Kemal-Altun-Platz : Denkmal für einen Guten

Erinnerung an Yemi Akinsanya: das Graffito am Kemal-Altun-Platz in Ottensen. Foto: Mauricio Bustamante.

Auf dem Ottenser Kemal-Altun-Platz zeigt ein farbenprächtiges Graffito einen Mann.
Wer war er? Wie kam es zu dem Bild? Und warum wird es von niemandem angetastet?
Eine Spurensuche.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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 Letzte Sonnenstrahlen streifen den Kemal-Altun-Platz. Auf den noch warmen Steintreppen sitzen etliche Menschen. Manche trinken etwas, andere haben ihr Abendessen mitgebracht. Wie die Familie: Vater, Mutter, zwei Kinder. Als der Vater bemerkt, dass sein Sohn den Mann auf der Graffiti-Wand, die das Basketball-Feld begrenzt, sehr genau betrachtet, sagt er: „Das war Yemi. Ein ganz Netter.“ Habe in der Kita ­ge­arbeitet, in der seine Schwester war. Und ja, leider: Er sei nicht mehr am ­Leben. Der Junge nickt. Nimmt sich seinen Basketball. Dribbelt, wirft auf den Korb, wirft daneben; dribbelt, ­versucht es erneut. 

Will man mehr über den Mann auf dem Bild wissen, holt man am besten Deutschman dazu, einfach nur Deutschman, das reiche. Kumpel von Yemi, Freund, seit sie zwölf Jahre alt ­waren; auch zusammengewohnt hat er mit ihm, dem Musiker, Rapper und Sozialarbeiter. „Yemi hatte Tischler gelernt, aber mit dunkler Hautfarbe war das auf dem Bau damals kein Vergnügen“, sagt Deutschman. „Wir sind Straßenjungs, wir sind aus Altona und von mir bitte keine Fotos“, sagt er noch. Dann streckt er die Brust raus, zeigt aufs Bild und sagt: „Wichtig war ihm das ­Soziale; schreib das bitte!“

Ortswechsel: Lars Döscher öffnet die Tür zum „HausDrei“, dem Stadtteilkulturzentrum in Altona-Altstadt, drumherum liegt der August-Lütgens-Park. Döscher kam hierher, als im Sommer 2013 im Viertel die Luft brannte: Um Platz für die Erweiterung einer Schule und für ein neues Hallenbad zu schaffen, wurde der benachbarte Kunst­rasenplatz abgebaut – tagsüber und teils bis in die Nacht Treffpunkt vieler Jugendlicher und junger Erwachsener. Es gibt spontane Demos, es gibt Reibereien, es gibt ­Ärger. Die Polizei kontrolliert, nimmt fest. Immer wieder schaukelt sich die Situation hoch. Anwoh­ner:in­nen engagieren sich; ­wollen, dass man sich um die jungen Menschen kümmert. Die Türkische Gemeinde schaltet sich ein, organisiert ein Nachbarschaftstreffen. Lars Döscher, als Sozialarbeiter in Jugendhäusern tätig, wird auf das Geschehen aufmerksam. Er wohnt selbst hier, kennt viele Jugend­liche vom Sehen. Er nimmt Kontakt zum Jugendamt auf, warnt, dass die Situation weiter eskalieren könnte, und erhält den Auftrag, mit den jungen Menschen zu reden. „Viele Familien, oft mit Migrationsgeschichte, lebten sehr beengt auf wenig Platz, hatten Schwierigkeiten im Umgang mit den Ämtern, wussten nicht, was es an Hilfen und Unterstützung für sie gibt; ihre Kinder hatten Probleme in der Schule und ­danach einen Ausbildungsplatz oder einen Beruf zu ­finden“, erzählt er. Er fragt die Jugendlichen, wo für sie ein guter Ort sein könnte. Na, im HausDrei, da ­hätten sie doch teilweise schon als Kinder Zeit verbracht. 

Das Stadtteilkulturzentrum, ausgerichtet auf Erwachsene und jüngere Besucher:innen, aber nicht darauf ­eingestellt, Jugendsozialarbeit zu leisten, nimmt die Herausforderung an. Schnell wird klar, dass Lars Döscher die Arbeit nicht allein stemmen kann. Eine zweite Sozialarbeiterstelle wird ausgeschrieben: „Wir hatten Bewerbungen aus ganz Deutschland, super Zeugnisse dabei“, erzählt er. Dann schaut Yemi Akinsanya vorbei. „Es war eine Eingebung, wir waren uns schnell einig: Der Junge passt.“ Bodenständig und ebenfalls von hier. „Yemi hat sich selbst als ­‚Altonake‘ bezeichnet“, sagt Döscher und lächelt. Für Yemi sei der neue Job durchaus ein Sprung ­gewesen: „Er hat lange in der Kita ge­arbeitet, aber Jugendsozialarbeit, das war sein ­großer Traum. Für die da zu sein, für die niemand da ist.“

Und das kommt an: „Wolltest du mit Yemi mal kurz durchs Viertel ­gehen, um was zu besorgen, kamst du nicht weit: ‚Ey, Yemi …‘, ‚Yemi, kannst du …‘, ‚Yemi, hast du da eine Idee?‘ Ständig wurde er angesprochen, und das nicht nur von den Jugendlichen“, erzählt Döscher.

Fünf Jahre arbeiten sie eng zusammen. „Wir waren oft unter Druck, man erhoffte sich schnelle Erfolge.“ Die ­beiden gleichen den Druck aus: „Wenn wir uns mal wieder fragten, wie ­können wir allen gerecht werden und selbst dabei heil bleiben, haben wir einen Tee oder Kaffee getrunken, haben uns ausgetauscht und so Psycho­hygiene betrieben“, erzählt Döscher. „Wenn der Kollege am Ende gelacht hat, wusste ich, wir sind auf ­einem ­guten Weg.“ 

Dann erkrankt Yemi Akinsanya 2018. „Ich hatte immer gehofft, dass er zurückkommt, wir haben den Kontakt gehalten“, sagt Döscher. „Ich habe an eine Reha gedacht, vielleicht an eine Erwerbsminderung. Aber dass er nicht mehr da ist?“

Pfingsten 2020 stirbt Yemi Akin­sanya mit 43 Jahren. Ein Schock für die Familie und die Freund:innen; für die Kolleg:innen, die Jugendlichen, den Stadtteil. Die Familie möchte einen Trauermarsch organisieren. Alle unterstützen das. So wie Yemi sich für ­jede:n eingesetzt hat, für jede:n Zeit ­hatte, wollen sie nun ihm einen würdigen Abschied zelebrieren. Doch es ist Corona. Lars Döscher holt tief Luft: „Wir hatten vonseiten der Behörden richtig harte Auflagen.“ Einige ­Hundert Leute kommen zusammen und gehen in einem langen Zug durch ­Altona, durch Ottensen. In Dreierreihen, zur nächsten Reihe acht Meter Abstand. Niemand darf den Zug verlassen, ­niemand darf hinzukommen, Ord­ner:innen achten darauf. Immer wieder wird laut Yemis Name gerufen. „Es war einerseits sehr schön, mit all den Leuten. Aber ich war doch ziemlich angestrengt; hatte Sorge, dass es irgendwo eskaliert, schließlich sind bei einem Beerdigungszug viele Emotionen ­dabei“, erzählt er. Alles geht gut.

Zurück am Graffito auf dem ­Kemal-Altun-Platz, benannt nach dem türkischen Asylbewerber Kemal ­Altun, der Ende August 1983 aus einem Berliner Gericht in den Tod sprang, um seiner Abschiebung zu entgehen. Bis heute hält Deutschman den Kontakt zur Familie von Yemi Akinsanya. „Wenn einer von uns geht, dann kümmern wir uns um die Familie, die Freunde, wir lassen niemanden ­allein“, sagt er. „Und die Wand wird von niemandem angetastet!“ Da hätten sie ein Auge drauf.

„Ein gutes Graffito entsteht nach einem Plan, aber dann muss beim ­Malen jeder spontan sein und dafür musst du einander vertrauen“, sagt „Skena“, wie er sich mit Künstler­namen nennt. Er hatte damals zwar nicht mehr den engsten Kontakt zu Yemi, aber es war Ehrensache, zur Stelle zu sein. Von ihm stammt der ­silberne Schriftzug „Boggie Down Altona“ auf der Wand links: Zehn Jahre hat Yemi Akinsanya unter diesem ­Label die Hip-Hop-Bühne für das Straßenfest „Altonale“ betreut. „Die Hip-Hop-Bühne gibt es nicht mehr, aber so ist das, wenn einer nicht mehr da ist, der sich darum gekümmert hat“, sagt Skena. Er erklärt noch, was mit „Hanse-Knaller“ gemeint ist, dem Schriftzug in der Sternschnuppe quer über dem Bild: „Das war Yemis Rappername, als er als Teil der Formation ,Hamburger Hill‘ noch selbst Musik machte.“

Anderes zur Wand kann „Golden Green“ sagen; ­neben „Form76“, der gerade nicht in Hamburg weilt, damals der dritte Sprayer im Bunde. „Ich kenne den Kemal-Altun-Platz, da waren hier noch die Punker. Ich habe als Kind zwischen ihnen gespielt. Das war auch schön, damals war Ottensen viel diverser als heute“, holt er aus. Später, als der Platz, der lange nur eine Brache war, zum ersten Mal richtig durchgeplant wurde, entstand in Kooperation mit dem Stadtteilzentrum „Motte“ eine große Wand nur für Graffiti. „Yemi hat uns Jungs damals den Kontakt zur Motte vermittelt, er war so etwas wie unser Schirmherr, seitdem ist das unsere Wand, obwohl sie uns nicht gehört.“ Die Wand nicht ohne ihre Erlaubnis zu ­bemalen, sei ein ungeschriebenes Gesetz, jede:r ­wüsste das und würde sich daran halten. Nach Yemi Akinsanyas Tod war ihnen sofort klar, dass sie nun ihm die Wand widmen werden. Am Wochenende nach dem Trauermarsch trafen sie sich, hatten am Abend zuvor die Fläche grundiert, sie vorher von dem bisherigen Graffito gesäubert. „Wir haben jeden noch so kleinen Scheißfarbrest abgespachtelt“, sagt Deutschman.

Für Golden Green hat das Bild für Yemi noch eine Bedeutung: „Es ist auch ein Denkmal für das aussterbende Ottensen.“ Ein Statement, dass das Viertel mal ganz anders war. Wo Mietwohnungen dominierten statt Eigentumswohnungen, beispielsweise. „Ich bin kein ­Nostalgiker; Dinge ändern sich, es muss voran gehen“, sagt er. Nur: Warum kommen die Veränderungen nicht von innen, sondern von Leuten, die nichts von dem Spirit wissen, den das Viertel mal hatte, und die das auch wenig interessiert?

Davon erzählt ihm die Wand, mit dem Porträt von Yemi Akinsanya, das er und seine Freunde gesprayt ­haben: „Er war eine Legende, ein Typ, den jeder kannte. Er war ein Guter. Wir haben ihm hier ein Denkmal ­gesetzt, unautorisiert.“ Was wunderbar zum Platz passt: „Heute spricht ja jeder selbst­verständlich vom Kemal-Altun-Platz, obwohl der ­offiziell gar nicht so heißt.“

Artikel aus der Ausgabe:

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Digital ist schneller, einfacher, besser? Nicht unbedingt, wie unser Schwerpunkt zur Digitalisierung und den Problemen der Teilhabe deutlich macht. Außerdem: In einem ehemalige Hotel im Wienerwald bekommen Obdachlose wieder Boden unter den Füßen – mithilfe von eigensinnigem Federvieh. Und: Warum ein Graffiti auf dem Kemal-Altun-Platz in Ottensen von niemandem angetastet wird.

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