„Hamburger Mutmacher“ : Wie Hinz&Kunzt das soziale Klima erwärmte

Stephan Reimers hat Hinz&Kunzt 1992 gegründet. Foto: Mauricio Bustamante

Hinz&Kunzt-Gründer Stephan Reimers hat ein Buch über all die Projekte geschrieben, die er ins Leben rief – also auch über uns. Lesen Sie hier einen Auszug aus „Hamburger Mutmacher“.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Die starke Zuwanderung der 1990er-Jahre traf auf eine Stadt, die bereits von einer Aufspaltung in arme und reiche Stadtteile geprägt war. Entweder tendierten Ortsteile dazu, sich zu sogenannten besseren Wohnlagen zu entwickeln, oder sie rutschten ab in Richtung eines neuen sozialen Brennpunkts mit vielen ­Arbeitslosen und Menschen, die von Sozialhilfe abhängig und oft zugewandert sind. Segregation nennen Soziologen diese Auseinanderentwicklung einer Stadtgesellschaft.

Das Gefährliche an dieser Entwicklung ist, dass die Menschen sich so weit aus den Augen verlieren, dass das Gefühl für das Gemein­same schwindet und Ängste voreinander entstehen. Dabei aber geht Toleranz verloren, die Fähigkeit, das Anderssein des anderen auszuhalten.

Im Winter 1992 waren in Hamburg obdachlose Menschen nicht zu übersehen. Sie sammelten sich in kleinen Grüppchen an vielen Stellen der Innenstadt. Die Vorbei­gehenden sahen sie in der Regel nicht an, sondern schauten in einer Mischung aus Mitleid und Unbehagen geflissentlich an ihnen vorbei.

Buchvorstellung

Stephan Reimers: Hamburger Mutmacher, Ellert & Richter Verlag, 144 Seiten, 9,90 Euro

Stephan Reimers präsentiert sein Buch im Gespräch mit Ivo Banek (erster Chefredakteur von Hinz&Kunzt), Chefredakteurin Birgit Müller, Landespastor Dirk Ahrens und Hauptpastorin Astrid Kleist am 23. November um 18 Uhr in der Jacobikirche, Jakobikirchhof 22; Eintritt frei

Der Verkauf von Hinz&Kunzt aber eröffnete nun eine neue Möglichkeit. Man konnte miteinander sprechen, Anteilnahme ausdrücken und Vertrauen gewinnen. Der Weihnachtsverkauf der Zeitung war begleitet von Zigtausenden Dialogen, manchmal nur aus einem freundlichen Wunsch bestehend oder einem bedauernden „Ich hab schon eine“. Oft aber entspannen sich längere Gespräche aus der ersten Kontaktaufnahme. Schlagfertigkeit, Witz und Humor wurden gegenseitig entdeckt. Begegnungen von Mensch zu Mensch, geprägt von echtem Interesse – für beide Seiten eine ungewohnte Erfahrung.

Es geht um Augenhöhe

Eine Käuferin schrieb mir: „Ich sprach mit einigen begeisterten Verkäufern. Sie sind glücklich, nicht nur so zu betteln, sondern was zu tun zu haben. Sie sind stolz auf neue Schuhe und Jacken, stolz darauf, nicht überall herauszufliegen, wo sie gern mal einkehren möchten.“ Viele Verkäufer haben ihre ersten Verdienste tatsächlich in Kleidung investiert. Gegen die Kälte, aber auch, um der neuen Rolle gerecht zu werden. Es geht um die Augen­höhe für die vielen Gespräche mit interessierten und engagierten Käufern.

Eine andere Leserin lobte: „Hinz&Kunzt ist sehr gut als ‚Mitbringsel‘ geeignet, um eine Diskussion über dieses Thema in Gang zu setzen. Aber das ist nicht die Hauptsache. Wichtig ist für mich ganz persönlich der ­Kontakt zu den Verkäufern. Das hilft mir, mit dem Obdachlosenproblem, vor dem man inzwischen die Augen wirklich nicht mehr verschließen kann, besser, natürlicher, toleranter und verständnisvoller umzugehen. Ich habe nicht mehr das Bedürfnis, die Straßenseite zu wechseln, sondern ich nehme mir jetzt oft die Zeit, mit den Obdachlosen zu reden.“

Um zwei Dialoge aus dieser Zeit zu nennen: Adrienne Göhler, die Präsidentin der Kunsthochschule, erzählte mir lachend: „Ihr habt aber schlagfertige Verkäufer. Ich sage zu e­inem: ‚Ich habe schon eine Zeitung bei einem Ihrer Kollegen gekauft.‘ Da sieht er mich an und sagt: ‚So, was steht denn drin?‘

Eine andere Frau erzählte mir, dass ihr beim ­Bezahlen plötzlich klar wurde: „Hoppla, jetzt kann ich mir keine Tasse Kaffee mehr kaufen.“ – „Macht nichts, dann­ ­lade ich Sie eben ein“, sagte der Verkäufer. Sprach’s und tat’s. Solche Geschichten und Briefe signalisierten ein Aufatmen, dass die Zeit des Schweigens vorüber war. Beziehungen zwischen Menschen konnten sich verändern. Das soziale ­Klima der Stadt erwärmte sich.

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Stephan Reimers
Stephan Reimers war Hamburger Landespastor, Diakoniechef und hat 1992 Hinz&Kunzt gegründet.

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