„Wie ein Zuhause“

Milieunahe Erziehung: In zwei Wohngruppen im Schanzenviertel finden vernachlässigte Kinder Hilfe – und halten trotzdem Kontakt zu ihren Eltern
(aus Hinz&Kunzt 154/Dezember 2005)


Manfred* steht in der Tür
und lugt vorsichtig in die Wohnung. Das soll es also sein, das Heim, in dem er jetzt leben soll. Er ist aufgeregt, hat Angst, aber wie! „Ach, keiner da“, sagt der Zehnjährige kläglich zu der Sozialarbeiterin, die ihn hier abgeben soll. Am liebsten würde er auf dem Absatz kehrtmachen und flüchten. Wenn er nur wüsste, wohin. Und wenn da nicht auch schon Maria um die Ecke biegt. Lachend: „Klar, ist da jemand. Ich!“

Vier Jahre ist das jetzt her.
Vertrauen, dass Maria, Yvonne und Joachim – die drei Sozialpädagogen in seiner Wohngruppe – tatsächlich da sind, hat Manfred inzwischen. So einigermaßen jedenfalls. „Aber manchmal hat Manfred immer noch Angst“, sagt Maria Nemitz. Dann will er wissen, ob jemand rausfliegen kann. Aber ein Prinzip beim Verein Stadtteilbezogene milieunahe Erziehung (SME), zu dem die Wohngruppe im Schanzenviertel gehört, lautet: So schnell fliegt keiner raus.

Manfreds Verlustangst
kommt nicht von ungefähr. Seine Mutter verließ die Familie von einem Tag auf den anderen, keiner wusste, wohin sie verschwunden war. Der Vater war überfordert. Er kam mit dem Haushalt nicht klar, nicht damit, dass ihm die Frau weggelaufen war, und schon gar nicht damit, dass da ein kleiner Junge war, der selbst so viel brauchte. Das Zusammenleben mit dem Vater wurde unerträglich. Nie wusste der Junge, in welcher Stimmung er den Vater gerade antreffen würde und warum er nun wieder mit ihm meckerte. Dann verlor der Vater auch noch die Wohnung und wurde obdachlos. Manfred kam in die Wohngruppe von SME. Erst viel später erfuhr er, dass seine Mutter in einer anderen Stadt ein neues Leben angefangen hat. Ein Leben ohne ihn. Inzwischen hat sie wieder Kontakt aufgenommen zu ihrem Kind. Manfred ist froh darüber. Aber der 14-Jährige hat sich entschieden: Er will weder zu seinem Vater zurück, der inzwischen wieder eine Wohnung hat, noch zu seiner Mutter. Er will bei SME bleiben. „Hier, das ist sowas wie ein Zuhause“, sagt er.

Die 16 Jugendlichen
in den beiden Wohngruppen von SME wissen alles übereinander. Auch über die Probleme mit den Eltern. Denn es gibt eine Besonderheit: Die Sozialpädagogen versuchen, engen Kontakt zu den Eltern aufzubauen. Sie werden, wenn sie wollen, in sämtliche Entscheidungen einbezogen – selbst wenn sie das Sorgerecht verloren haben. „Weiß ich, wie ich mich verhalten würde, wenn ich solche Probleme hätte wie manche der Eltern?“, sagt Maria Nemitz.

Johanna war sechs Jahre alt,
als sie zum ersten Mal zur Polizei ging und sagte, sie brauche Hilfe, so gehe es beim besten Willen nicht mehr weiter. Aber die Beamten brachten sie zurück, dieses Mal und viele weitere Male. Zurück zu ihrer überforderten Mutter, zurück zu einem Stiefvater, der Johanna, ihre Schwester Lara und ihren Bruder Benedikt schlug. Zwei Jahre später schafften es die beiden Schwestern in die Wohngruppe von SME. „Wir können Benny doch nicht dort lassen!“, sagten sie. „Der muss da raus, wer weiß, was der Stiefvater ihm jetzt antut.“ SME setzte alle Hebel in Bewegung. Auch Benedikt, damals sieben Jahre alt, kam in die Wohngruppe. Die Geschwister vertragen sich weiß Gott nicht immer. Aber sie haben sich und sie hatten sich vor allem in der Zeit, als sie ganz auf sich gestellt waren; als niemand draußen ihre Hilfeschreie ernst nahm. Später stellt sich heraus, dass der Stiefvater Lara, die Älteste, missbraucht hatte.

Karolin hat einen kleinen Bruder. Der war ursprünglich auch in der Wohngruppe, ist aber wieder zur leiblichen Mutter zurück gegangen. Das hat Karolin schon weh getan. Sie selbst hat eine Odyssee hinter sich. Zuhause hatte sie sich mit ihrer Mutter nur gestritten. Mit acht kam sie in eine Pflegefamilie. „Ich war zuerst heilfroh“, sagt die 14-Jährige. Aber sie geriet vom Regen in die Traufe. In der Pflegefamilie war es mindestens genauso schlimm für sie wie daheim. Offenbar wurde die Pflegemutter mit dem aufbrausenden, empfindlichen Kind nicht fertig. „Ich bekam für alles die Schuld“, sagt Karolin.

Die meisten Kinder
haben durch den Stress, in dem sie gelebt haben, mehr als genug Energie. Sport wird deshalb bei SME groß geschrieben. Die Kinder gehen schwimmen, machen Hapkido, fahren Ski und fahren im Sommer gemeinsam mit dem Fahrrad in die Ferien. „Sie müssen sich austoben und Erfolge haben“, sagt Maria Nemitz. „Und sie müssen lernen, sich wieder zu spüren.“

Reinhard ist vergesslich.
Mehr als andere. Dass ein 14-Jähriger mal seine Hausaufgaben vergisst, ist normal, aber Reinhard vergisst alles. Vielleicht will er sich nicht erinnern, weil er zu viel erlebt hat. Seine Mutter, psychisch angeschlagen, gibt ihn einer Freundin, als er drei Monate alt ist. Die Freundin trinkt. Reinhard mag seine Pflegemutter. Aber sie ist oft nicht ansprechbar und leicht reizbar. Bis ein Amt davon erfährt, vergehen Jahre. Ein Vormund wird bestellt. An den kann sich Reinhard vor allem in einer Situation erinnern. Als er zehn Jahre alt ist, wird er aus dem Unterricht geholt. Draußen wartet der Vormund. „So kann es nicht weitergehen“, sagt er. Und Reinhard weiß gar nicht, wovon der Mann redet. Reinhard muss mitkommen. Er wird bei SME abgeliefert. Abends bringt seine Pflegemutter eine Tasche mit seinen Sachen. Das war vor vier Jahren.

Reinhard hat sich gut eingelebt
in der Wohngruppe, ist nett, lieb, versucht keine Angriffsfläche zu bieten. Aber – nicht verwunderlich – er wirkt, als fühle er sich bei niemanden wirklich aufgehoben. Ob ihm jemand wichtig ist, weiß er nicht so genau. Doch die Erwachsenen geben nicht auf. Vielleicht kann er ja doch eines Tages darauf vertrauen, dass nicht alle Menschen, die er mag, ihn verlassen. Bis dahin gilt es, den Alltag zu bewältigen. Jede Woche treffen sich Maria Nemitz oder einer ihrer Kollegen mit dem Lehrer, um die Hausaufgaben abzugleichen und Kontakt zu halten. Reinhard scheint sich etwas zu entspannen, denn die Sozialpädagogen müssen sich nur noch alle zwei Wochen mit den Lehrern treffen.

Engen Kontakt
zur Schule halten die Sozialpädagogen bei fast allen Kindern. Oft sind auch die Eltern dabei. „Sie sollen ja lernen, Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen und sich auch deren Problemen stellen“, sagt Maria Nemitz.

Schule ist ein Hauptthema bei SME. Viele Kinder, die vorher die Förderschule besuchten, schaffen hier den Hauptschulabschluss. Johanna beispielsweise. Sie hat auch ein Ziel: Köchin will sie werden. Am liebsten wie Jamie Oliver oder Tim Mälzer. Gerade macht sie ihr zweites Praktikum in einem Restaurant – und wäre eigentlich ganz zufrieden.

Wäre. Sie wurde nämlich
vor ein paar Tagen zusammengeschlagen, draußen im Park. Von zehn Jugendlichen, eine davon lebt unten in der anderen Wohngruppe von SME. Sie ist erst zwölf. Typisch SME: Wieder wird geredet, aber nicht nur. Die Kinder beider Gruppen treffen sich ohne Täter und Opfer und diskutieren. Schließlich soll die Sache geklärt werden und nicht zu einer Massen-Rache-Schlägerei ausarten. Dabei stellt sich heraus, dass diese Jugendlichen häufig andere Kinder bedrohen. Am nächsten Tag kommen Jugendbeauftragte der Polizei. Und die stellen gegen alle an der Schlägerei Beteiligten Strafanzeige. Auch wegen unterlassener Hilfeleistung. Sozialpädagogin Maria Nemitz findet das gut. „Die Kinder müssen lernen, Verantwortung dafür zu tragen, was sie anrichten.“ Dass sie diese Verantwortung auch tragen können, dafür sind dann wiederum Maria Nemitz und ihre Kollegen da. Wenn’s sein muss rund um die Uhr. 

* Da wir nicht die echten Namen verwenden wollten, durfte sich jedes Kind einen neuen geben.

Text: Birgit Müller

SME steht für Stadtteilbezogene milieunahe Erziehung. Seit 1984 gibt es das Projekt im Schanzenviertel. Es bietet in zwei Gruppen Platz für 16 Kinder zwischen 6 und 18 Jahren. Die Idee: Kinder, die von ihren Eltern getrennt leben müssen, sollen in den familiären Gruppen ein kindgerechtes Leben führen können und lernen, für sich Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig sollen Kinder und Eltern in dem Maße, in dem es ihnen gut tut, Kontakt halten und einen neuen Umgang miteinander pflegen. Nach zwei Jahren entscheiden Eltern und Kinder, ob die Kinder wieder in die Familie zurückkehren oder in der Wohngruppe bleiben. Das Besondere an SME: Viele Sozialpädagogen leben mit ihren Familien im Haus, sodass sich der Kontakt zu den Kindern nicht auf die Arbeitszeit beschränkt.

Das Projekt setzt stark auf Kontakt zu den Eltern. Und zwar auch zu denen, die kein Sorgerecht mehr haben. Einmal im Monat gibt es eine Eltern- und eine Kindergruppe. Das heißt: Alle Eltern treffen sich in der Wohngruppe und tauschen sich aus. „Das ist für die meisten eine große Entlastung“, sagt SME-Chef Rüdiger Kuehn. „Denn sie sehen: Die anderen Eltern haben ähnliche Probleme.“ Wer allerdings keine Bereitschaft zur Kooperation zeigt, bekommt Druck: SME-Mitarbeiter besuchen die Eltern zu Hause. Aber genauso stark ist der Druck, den die Kinder machen. „Wenn alle anderen Eltern da waren, nur die eigenen nicht, dann wird das den Eltern natürlich brühwarm unter die Nase gerieben“, so Kuehn. Wichtig für den Kontakt sind auch die gemeinsamen Ausflüge. „Da sehen die Eltern, dass auch die Sozialpädagogen manchmal Ärger mit den Kindern haben“, sagt Kuehn. „Ich spüre dann immer eine – verständliche – kleine Häme.“

Zu SME gehören außerdem eine Beratungsstelle und rund 20 Wohnungen für Jugendliche. Finanziert wird die Arbeit von der Stadt und von Spendern.

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