„Wo sollen die Jugendlichen sonst hin?“

800 Sozialwohnungen gibt es am Billebogen in Lohbrügge-Ost. Freizeitangebote für Jugendliche fehlten jahrelang. Mit dem Senats-Programm Lebenswerte Stadt soll nun alles ganz schnell gehen

(aus Hinz&Kunzt 173/Juli 2007)

Wenn Martina Mußbach und Bianca Emil am Montagmorgen zur Arbeit kommen, greifen sie erst mal zum Besen. Vor dem Eingang zur Kindertagesgruppe „Kleine Strolche“ fegen sie Kippen, Flaschen und Scherben weg. Zurückgelassen von Jugendlichen, die sich am Wochenende hier aufgehalten haben.

Die Räume der „Kleinen Strolche“ liegen im Billebogen, einer Anlage mit rund 800 Sozialwohnungen im Osten von Lohbrügge. Aus der Luft sieht das siebengeschossige Häuserband wie ein Wabenmuster aus. Anfang der 80er-Jahre zogen die ersten Mieter ein, heute wohnen rund 4200 Menschen hier. Und gehen sich manchmal auf die Nerven.

„Für kleine Kinder ist der Billebogen toll“, sagt Tagesmutter Bianca Emil – Spielplätze, viel Grün, kaum Verkehr. Seit vier Jahren wohnt sie hier. Ihre fünfjährige Tochter Selin und ihr Baby Melissa, gerade acht Wochen alt, bringt sie in die Kindertagesgruppe mit.

Nur eine Erdgeschosswohnung würde Bianca Emil nicht beziehen wollen. Zum Beispiel wegen der Graffiti, die man dann von den Fensterscheiben entfernen muss. Und die Jugendlichen, die abends und am Wochenende vor der Tür der „Kleinen Strolche“ trinken und rauchen? Sind sie gefährlich? Die beiden Kita- Frauen winken ab. „Nein, die gehen weg, wenn man es ihnen sagt.“

„Auf eine Art kann ich die Jugendlichen verstehen“, sagt Erzieherin Mußbach. „Wo sollen sie sonst hin?“

Die Sorgen der „Kleinen Strolche“ sind beim Hamburger Senat angekommen. Lohbrügge-Ost mit dem Billebogen wurde vergangenen November ins Programm Lebenswerte Stadt aufgenommen. Zwei Millionen Euro sollen hier bis nächstes Jahr investiert werden – für Projekte unter dem Motto „Integration braucht Begegnung“. Ein Mittagstisch für Kinder ist dabei, Unterstützung für Schüler und eben mehr Freizeitangebote für Jugendliche am Billebogen.

Rund 13.700 Einwohner hat Lohbrügge-Ost. Dabei sind Bürger ohne deutschen Pass gar nicht so zahlreich: knapp zehn Prozent, das ist weniger als im Hamburger Durchschnitt. Doch dazu kommen Aussiedler, also Deutschstämmige aus osteuropäischen Staaten. Sie stellen zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung in Lohbrügge-Ost – schätzungsweise, denn da sie einen deutschen Pass haben, werden sie nicht extra erfasst.

Warum der hohe Aussiedleranteil? Viele waren zunächst in Unterkünften im Bezirk Bergedorf untergebracht. Dann fanden sie Wohnungen in der Nähe, in Lohbrügge und Neuallermöhe. Die Schließung von zwei Unterkünften seit 2005 habe diese Tendenz noch verstärkt, so der Senat.

Der Stress mit Jugendlichen, die zerdepperten Flaschen, die Kippen, das liest sich im Senatsprogramm so: „Zunehmend überforderte Nachbarschaften“ gebe es am Billebogen. Junge Migranten würde „durch eine Besetzung der öffentlichen Räume auffallen“ und alkoholisiert in ihrer Umgebung „Ängste erzeugen“.

Vielleicht, weil sie nichts Besseres zu tun haben? Vielen Jugendlichen im Billebogen fehlt schlicht die Perspektive: Jeder Dritte unter 18, merkt der Senatsbericht an, lebt von staatlicher Hilfe.

Das konnte Timm Ohrt nicht wissen – damals, als er den Billebogen entwarf. Ohrt ist Architekt und Stadtplaner. Mit 25 Jahren machte er sich selbstständig, sein erster Bau – ein Wohn- und Atelierhaus für seine Eltern in Rissen – steht inzwischen auf der Denkmalschutzliste. Ohrt gestaltete den Hamburger Rathausmarkt neu, plante die Siedlung Tegelsbarg, die Bahnhofsplätze in Hannover und Leipzig. Sein Beruf macht ihm Spaß, deshalb übernimmt der 71-Jährige auch jetzt noch Aufträge.

Ohrt steht am Ludwig-Rosenberg-Ring und schaut auf den Billebogen. Er ist neugierig. Seit 15 Jahren war er nicht mehr hier.

1972 hatte er mit Kollegen den städtebaulichen Wettbewerb gewonnen. Die Aufgabe: Wie lassen sich auf dem Gelände des ehemaligen Eisenwerks an der Bille rund 800 Wohnungen unterbringen? Ohrt sah maximal siebengeschossige Gebäude vor. „Damit waren wir die Niedrigsten“, erinnert sich der Planer, alle anderen Wettbewerber wollten höher bauen. Ohrt entwarf ruhige Innenhöfe zur Bille hin, praktisch ohne Verkehr. Und jede Wohnung sollte sich durchs ganze Gebäude erstrecken: mit Fenstern sowohl zum lauten, städtischen Raum nach vorn als auch zum grünen Park nach hinten.

So wurde es umgesetzt. Allerdings ohne Ohrt. Er hatte gehofft, die Anlage auch im Detail, als Architekt planen zu können – was mehr Geld gebracht hätte als der städtebauliche Entwurf. Aber das übernahm der Bauherr selbst, die Neue Heimat Nord. Zur Grundsteinlegung im Mai 1978 erschien der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt. Timm Ohrt war nicht mehr eingeladen.

Der Architekt ist nicht nachtragend, mit freundlicher Kritik geht er heute durch den Billebogen. Vor einem der stets gleichen Eingänge sagt er: „Das könnte ein schöner Vorplatz werden, zum Beispiel zum Grillen. Aber so sieht es anonym und trostlos aus. Kommt man hier in Stimmung?“ Die Bewohner müssten die Chance haben, sich den Raum vor den Häusern anzueignen. Ein paar Ecken weiter kritisiert Ohrt die tunnelartigen Durchgänge im Häuserband, sie seien „lieblos“. „Vielleicht könnte man hier mit Spiegeln oder Beleuchtung arbeiten?“

Ein Problem aber bleibt: die Größe der Anlage, fast 800 Sozialwohnungen mit entsprechender Bewohnerstruktur auf wenig Raum. „Ein Wald mit lauter Fichten“, sagt Ohrt, „ist auch nicht so gut wie ein Mischwald.“ Wenn er den Billebogen noch einmal entwerfen könnte, würde er wohl niedriger ausfallen. Die Häuser kleiner, dafür dichter zusammen, und vielleicht weniger Wohnungen. Vier oder sechs an einem Eingang, nicht 16 wie jetzt – damit sich die Menschen mit ihrem Haus und dem Platz davor identifizieren können.

Doch die Freiheit, weniger Wohnungen zu bauen, gab es damals nicht. Deshalb will der Planer niemandem einen Vorwurf machen, der Stadt nicht, der Neuen Heimat nicht. „Die Wohnungen“, sagt Ohrt, „wurden ja gebraucht.“

Die Architekturstudentin Beate Brockmann hat der Wohnanlage eine wissenschaftliche Arbeit gewidmet. Was sie schreibt, klingt höchst aktuell: „Im Billebogen werden Lebensvorstellungen zunehmend destruktiv ausgedrückt: durch Beschmieren, Kaputtmachen, Glasf laschen-Zerschmeißen.“ Tatsächlich aber entstand Brockmanns Arbeit Ende der 80er-Jahre. Haben die Probleme am Billebogen zwei Jahrzehnte lang niemanden interessiert?

Die Studentin sprach schon 1988 einen augenfälligen Mangel an. Höfe und Spielplätze sind schön für kleine Kinder. Aber wie überraschend: Kinder werden älter. Und dann? „Das Angebot für Jugendliche im wohnungsnahen Bereich ist nicht ausreichend“, diagnostizierte Brockmann. „Es fehlen Treffs, die attraktiv, nicht störend für umliegende Anwohner sind, selbst ausgestaltet werden können und nicht viel Geld kosten.“

Stattdessen gut gemeinte Halbherzigkeiten: Es gab Gemeinschaftsräume, aber weil sie nicht schallisoliert waren, konnte zum Beispiel keine Jugenddisco stattfinden. Und nach 22 Uhr musste sowieso Ruhe sein. Eine kirchliche Sozialarbeiterin, damals am Billebogen tätig, sagte im Interview mit der Studentin unumwunden: „Das ist kein Konzept, sozial schwierige Leute reinzusetzen, ohne was zu machen.“

Von „sozial schwierigen Leuten“ würde die SAGA GWG nicht sprechen. Sie vermietet rund 700 Wohnungen am Billebogen, die meisten mit drei Zimmern. Ja, es gebe Vandalismus, Schmierereien, Autoaufbrüche, aber nicht mehr als in anderen Wohnanlagen, sagt Unternehmenssprecherin Kerstin Matzen. Seit 2004 werde jeder Fall angezeigt, ein Wachdienst sehe zweimal pro Woche nach dem Rechten. Trotz der guten städtischen Lage – in Fußentfernung zum Einkaufszentrum Alte Holstenstraße, zum Bahnhof Bergedorf und zur Bille – stehen zwischen 1,5 und 1,8 Prozent der Wohnungen leer, so Matzen. Der Schnitt im Unternehmen liege bei gut einem Prozent.

Dieter Böhm soll dafür sorgen, dass sich Mieter wohlfühlen. Und dass solide Mieter bleiben. Der Sozialpädagoge, der in den Siebzigern studierte, arbeitet für ProQuartier, einer Tochtergesellschaft von SAGA GWG. Und weil das Programm Lebenswerte Stadt Bewohnerbeteiligung vorsieht, ist er derzeit öfter am Billebogen. Er organisiert eine Befragung von Mietern, will einen Bewohnerbeirat initiieren, vielleicht neue Gemeinschaftsräume öffnen. Und der kleine Anleger an der Bille – könnte da nicht ein Bootshaus entstehen, ein Pavillon mit einem Café?

Vor einem Jahr lud Böhm einen Profisprayer ein, rief ein Dutzend Jugendliche aus der Nachbarschaft zusammen und ließ einen Durchgangstunnel am Ludwig-Rosenberg- Ring verschönern. Das Interesse war groß: „Ich hätte doppelt so viele nehmen können“, sagt Böhm. Dass es am Billebogen keine regelmäßigen Angebote für ältere Jungen gibt, nennt er „nicht nachvollziehbar“. Das nächste offene Angebot, das Jugendzentrum am Kurt-Adams-Platz in Lohbrügge-Nord, sei „Ausland“ – zu weit weg.

Gut, wenn Jungs noch keine 15 sind. Dann können sie den Jungentreff der AWO besuchen. Die Metalltür liegt versteckt in einem Durchgang an der Walter-Freitag-Straße. Die Jugendlichen – rund drei Viertel aus Migrantenfamilien – haben eingekauft, sie wollen heute Burger zubereiten und später auf Video den Film „Casino Royale“ sehen.

Der Treff ist in der Woche an drei Nachmittagen geöffnet, an einem vierten Nachmittag wird Hausaufgabenhilfe angeboten. Besonderheit: Sowohl der bisherige Leiter Ralf Zehle als auch sein Nachfolger Torben Köhler sind Kletterlehrer, mit den Jungen erklimmen sie zum Beispiel den „Kilimanschanzo“ im Schanzenviertel. In den Ferien haben sie eine mehrtägige Klettertour ins Weserbergland angeboten. „Beim Klettern“, sagt Ralf Zehle, „lernen die Jungen, Verantwortung zu übernehmen.“

Den Jungentreff gibt es seit 2004, das Bezirksamt bezahlt eine halbe Erzieherstelle und ein paar Honorarstunden. „Völlig unterdimensioniert“, findet Zehle. Er wünscht sich mindestens zwei halbe Stellen, um drinnen und draußen gleichzeitig Angebote zu machen und auch die Wochenenden abzudecken.

Mit dem knappen Personal ist ein Programm für Ältere nicht drin. Ein Zwiespalt für das Team: Sie müssen Jugendlichen, die bisher willkommen waren, nach dem 15. Geburtstag die Tür weisen. Und dann? „Sie stehen auf der Straße“, sagt Zehle. „Dabei braucht gerade diese Altersgruppe etwas, das sie fordert.“

Die Mädchen haben es da besser. Viermal pro Woche öffnet für Neun- bis 18-Jährige der Mädchentreff der „Dollen Deerns“. Es gibt einen Billardtisch, einen Hausaufgabenraum mit Computern, Spiele, eine kleine Bibliothek. Einmal pro Woche wird gemeinsam gekocht. Neben dem Freizeitangebot steht die Sozialarbeit: Beratungsgespräche etwa bei Problemen zu Hause, in der Schule, mit dem Freund.

Pro Tag kommen rund 20 Mädchen. Leiterin Evin Kandemir erzählt von Armut und Gewalt in den Familien, vom „Bildungsnotstand“. Manchmal holen Eltern ihre Tochter ab, weil sie im Haushalt helfen soll – obwohl das Mädchen gerade an den Hausaufgaben sitzt, damit sie den Realschulabschluss schafft.

Der Mädchentreff existiert seit gut zehn Jahren. Vor etwa vier Jahren begannen die Kürzungen. Der Bezirk strich zwei Stellen auf anderthalb zusammen. Evin Kandemir sagt: „Wenn uns noch etwas weggenommen wird, sind wir zu.“

Aber nun kommt die „Lebenswerte Stadt“ an den Billebogen. „Ein Schnellschuss, das Geld muss irgendwie untergebracht werden“, kritisiert ein Sozialarbeiter vor Ort. „Eine späte Kompensation für bisherige Kürzungen“, sagt ein anderer. „Wir sollen hier Wahlkampf für Ole von Beust machen“, meint ein Dritter. Denn im Februar 2008 ist Bürgerschaftswahl. Und da wird die CDU mit ihrer Lebenswerten Stadt glänzen wollen.

Im Bezirksamt Bergedorf hält Dr. Ingrid Stöckl die Fäden zusammen. Sie koordiniert die Stadtentwicklung und ist auch für das neue Senatsprogramm zuständig. „Der Erwartungsdruck ist hoch“, räumt sie ein, denn das Programm laufe nur ein Jahr. Aber der Schwerpunkt für Lohbrügge-Ost, „Integration durch Begegnung“, sei gut gewählt. Und mit dem Geld könne man „kurzfristig aktivierende Maßnahmen durchführen“.

Außerdem kann Ingrid Stöckl einen Trumpf hervorziehen: Vor Kurzem wurde Lohbrügge-Ost in die Aktive Stadtteilentwicklung aufgenommen. Das bedeutet: Förderung voraussichtlich bis 2014, die Höhe liegt allerdings noch nicht fest.

Das Bezirksamt muss nun mit Projekten und Programmen jonglieren. Am Billebogen soll ein karger Bolzplatz zur „Jugendfreizeitf läche“ erweitert werden. „Das passiert hoffentlich im Sommer“, sagt Ingrid Stöckl. Zudem soll auf einem Parkplatz am Ludwig-Rosenberg-Ring, Ecke Beckerkamp ein Jugendcafé mit Fitnessraum entstehen. Diese Vorhaben können über die Lebenswerte Stadt finanziert werden.

Aber wer bezahlt das Personal im Jugend-Fitness-Café? Ein Gebäude ohne Betreuer wäre schließlich sinnlos. „Für Personal haben wir bisher keine Zusage“, sagt Ingrid Stöckl und betont das Wort „bisher“. Sie rechnet fest mit Mitteln des Bezirks, der wiederum aus der Aktiven Stadtteilentwicklung schöpfen könnte.

„Das Jugend-Fitness-Café ist gewollt“, betont die Koordinatorin. „Ich bin zu 99 Prozent sicher, dass es kommt.“ Die vorbereitende Sozialarbeit solle jetzt starten, ab Frühjahr 2008 könne gebaut werden.

Martina Mußbach und Bianca Emil von der Kindertagesgruppe „Kleine Strolche“ kehren am Montagmorgen wohl bis auf Weiteres Flaschen und Kippen zusammen. Sie könne die Jugendlichen ja verstehen, hat Erzieherin Mußbach gesagt, „wo sollen sie sonst hin?“ „Aber wenn sie hier schon stehen“, fügt sie an, „sollen sie wenigstens ihren Dreck mitnehmen.“

Detlev Brockes

SAGA GWG

Dem Unternehmensverbund SAGA GWG gehören rund 135.000 Wohnungen; das sind rund 15 Prozent der Wohnungen in Hamburg. Die Wohnanlage Billebogen wurde bis Mitte der 80er-Jahre von der Neuen Heimat Nord errichtet. Nach der spektakulären Auflösung des gewerkschaftseigenen Konzerns – Vorstandsmitglieder hatten sich persönlich bereichert – übernahm die Stadt die Wohnungen und übergab sie später an die GWG. SAGA und GWG taten sich 1999 zusammen.

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