Stiftung für politisch Verfolgte : „Die Türkei ist nicht Erdoğan“

Barış İnce droht in seinem Heimatland Türkei eine Gefängnisstrafe - weil er als Journalist über einen Korruptionsskandal berichtete. Foto: Dmitrij Leltschuk

Der Journalist und Autor Barış İnce kämpft für eine offene türkische Gesellschaft. Das könnte ihn die Freiheit kosten. Gerade ist er Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte, die am Montag mit einem Preis geehrt wurde.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Er fühle sich wohl in der Schanze, sagt Barış İnce. Dass so viele Leute mit dem Fahrrad fahren, gefällt ihm, das Kulturleben auch. „Hamburg ist eine fröhliche Stadt.“ Aber heimisch werden will er hier nicht. Er ist nicht im Exil. Das ist dem Schriftsteller und Redaktionsleiter der türkischen Tageszeitung BirGün wichtig: Wenn das Stipendium bei der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte vorbei ist, fliegt er zurück in die Türkei. Auch wenn man ihn dort ins Gefängnis stecken sollte.

In der Türkei ist der 37-Jährige als scharfer Kritiker der Regierungspartei AKP bekannt. Noch immer kommentiert er auf birgun.net die türkische Politik, viele folgen ihm auf Twitter. Seine beiden Romane wurden Bestseller – „obwohl sie nur in oppositionellen Zeitungen besprochen wurden. In die Literatursendungen im Fernsehen lassen sie mich nicht rein.“

Morddrohungen nach regierungskritischem Kommentar

Im linken Spektrum der Türkei wird Barış İnce gefeiert, in konservativen Kreisen gehasst. Als er sich gegen Pläne der Regierung aussprach, Jungen und Mädchen in der Schule zu trennen, entbrannte ein Streit mit islamischen Fundamentalisten. İnce erhielt Morddrohungen. „Inzwischen haben sie mich vielleicht vergessen“, sagt er. Wer ihn in jedem Fall noch auf dem Zettel hat, ist die türkische Justiz.

Preis für den Schutz von Verfolgten

Die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte, die Menschen wie Barış İnce Schutz bietet, ist mit der „Goldenen Taube für Menschenrechte“ ausgezeichnet worden. Am Montag wurde der Preis im Rathaus verliehen. Die Stiftung unterstützt Menschen, die in ihren Heimatländern in Gefahr geraten, weil sie sich für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte stark machen. Sie vergibt Stipendien und hilft ihren Gästen, Kontakte zu knüpfen. Auch die maledivische Menschenrechtsaktivistin Shahindha Ismail ist derzeit als Stipendiatin der Stiftung in Hamburg.

„Es ging um einen Artikel über einen Korruptionsskandal 2014“, erzählt er. Auch deutsche Medien berichteten damals über die Millionenspende, die Bilal Erdoğan, Sohn des damaligen Premiers, als Vorsitzender einer Stiftung kassierte. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Korruptionsverdachts, im Internet kursierte der Mitschnitt eines angeblichen Telefonats zwischen Vater und Sohn über die Frage, wie das Geld am besten vor der Justiz zu verstecken sei. Letztendlich wurden die Ermittlungen eingestellt, die zuständigen Polizisten und Staatsanwälte versetzt.

Die Informationen seien damals von der Polizei gekommen, sagt der Journalist. „Viele haben darüber geschrieben. Aber mir haben sie den Prozess gemacht.“ Ein Jahr Haft sollte er bekommen, wegen Beleidigung. „Ich habe daraufhin eine Verteidigungsschrift verfasst. Eine sehr wütende Verteidigungsschrift.“

Dem Journalisten drohen fast zwei Jahre Haft

Kurz darauf kassierte er die zweite Anklage. Insgesamt soll er nun für 21 Monate hinter Gitter. İnce legte Berufung ein und wartet auf Antwort – seit mehr als vier Jahren. Fällt die Entscheidung wie geplant im Mai, würde das bedeuten, dass das Urteil bestätigt wird, sagt er. „Dann kann ich nichts mehr machen.“ Das halbe Jahr in Hamburg könnte seine vorerst letzte Zeit in Freiheit sein.

„Wir sollten da sein und das Land verändern.“– Barış İnce, türkischer Dissident

Trotzdem werde er zurückkehren, sagt Barış İnce. Zum einen wegen seiner Familie: „Ich habe einen zweijährigen Sohn, den vermisse ich sehr.“ Aber die Türkei brauche auch junge, modern denkende Menschen. Zu viele seien schon ausgewandert, weil sie sich nicht frei fühlten. „Wenn jemandem 20 Jahre Gefängnis drohen, verstehe ich das“, sagt er. Aber viele machten es sich zu einfach. „Wir sollten da sein und das Land verändern“, findet İnce.

Bis Mitte August jedoch wird er in Deutschland bleiben. Die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte hat ihn als Stipendiaten eingeladen und unterstützt ihn bei seiner Arbeit. „Ich lerne eine Menge Schriftsteller und Journalisten kennen. Das ist gut“, sagt Barış İnce. Die neue Umgebung helfe ihm, mit dem Druck der Repression umzugehen und Ideen zu entwickeln.

Deutsch-türkische Zeitung geplant

Eine nimmt bereits Form an. „Wir planen eine Wochenendausgabe der BirGün“, erzählt er. Sie soll zweisprachig erscheinen, zur Hälfte deutsch, zur Hälfte türkisch. Die ersten Netzwerktreffen mit Kollegen laufen, als Nächstes sollen Finanzierung und Vertrieb geklärt werden. „Und wir werden Abonnenten brauchen“, sagt İnce.

Der Erdoğan-Kritiker weiß: Die Mehrheit – rund 60 Prozent – der in Deutschland lebenden Türken sind Anhänger der AKP. „Aber das sind nicht alle. Viele wünschen sich eine vielfältige, offene Gesellschaft“, sagt er. „Das sind unsere Leser.“ Dass die linken, demokratisch gesinnten Türken in Deutschland kaum wahrgenommen würden, sei ein Problem, kritisiert İnce. „Die Türkei ist nicht Erdoğan.“

Artikel aus der Ausgabe:

Knast für Kapitänin?

Was Hinz&Künztler über den ersten Artikel des Grundgesetzes denken, lesen Sie in unserer Mai-Ausgabe. Außerdem: Wieso die Seenotretterin Pia Klemp bald in Italien vor Gericht steht und wie ein Hafenlotse auf Hamburg blickt.

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Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.

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