Ausstellung : Über Architektur, die Obdachlosen hilft

Das Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg zeigt die Ausstellung „Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“. Im Interview spricht der Kurator und Architekturhistoriker Daniel Talesnik darüber, wie Architekt:innen etwas gegen Obdachlosigkeit bewirken können.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Daniel Talesnik erscheint auf dem Bildschirm, die Sonne strahlt in sein Büro. Auf dem Tisch hinter ihm liegen große Papierrollen, an der Wand hängt eine Skizze.

Hinz&Kunzt: Herr Talesnik, was kann Architektur gegen Obdachlosigkeit tun?

Daniel Talesnik: Viel, sie könnte so viel bewirken! Ein Innovationsproblem haben wir nicht. Die Wohnprojekte für Obdachlose, die wir uns für die Ausstellung überall auf der Welt angesehen haben, sind aus verschiedenen Gründen interessant: manche wegen der verwendeten Materialien, andere, weil sie in einer Stadt oder in einem Viertel eine besondere Bedeutung haben.

Haben Sie ein Beispiel?

Im „VinziRast“ in Wien leben ehemals Obdachlose mit Student:innen zusammen. Diese Idee entstand aus Studentenprotesten: Sie forderten Unterkünfte für Menschen in prekären Wohnsituationen und schlossen sich mit Obdachlosen zusammen. So kam der Architekt auf die Idee für dieses Wohnprojekt. Interessant ist, dass es mehrere Räume gibt, die ein gemeinsames Leben im Viertel ermöglichen. Zum Beispiel ein Café im ersten Stock, ein Dachgarten, verschiedene Werkstätten im Keller. Ich glaube, der Anspruch muss generell sein: Wie schafft man Orte, an denen Obdachlose bleiben wollen? Das ist auch die Arbeit von Architekt:innen.

„Who’s Next?“ im Museum und bei Hinz&Kunzt:

Die Ausstellung läuft vom 14.10.22 bis 12.3.23 im Museum für Kunst & Gewerbe, Steintorplatz, geöffnet: Di–So, 10–18 Uhr und Do, 10–21 Uhr, Eintritt: 12/8 Euro, unter 18 Jahren frei.
Auch das Hinz&Kunzt-Gebäude in der Minen­straße 9 ist Teil der Ausstellung: Hier wird eine Fotoreihe von Ulrike Myrzik und Manfred Jarisch gezeigt. Sie dokumentiert Orte in Tokio, an denen obdachlose Menschen leben. Meist sind es Zwischenräume, die im öffentlichen Raum versteckt sind und in die sich Obdachlose zurückziehen, um ein Minimum an Privatsphäre zu erhalten. Die Öffnungszeiten bei Hinz&Kunzt sind Mo–Fr von 10–17 Uhr, der Eintritt ist frei.

Wie sehen diese Orte aus?

Es gibt nicht ein Gebäude, das wir überall hinsetzen können, um Obdachlosigkeit abzuschaffen. Interessant ist, dass es schon so viele unterschiedliche Unterkünfte gibt – weil die Menschen, die darin wohnen, sehr unterschiedlich sind. Manche sind extra für alkoholkranke Menschen entstanden, manche speziell für Frauen mit Kindern, manche für Menschen mit Kriegstraumata, für LGBTQ: Obdachlosigkeit ist eine soziale Situation mit verschiedenen Geschichten. Deshalb sind auch diese Unterkünfte so unterschiedlich.

Wenn über die Architektur öffentlicher Gebäude gesprochen wird, geht es viel um die Ästhetik imposanter Gebäude. In Hamburg gibt es ja ein berühmtes Beispiel, die Elbphilharmonie. Über welche Kriterien müsste gesprochen werden, wenn öffentliche Bauten auch Obdachlosigkeit mitdenken?

Die Elbphilharmonie habe ich einmal besucht, ein beeindruckendes Gebäude. Was ich aber interessant finde: Der öffentliche Raum ist oben, man muss eine Rolltreppe benutzen. Er ist also sehr gut zu kontrollieren. Wenn wir von öffentlichem Raum sprechen, dann meint das doch eigentlich: open space, also offener Raum. Meine persönliche Meinung ist, wenn viele Steuergelder für ein Gebäude ausgegeben werden, sollte immer auch die Frage gestellt werden: Wie zugänglich ist es? Die Seattle Public Library ist eines der Gebäude in den Vereinigten Staaten, das mit am meisten auch von der wohnungslosen Community genutzt wird. Die Bibliothek wurde einst als großer, offener Leseraum entworfen, mittlerweile konnte sie ihr Angebot um psychologische und juristische Beratung, Hilfe bei medizinischen Fragen und der Wohnungssuche erweitern. Daran sehen wir: Wenn ein Gebäude zugänglich ist und multifunktional, öffnet es sich eher für die Allgemeinheit.

Und damit immer auch für Obdach- und Wohnungslose?

Wir müssen generell definieren: Was ist öffentlich? Das ist wichtig, weil es eine Tendenz der defensiven Architektur gibt. Bänke werden so gebaut, dass Menschen darauf nicht schlafen können, Spikes errichtet, damit Obdachlose keine Zelte aufbauen. Aber: Es wäre eine bessere Stadt für alle, wenn wir auf der Bank eine Siesta machen könnten. Ein besserer Ort für alle, wenn es öffentliche Toiletten gäbe. Das hilft Menschen auf der Straße – aber nicht nur ihnen.

Sie leben und arbeiten in München, nun zieht Ihre Ausstellung nach Hamburg. Im Vergleich wirkt Obdachlosigkeit hier deutlich sichtbarer als in München. Welche Rolle spielt die Architektur einer Stadt dabei?

Unser Museum in München liegt im Kunstareal, in Richtung Hauptbahnhof kann man auch hier Obdachlosigkeit sehen. Aber ja, in Hamburg ist das viel sichtbarer. Solche Kontraste gibt es anderswo auch, nehmen wir New York und San Francisco. In Hamburg gibt es viele mobile Angebote, den Duschbus „GoBanyo“ zum Beispiel. In München gibt es eher feste Anlaufstellen. In unserer Ausstellung wird deutlich: Oft ist die Situation einer Stadt so spezifisch, dass die Reaktionen und die Hilfen sehr spezifisch sind. Obdachlosigkeit ist ein globales, ein nationales Problem. Aber ihre Realität ist jedes Mal lokal.

Die Europäische Union möchte Obdachlosigkeit bis 2030 abschaffen, hierfür wird das Konzept „Housing First“ viel diskutiert. Aus Sicht eines Architekten: Ist Housing First der richtige Weg?

Housing First ist eine sehr interessante Idee, in Finnland funktioniert sie ja unglaublich gut. Vielleicht macht die Größe des Landes mit seinen 5,5 Millionen Einwohnern – das sind weniger als in meiner Heimatstadt Santiago de Chile – die Situation überschaubarer. Der Schlüssel ist aber ein solider und funktionierender Wohlfahrtsstaat mit einem fortschrittlichen Wohnungswesen, das günstige Wohnungen stellt. Gleichzeitig antwortet Finnland besonders kreativ auf Obdachlosigkeit. Gerade entstehen Projekte zum Bau von Wohnungen auf Parkplätzen oder sogenannte Mikroapartments mitten in der Stadt. All das finde ich interessant.

Sie haben also den Anspruch an die Architektur, Wege zu finden, um allen Menschen ein Zuhause zu bieten.

Klar ist aber, dass Architektur alleine das nicht lösen kann. Obdachlosigkeit ist ein politisches Problem. Andersherum gilt, denke ich, auch für Architekt:innen: Wenn man die Dinge aus der Perspektive der Obdachlosigkeit betrachtet, kann man alle Fehler einer Gesellschaft erkennen.

Artikel aus der Ausgabe:

Auf dem Sprung

Die Elfjährige Mariia Zaritska ist aus Kiew geflohen und tanzt in Hamburg Ballett. Im Schwerpunkt: Was Verschwörungserzählungen mit Beziehungen anrichten – und wie man mit Argumenten dagegen halten kann. Außerdem: Atellierbesuch bei Regisseurin Katrin Gebbe („Die Kaiserin“).

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Autor:in
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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