander ­Goncharenko gerade mit dem Auto zu seiner Arbeit als Leiter eines privaten Gesundheitszentrums in der russischen Großstadt Barnaul. Im Radio hört er von den Ereignissen und ist schockiert. Nicht zuletzt, weil sein ­Vater aus dem einstigen Bruderland stammt – der ukrainische Nachname Goncharenko zeugt davon.

Gut 3000 Kilometer entfernt schreckt Zlata Poliashenko zur selben Zeit aus dem Schlaf in ihrer ­Wohnung in der ukrainischen Stadt Charkiw. Sie denkt zunächst an ein Feuerwerk, aber da prasseln schon die Nach­richten von Familie und Bekannten auf ­ihr Smartphone ein: Der Krieg hat begonnen.

Zwei Jahre später sitzen die Ukra­inerin Zlata Poliashenko, der Russe Alexander Goncharenko und seine Frau Galina an einem Tisch zusammen. Die Flucht hat alle drei nach Hamburg geführt, mit Hinz&Kunzt wollen sie über ihr neues Leben sprechen, darüber, was sie trennt – und was die Zukunft bringen könnte. Dass sie zusammenkommen, ist keine Selbstverständlichkeit, schließlich hat der Krieg einen Keil zwischen viele Menschen aus Russland und der Ukraine getrieben. Eine Ukrainerin hat das Treffen kurzfristig abgesagt: Zu groß seien die Traumata, die sie aus dem Krieg mitgebracht hat. Zu groß ihre Angst, von Erinnerungen überwältigt zu werden.

Bevor er nach Deutschland flieht, ist Alexander Goncharenko in seiner russischen Heimatregion Vorsitzender der oppositionellen sozialliberalen ­Jabloko Partei und lange als Menschenrechtler aktiv. Kurz nach Kriegsbeginn verbreitet der Mann mit durchdringendem Blick ein Foto von sich, auf dem er ein Plakat mit den Worten „Nein zum Krieg!“ in die Kamera hält. Als Putin Anfang März 2022 neue ­repressive Gesetze erlässt und das ­Ehepaar Goncharenko über Kontakte in der Polizei erfährt, dass ihnen Verfolgung droht, ist klar: Sie müssen schnell handeln. „Ich habe gesagt, Alexander, wenn du unbedingt im Knast landen willst, solltest du jünger als 60 sein“, erinnert sich Galina Goncharenko an die turbulenten Tage und lächelt ihren Ehemann liebevoll an. Zunächst setzen sie sich ins angrenzende ­Kasachstan ab. Von dort geht es mit Unterstützung der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte mit dem Flugzeug weiter nach Deutschland.

„Die Flucht war die Hölle.“

Angekommen in Hamburg nehmen die Goncharenkos sofort an Demonstrationen gegen den Krieg teil. „Wir haben uns dann bei verschiedenen Telegram-Kanälen angemeldet“, erinnert sich Galina Goncharenko: „In den Chats wurde mir schnell klar, dass es sehr viele ukrainische Frauen gibt, die psychologische Hilfe brauchen.“ In Russland hatten die beiden entsprechende Hilfe für Polizisten organisiert, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Weil sie aktiv werden und ukrainischen Geflüchteten helfen wollen, keimt eine Idee: Mit Unterstützung der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte stellen die beiden Wochenendseminare für ukrainische Frauen auf die Beine. Gemeinsam mit ukrainischen Psychologinnen spricht Galina Goncharenko darin mit den Geflüchteten über ihre Erfahrungen und versucht, die Traumata des Krieges zu verarbeiten. Ihr Ehemann kümmert sich vor allem um die Organisation der Seminare und nimmt nicht selbst teil – um als Mann den geschützten Raum der Frauen nicht zu gefährden.

An einem der ersten Seminare nimmt auch Zlata Poliashenko teil. Wenige Tage nach Kriegsausbruch macht sie sich gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrem 74-jährigen Vater zunächst auf den Weg in die West-ukraine. Mitte März 2022 geht es von dort über Warschau und Berlin weiter nach Hamburg. „Die Zeit der Flucht, die ständige Angst waren die Hölle für uns. Ich werde sie nie vergessen“, sagt die 44-Jährige. In Hamburg kommen die drei zunächst bei einer deutschen Familie unter, nach zwei Monaten ziehen sie in eine eigene kleine Wohnung. Über einen Telegram-Kanal erfährt Zlata Poliashenko von den Seminaren der Goncharenkos. Im Vergleich zu ­anderen Geflüchteten, die Vergewaltigungen und andere Gräuel erlebt haben, seien ihre psychischen Probleme zwar klein, meint sie. Dennoch hat die Flucht auch bei ihr Spuren hinterlassen. Bis zu ihrer Teilnahme am S­eminar machte sich die einst selbst­sichere Frau unentwegt Sorgen, fühlt sich schwach.

Acht bis zwölf Ukrainerinnen nehmen an den Gruppensitzungen teil, dazu Galina Goncharenko und eine ukrainische Psychologin. Bei Bedarf vermitteln sie die Frauen an deutsche Psycholog:innen weiter, die auf Menschen mit Fluchtgeschichte spezialisiert sind. „Die Psychologin, die in ­unserer Gruppe war, hat selbst in Charkiw gelebt“, sagt Poliashenko. „Ich kenne das Krankenhaus, in dem sie gearbeitet hat – ich hatte sofort eine Verbindung zu ihr und wir konnten vertraut sprechen.“ Durch die Hilfe der Psychologin gelingt es ihr, mit den Ängsten und Sorgen umzugehen, sie als Teil ihrer Realität anzuerkennen – und trotzdem nach vorne zu blicken.

Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte

Seit 1986 beherbergt die Hamburger ­Stiftung für  politisch Verfolgte Menschen aus aller Welt, die in ihrer Heimat verfolgt werden, weil sie für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit eintreten. Die Stiftung unterstützt die Gäste bei ihrer Reise nach Hamburg und ­bietet während des in der Regel einjährigen Gastaufenthalts eine Wohnung und finanzielle Unterstützung. lg Weitere Infos: www.hamburger-stiftung.de

Doch es gibt auch Vorbehalte gegen die Seminare. Zlata Poliashenkos Schwester etwa habe kein Verständnis dafür, dass sie Kontakt zu den Goncharenkos hat: „Sie sagt, dass ich ihnen nicht vertrauen kann“, erzählt sie mit ernster Miene. Sie hingegen finde es wichtig, im Gespräch zu sein. Dass ­viele Menschen sich im Hass auf Russland verloren haben, sei ein riesiges Problem. Auch die Goncharenkos ­berichten von Vorbehalten. Sie seien gewarnt worden, dass ihre Idee mit den Seminaren nicht funktionieren wird – weil sie Russen sind. „Bei der ersten Sitzung war unglaublich viel Aggressivität im Raum. Gegen Russland, gegen Putin, gegen alles Russische“, erinnert sich Galina Goncharenko: „Doch am Ende haben wir alle zusammen geweint – und das Vertrauen war da. Alle haben begriffen, dass wir Brüder und Schwestern sind und im Endeffekt die gleichen Probleme haben.“ Ihr ukrainischer Nachname würde zudem Vertrauen schaffen, ergänzt ihr Ehemann. Und auch ihre ­eigene Geschichte sei zu Beginn der ­Seminare immer Thema – und schaffe ebenfalls Vertrauen.

Dennoch ist sich Galina Goncharenko sicher: Die Menschen in der Ukraine werden Russland nie ver­zeihen können. Selbst wenn der Krieg mit einer russischen Niederlage ende, werde es Generationen dauern, das ­Geschehene zu verarbeiten. Die gemeinsamen Seminare seien ein Schritt in die richtige Richtung – könnten aber nur ein Puzzleteil einer künftigen Annäherung sein.

Zlata Poliashenko sieht noch ein weiteres Problem: Viele Ukra­iner:innen, die heute in Deutschland oder anderen Ländern leben, hätten ­ihre Situation noch nicht wirklich begriffen. Sie hätten zwar Zuflucht ge­funden, versuchten die Sprache zu ­lernen, einen Job zu finden: „Aber sie bleiben im Kopf in der Ukraine“, glaubt sie. „Es ist sehr schwer zu verstehen, dass ich mein Heimatland verloren ­habe. Selbstbestimmt ein neues Leben in einem anderen Land anzufangen, das ist das eine. Aber dazu vom einen auf den anderen Tag gezwungen zu werden, das ist schwierig.“

Ihr Umgang: Sie versucht abzuschließen. „Am 24. Februar 2022 hat ein neues Leben für uns begonnen.
Es wird nie wieder so sein, wie es früher war. Auch wenn der Krieg irgendwann vorbei ist. Ich werde nicht in die Ukraine zurückkehren“, sagt sie ab­geklärt: „Ich habe meine Heimat verloren. Jetzt muss ich mit dieser Situation umgehen und von null anfangen. Das ist die Realität.“ Mittlerweile hat sie das deutsche Sprachniveau B2 erreicht, der nächste Schritt soll ein Job sein.

Krieg gegen die Ukraine

Seit die russische Armee die Ukraine im Februar 2022 überfallen hat, sind nach UN-Angaben mehr als 10.000 ukrainische Zivilist:innen ums Leben gekommen.
Unabhängig überprüfbare Zahlen zu getöteten Soldat:innen auf beiden Seiten gibt es nicht. Schätzungen gehen aber von jeweils rund 70.000 Getöteten und Hunderttausenden Verletzten aus. Rund 5,9 Millionen Ukrainer:innen haben bis Januar 2024 Schutz in europäischen Ländern gesucht. Mehr als eine Million Ukrainer:innen wurden in Deutschland registriert. lg

Auch die Goncharenkos rechnen nicht damit, ihre Heimat in abseh­barer Zeit wiederzusehen: „Erst wenn Putins Regime gestürzt worden ist, gibt es die Möglichkeit für eine Rückkehr“, sagt Alexander Goncharenko, dem in Russland eine jahrelange Haft droht. Bis dahin seien die Seminare auch eine Art Therapie für das Ehepaar: Weil sie etwas bewirken können.Mit Blick auf die Zukunft sind sich alle drei einig. Noch vor 15 Jahren sei Putin in der Ukraine sehr populär gewesen. Das hat ihn nicht daran gehindert, Bomben auf das Land werfen zu lassen. „Er wird sich mit der Ukraine nicht zufriedengeben“, sagt Alexander Goncharenko unmissverständlich: „Wenn Putin nicht gestoppt wird, sind Hamburg und Berlin als Nächstes dran.“

 

Artikel aus der Ausgabe:

Hamburg, kannst du Karneval?

Pünktlich zum Karneval wird aus einem Gottesdienst in Ottensen eine rheinische Prunksitzung. Hinz&Kunzt hat sich unter die Jecken gemischt. Außerdem: Tod und Trauer im Schwerpunkt. Ein Besuch im Hospiz. Bei einer Bestatterin. Und die Spurensuche nach einem verstorbenen Hinz&Künztler.

Ausgabe ansehen
Autor:in
Lukas Gilbert
Lukas Gilbert
Studium der Politikwissenschaft in Hamburg und Leipzig. Seit 2019 bei Hinz&Kunzt. Zunächst als Volontär, seit September 2021 als Redakteur.