Erste Hilfe für die Seele

Unfälle, Gewaltverbrechen, Familientragödien: Die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Hamburger Kriseninterventionsteams betreuen die Zeugen menschlicher Dramen

(aus Hinz&Kunzt 196/Juni 2009)

Ein Mensch ist tot – gewaltsam, durch einen Unfall oder durch die eigene Hand aus dem Leben gerissen. Unfassbar. Um die Zeugen solch schrecklicher Ereignisse kümmern sich derzeit knapp 40 ehrenamtliche Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams (KIT) des Deutschen Roten Kreuzes – in einer Großstadt wie Hamburg zu wenige. Denn allein in 2008 wurde das KIT zu 224 Einsätzen gerufen, um Menschen im ersten Schock aufzufangen. Olav Meyer-Sievers ist als ehrenamtlicher Helfer seit mehr als drei Jahren dabei. Er erzählt von seinen Erfahrungen.

24 Stunden Bereitschaftsdienst beim Kriseninterventionsteam, von 19 Uhr bis 19 Uhr. Immer noch sind diese zwei Tage im Monat für mich keine Routine. Ich muss mich schnell auf ein dramatisches Szenario einstellen können und dann zu 100 Prozent präsent sein – auch um vier Uhr früh. Dabei weiß ich nie, was mich erwartet, wenn mein Handy klingelt und mich die Leitstelle alarmiert. Meistens wartet dann die Polizei auf uns – und Menschen in großer seelischer Not. Viel habe ich in den letzten drei Jahren bei meinen KIT-Einsätzen erlebt: Unfälle, Gewaltverbrechen, Suizide, Familientragödien – die ganze Bandbreite menschlicher Dramen.
Heute ist der erste Einsatz ein häuslicher Todesfall, ein häufiger Anlass, um uns zu rufen. „Familienvater tot zu Hause zusammengebrochen“, meldet die Leitstelle und gibt mir die Handynummer des Polizeibeamten vor Ort. Der weiß mehr: ein junger Mann, ungeklärte Todesursache, der Tote ist noch im Haus. Genauso wie die geschockte Ehefrau und ihre kleine Tochter. Als ich ankomme, erwartet mich der Polizist vor der Tür des Einfamilienhauses. Und meine KIT-Kollegin trifft ein. Wir besprechen uns kurz, bevor wir reingehen. Der junge Familienvater ist während der kleinen Geburtstagsfeier seiner Tochter im Badezimmer zusammengesackt, Todesursache unklar. Trotz der Anspannung bin ich erleichtert, als ich höre, dass die Familie Deutsch spricht. Problematisch wird es für mich, wenn ich mich nicht gut verständigen kann. Meine Kollegin ist da lockerer, sie geht schnell in den Körperkontakt, nimmt jemanden einfach mal in den Arm. Wir ergänzen uns gut, das hilft.
Wir gehen rein. Das Haus, ein heller Neubau, ist still. Die bunte Torte mit sechs Kerzen steht noch auf der gedeckten Tafel, die Geschenke sind noch nicht ausgepackt. Die Mutter, eine zierliche Blonde, sitzt leise weinend auf dem Sofa. Für uns ist das ein gutes Zeichen, denn Weinen bedeutet in der Regel, dass das schreckliche Ereignis „angekommen ist“, die Seele nicht dichtgemacht hat. Manche schreien und fluchen in ihrer Trauer, werden körperlich aggressiv. Andere ziehen sich in sich selbst zurück, schweigen – und manche verdrängen komplett und machen einfach weiter, als sei nichts geschehen. Zu jedem versuchen wir einen Zugang zu finden. Wir reden mit ihnen, schweigen mit ihnen, halten ihre Hand. Manchmal hilft schon die einfache Frage: „Mögen Sie erzählen, was passiert ist und wie Sie es erlebt haben?“ Reden ist ein wichtiger erster Schritt im Verarbeiten, es öffnet die Gefühle.
Das klappt auch bei der jungen Mutter. Stockend erzählt sie mir, was passiert ist. Wie ihr Mann kurz das Zimmer verließ und nicht wiederkam. Wie schrecklich es war, als er dann mitten im Bad auf dem Boden lag. Die scheinbar endlosen Minuten, bis der Rettungswagen kam. Die Hilflosigkeit, während Notarzt und Sanitäter alles Menschenmögliche taten – und doch ihren Mann nicht retten konnten. Die angstvollen Augen ihrer kleinen Tochter. „Warum?“ Diese Frage quält sie, und auch ich habe keine Antwort. Ich kann einfach nur für sie da sein.
Die Sechsjährige sitzt am Tisch und malt, wirkt unbeeindruckt. Es ist ihr Geburtstag, geht mir durch den Kopf. Wie wird sie den jemals wieder feiern können, ohne an diesen schlimmen Tag zu denken? Wann wird sie begreifen, dass ihr Papa nie mehr wiederkommt? Noch hat sie nicht realisiert, was passiert ist. Meine Kollegin findet mit ihrer offenen, freundlichen Art einen guten Draht zu der Kleinen. „Ich heiße Nicola – und wie heißt du?“ „Marie.“ Behutsam sucht meine Kollegin nach einem kindgerechten Weg, auf das Drama einzugehen. Sie spielt mit Marie und folgt den Bedürfnissen des Kindes. Die Lieblingspuppe soll zu Bett gebracht werden. Mitten im Spiel sagt Marie zu ihrer Puppe: „Lisa, Papa ist jetzt im Himmel, da passt er auf uns auf.“ Nicola und ich tauschen Blicke aus – beide müssen wir schlucken, und ich bekomme eine Gänsehaut. Aber Maries Bemerkung zeigt, dass sie sich mit dem Verlust auseinandersetzt. Die KIT-Kollegin knüpft daran an und fragt die Puppe: „Wie ist es denn im Himmel?“ Auf diesem Umweg entsteht ein Gespräch mit der Kleinen über ihre Vorstellungen vom Tod. Und dann kommen die Tränen. Marie stürzt sich in die Arme ihrer Mutter. Auch wir bekommen feuchte Augen …
Nach für unser Gefühl gar nicht so langer Zeit denkt Marie wieder an ihre Puppe. Die muss doch ins Bett! Nicola soll helfen und eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen. Eine gute Chance, auch dem Kind Nähe und Geborgenheit zu geben. Meine Kollegin macht das sehr gut, sie ist zugewandt, sensibel und kann aufmerksam zuhören. Das ist auch ein wichtiges Kriterium für uns in der Leitung des KIT, wenn wir mit neuen Bewerbern reden. Wer uns zutextet oder denkt, dass er sowieso schon alles kann, der ist bei uns nicht richtig. Wir brauchen keine Psychoprofis, sondern kommunikative, tolerante Menschen, die vor dramatischen Lebenssituationen nicht zurückscheuen. Alles, was man sonst noch braucht, das Praktische und Theoretische, lernt man bei uns in der Ausbildung.
Viele im KIT haben in ihrem Leben eigene Erfahrungen mit Tod und Trauer gemacht – manchmal ist das auch ein Anstoß, sich hier zu engagieren. Bei mir war es jedenfalls so. Seit meinem achten Lebensjahr hatte meine Mutter immer wieder versucht, sich zu töten; als ich 17 war, nahm sie sich tatsächlich das Leben. Damals gab es kein Kriseninterventionsteam, und Gespräche über den Tod wurden eher vermieden. Ich habe dichtgemacht und meine Gefühle verschlossen. Es hat lange gedauert, bis ich die Gefühle zugelassen habe. Dann habe ich begriffen, dass Abschied, Tod und Trauer zum Leben gehören und wollte aktiv damit umgehen. Auch deshalb mache ich heute die Arbeit beim KIT. Sicher, die Einsätze fordern viel und gehen zu Herzen. Aber wenn man spürt, dass man anderen Menschen in dramatischen Situationen wirklich helfen kann, tritt die Belastung zurück und die Motivation in den Vordergrund.
Die junge Mutter hat sich beruhigt. Behutsam frage ich nach, ob sie sich von ihrem Mann verabschieden möchte. Unsicher sieht sie mich an, nickt dann. Zunächst schaue ich allein ins Badezimmer. Ihr Mann liegt mitten auf dem Boden, um ihn herum noch einige Utensilien des Rettungsdienstes, Mullkompressen, Verpackungsmaterial. Ich räume auf, hole ein Kopfkissen und eine Wolldecke für den Toten. Dann bereite ich die Ehefrau genau auf den Anblick vor, der sie erwartet. „Möchten Sie eine Kerze für Ihren Mann mitnehmen?“ Wir gehen gemeinsam ins Bad. Sie schließt ihren Mann schluchzend in die Arme. Wieder die Frage: „Warum?“
Nach der Verabschiedung ist die junge Frau erschöpft. Aber man merkt auch, dass dieser Moment wichtig war und etwas bewegt hat. Ich ermutige sie zu einer Frage: „Möchtest du auch noch mal zu Papa, Marie?“ Marie schüttelt den Kopf. Sie bestimmt, was sie in dieser Situation möchte oder nicht.

Nun ist es an der Zeit, Hilfe für die folgenden Tage zu organisieren. „Wer kann in der nächsten Zeit für Sie da sein und Ihnen guttun?“ Die Großmutter kann kommen. Sie ist schon unterwegs. Das ist gut, denn bevor wir gehen, möchten wir, dass Mutter und Tochter nicht alleine sind. Wir sprechen darüber, dass es sinnvoll ist, die Schule des Mädchens über das Drama zu informieren. Und natürlich die Eltern der besten Freundin. Belastungssymptome sind jetzt ein wichtiges Thema. Die sind in den nächsten Tagen ganz normal, aber eine Gefahr, wenn sie bleiben. Wir nennen Organisationen und Ansprechpartner, die weiterhelfen können, auch für die Seele. Und wir besprechen praktische Fragen, zum Beispiel zu Behördengängen und Bestattung. Nach dreieinhalb Stunden haben wir das Gefühl, alles in unserer Hand Liegende getan zu haben. Damit ist unser Einsatz beendet.
Wir suchen uns in der Nähe einen Ort zur Einkehr. „Ein Wasser, eine Cola, bitte!“ Wir reden über unseren Einsatz, auch über die Momente, die uns besonders zu Herzen gingen: „Lisa, Papa ist jetzt im Himmel.“ Feuchte Augen. Diese Gespräche nach den Einsätzen sind wichtig. Auch der abschließende Einsatzbericht. Nicht nur wegen der Daten. Er fragt auch nach den Belastungen: Wie war der Einsatz für uns? Haben wir uns der Situation gewachsen gefühlt? Hatten wir das Gefühl, hilfreich zu sein? Wir sind erschöpft, aber zufrieden mit dem, was wir getan haben. Ich nehme das Handy und wähle die Nummer der Leitstelle. „Wir sind wieder einsatzbereit!“

Protokoll: Misha Leuschen

Für den Ausbildungsgang im zweiten Halbjahr 2009 sucht das KIT jetzt Menschen aus Hamburg, die Interesse an einer ehrenamtlichen Mitarbeit haben. Voraussetzungen sind unter anderem ein Mindestalter von 25 Jahren, physische und psychische Belastbarkeit, ein Führerschein der Klasse B und vor allem zeitliche Flexibilität für die regelmäßigen Bereitschaftsdienste.
Weitere Informationen zur Ausbildung und zum Bewerbungsverfahren unter www.kit-hamburg.de und beim Deutschen Roten Kreuz, Kreisverband Hamburg-Harburg, Telefon 76 60 92 69.

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