„Die freuen sich, dass ich noch lebe“

Chris, 44

(aus Hinz&Kunzt 201/November 2009)

Als Chris 16 Jahre alt war, zog er mit seiner Freundin zusammen und fühlte sich zum ersten Mal geliebt. Kurz darauf probierte er Hasch und war zum ersten Mal entspannt. Er stieg von einer Droge auf die nächst härtere um, konsumierte immer öfter – bis er sich schließlich täglich Heroin spritzte. Mit 21 hatte Chris zum ersten Mal Entzugserscheinungen und realisierte, dass er abhängig ist. „Da dachte ich, mein Leben ist vorbei.“

201_bildDas Geld für seinen Stoff besorgte Chris sich manchmal illegal, etwa mit Diebstählen, und kam dafür ins Gefängnis. Als er kurz vor seinem 30. Geburtstag nach zwei Jahren Haft und kaltem Entzug entlassen wurde, merkte Chris: „Ich nehme Drogen nicht, weil ich ein böser Junge bin, sondern weil ich Probleme mit mir herumtrage.“ Die Erkenntnis war der Start zu einer Reihe von Behandlungen. Die Aufnahme in ein Substitutionsprogramm, bei dem Süchtige vom Arzt einen Drogenersatzstoff bekommen, „war eine Erlösung“. Er ging täglich in die Kieler Drogenambulanz und nahm ein Kodein-Präparat. Das befriedigte seinen Körper, der ohne Drogen gar nicht mehr funktionierte. So entkam Chris dem Teufelskreis aus Geldbeschaffung, Drogenkauf, Rausch und drohender Nüchternheit.

Für eine der vielen Therapien, die er machte, ging er nach Hamburg, wohnte auf Station und begann, die Erlebnisse seiner Kindheit zu verarbeiten. Die Rückfälle, die er immer wieder hatte, verschweigt Chris nicht. Zum Beispiel 2007. Damals starb sein Bruder unter ungeklärten Umständen. Er gilt als Drogentoter. Geschockt und hilflos sehnte Chris sich wieder nach seiner alten Familie: der Drogenszene.

Als Rückfalliger kam Chris Anfang des Jahres ins Hamburger „Nordlicht“, einer Einrichtung für Abhängige. „Die vierte Entgiftung dort hat gefruchtet“, sagt Chris. Und jetzt: lebt er nach einer beinahe 30-jährigen Drogenkarriere clean und wird nur noch mit einer geringen Dosis substituiert. Er will sich eine eigene Wohnung und eine Arbeit suchen. „Ich habe meine cleanen Kontakte wieder aktiviert.“ Heißt: Chris hat alte Freunde angerufen, die keine Drogen nehmen. „Die freuen sich, dass ich noch lebe.“

Hinz&Kunzt: Was hast du diese Woche Besonderes erlebt?
Chris:
Ich habe viel Energie in meine Sozialstunden gesteckt. Zusammen mit Sozialarbeitern kümmere ich mich um eine ältere Frau auf einem Bauwagenplatz.

H&K: Wo wohnst du derzeit? Und wie ist es da?
Chris:
Im Bodelschwingh-Haus. Es fühlt sich an, wie eine eigene Wohnung zu haben.

H&K: Wie hat dir die Oktober-Ausgabe gefallen?
Chris:
Leider habe ich es noch nicht geschafft, sie zu lesen. Aber die davor fand ich gut.

H&K: Wo hast du vor fünf Jahren gelebt?
Chris:
Ich habe mit meiner Freundin zusammengewohnt, war clean und habe etliche Bewerbungen geschrieben. Es gab schon Hartz IV. Meine Sachbearbeiterin hat mir prophezeit, ich würde mein ganzes Leben lang Ein-Euro-Jobs machen. Wenn überhaupt.

H&K: Wie möchtest du in fünf Jahren leben?
Chris:
Schuldenfrei. Da hat sich jede Menge angehäuft, das ich den Gläubigern gerne zurückzahlen will. Die haben ja Geld von mir zu kriegen.

H&K: Wer oder was imponiert dir?
Chris:
Leute, die trotz Auf und Ab wieder oder immer noch zu mir halten. Danke dafür!

H&K: Was hast du im Moment in der Hosentasche?
Chris:
Das Feuerzeug meines Bruders und meinen Schlüssel.

H&K: Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?
Chris:
Dass meine Eltern mich akzeptieren wie ich bin – und meinen Bruder im Nachhinein auch.

Text: Beatrice Blank

Foto: Mauricio Bustamante

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