Lieferando, Gorillas und Co. : Was der Lieferboom für die Angestellten bedeutet

Vertrautet Bild auf Großstadtstraßen: Die Angestellten von Lieferando, Gorillas und Co. liefern Essen oder Supermarkteinkäufe an die Wohnungstür. Foto: Mauricio Bustamante

Ob Lieferando, Gorillas oder lokales Start-up – Lieferdienste gehören zu den Coronagewinnern. Was bedeutet das für ihre Beschäftigten?

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Als Ende vergangenen Jahres erste Landkreise Ausgangssperren verhängten, tauchten bislang wenig gefragte Kleidungsstücke auf Portalen wie Ebay-Kleinanzeigen auf: die orangen Jacken des Lieferdienstes Lieferando! Sie galten plötzlich als Ticket, um auch spät noch unterwegs zu sein. Nicht selten wurden dreistellige Summen gefordert.

Denn während die meisten Menschen möglichst zu Hause bleiben sollten, bescherte die Pandemie den Lieferdiensten einen beispiellosen Boom: Ihre Fahrer:innen fluteten die Straßen der Großstädte. Beim Marktführer Lieferando wuchsen die Bestellzahlen Anfang 2021 im Vergleich zum Vorjahr um satte 77 Prozent. Allein von Januar bis März gingen mehr als 39 Millionen Bestellungen ein.

„Lieferando zählt zu den Gewinnern der Krise“

„Lieferando zählt zu den absoluten Gewinnern der Krise“, sagt Johann Möller von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Zugleich drängen in Deutschland immer neue Lieferdienste auf den Markt. Gorillas oder Flink liefern Supermarktwaren im Eiltempo an die Haustür. Neben Lieferando, das zum niederländischen Mutterkonzern Just Eat Takeaway gehört, bringt auch Wolt die fertige Mahlzeit auf Klick nach Hause. Schon bald will Uber Eats in Deutschland starten. Auch lokale Alternativen kämpfen um ihren Anteil am Kuchen.

Lieferando-Betriebsrat Jonas Müller weiß, was der Lieferboom für die Beschäftigten bedeutet. Foto: Maurice Weiss / Ostkreuz

Was der Erfolg von Lieferdiensten für die Fahrer:innen bedeutet, weiß Jonas Müller. Der 41-Jährige fährt seit Jahren für Lieferando und hat den Betriebsrat im Unternehmen mit aufgebaut. Für ihn beginnen die Probleme bei der Ausrüstung: „Die Regenklamotten sind nicht wasserdicht, die Winterjacke schützt nicht ausreichend vor Kälte.“ Für den passionierten Radfahrer ist das kein großes Problem: Er ist privat gut ausgestattet. „Das gilt aber nicht für alle Kollegen.“

Lieferando zahlt nach eigenen Angaben einen Basisstundenlohn zwischen 10 und 11 Euro, also knapp über Mindestlohn. Hinzu kommen Verschleißpauschalen für selbst genutzte Fahrräder. Wer viel fährt, erhält zudem Bonuszahlungen. Manche Fahrer:innen kämen so auf Stundenlöhne von 16,50 Euro. Betriebsrat Müller spricht von 15 Euro, Trinkgeld gebe es obendrauf. Wer weniger Bestellungen schafft, habe keine Nachteile zu befürchten, sagt Müller. „Noch nicht zumindest. Ich habe Sorge, dass sich das in Zukunft ändern könnte.“ Die Fahrer:innen würden schließlich permanent per App getrackt. Die Trackingdaten würden jedoch „nicht zur unerlaubten Leistungs- oder Verhaltenskontrolle genutzt“, versichert ein Lieferando-Sprecher.

„Das war eine Zumutung“

Auch Alex (Name geändert) fährt Essen aus, allerdings für das Hamburger Start-up Stadtsalat. Das Unternehmen wirbt mit lokalen Lebensmitteln, in Werbevideos rasen gut gelaunte Fahrradkuriere durch die Stadt. Passt das zur Wirklichkeit? „Naja, die Realität ist definitiv eine andere als die Außendarstellung“, sagt Alex. Der Verdienst – knapp über Mindestlohn plus Boni für Vielfahrer:innen – sei schlechter als beim Konkurrenten mit den orangenen Rucksäcken. Als es zu Jahresbeginn bei zweistelligen Minustemperaturen anfing zu schneien, mussten Alex und seine Kolleg:innen weiterfahren, erzählt er. Lieferando habe seinen Service da schon eingestellt. „Wir sind bis abends um zehn durch die Stadt gescheucht worden“, erinnert sich Alex. „Das war eine Zumutung, da hätte das Unternehmen die Reißleine ziehen müssen.“

Dann sei da noch die Sache mit den Schichten. Für die Fahrer:innen gibt es eine Mittags- und eine Abendschicht. Alex fährt meist beide. Dazwischen heißt es warten, ohne Bezahlung. „Momentan fahre ich meistens nach Hause, weil die Restaurants, in denen man warten könnte, wegen Corona geschlossen haben.“ Alex fährt auf Midijob-Basis: Er darf zwischen 450 und 1300 Euro verdienen. Für einen weiteren Job sei durch die Wartezeiten kaum Zeit. Trotzdem hat sich der 25-Jährige bewusst für Stadtsalat entschieden. „Hier habe ich nette Kollegen, und man kennt sich. Es ist familiärer. Das ist mir wichtig.“

Stadtsalat-Geschäftsführer Marcus Berg betont auf Nachfrage, sein Unternehmen versuche, Fahrer:innen ein „Top-Umfeld, bestehend aus Wertschätzung, Bezahlung, Ausrüstung und Betriebsklima“ zu bieten. Die allermeisten seiner Angestellten würden keine Doppelschichten fahren, außerdem stehe ein Aufenthaltsbereich bereit. Inklusive Trinkgeld und Bonuszahlungen kämen die Fahrer:innen auf einen Lohn von 15 Euro die Stunde. Der vergangene Winter sei an einigen Tagen eine Herausforderung gewesen, räumt der Geschäftsführer ein. Allerdings habe man auch im Gespräch mit den Angestellten viel gelernt: „Wir werden auf kommende Extremwetterbedingungen noch besser vorbereitet sein.“

Druck auf dem Kessel

Weniger familiär geht es offenbar bei Lieferando zu. Oft sei den Fahrer:innen nicht klar, wer ihnen bei Problemen weiterhelfe, kritisiert Betriebsrat Jonas Müller. Zwar könnten sie sich an die Zentrale wenden, den sogenannten Hub. Das wüssten viele aber nicht: „Ihr Ansprechpartner ist erst mal ausschließlich eine E-Mail-Adresse.“ Laut dem Betriebsrat ein echtes Problem für die Kommunikation. „E-Mails werden teilweise wochenlang nicht beantwortet. Leute wollen Urlaub machen und bekommen keine Antwort, Leute wissen zwei, drei Wochen vor Vertragsauslauf nicht, ob ihr Job verlängert wird. So was passiert tagtäglich.“ Zugespitzt habe sich die Situation, weil der Konzern zuletzt stark gewachsen ist. Strukturen seien nicht eingespielt, Stellen nicht besetzt. Die Folge: Frust bei den Angestellten. „Es gibt Fälle, in denen Fahrer richtig ausrasten und im Hub stehen und rumbrüllen. Das zeigt, dass da Druck auf dem Kessel ist“, sagt Müller.

Fahrer:innen von Lieferdiensten sind mittlerweile fest im Stadtbild verankert. Foto: Mauricio Bustamante

Lieferando weist die Vorwürfe zurück: „Unsere Fahrer bewerten die Beantwortung ihrer Anliegen mit mehr als 8 von 10 Punkten im Durchschnitt.“ Fragen an die Personalabteilung seien im März im Schnitt innerhalb von 19 Stunden beantwortet und in weniger als drei Tagen gelöst worden. „Dabei ergeben sich die größten Verzögerungen durch verzögerte Rückmeldungen von Fahrer:innen.“

Rund die Hälfte der Angestellten sind laut Betriebsrat Müller Geflüchtete. Anderswo auf dem Arbeitsmarkt hätten sie oft keine Chance. Viele ernähren mit dem Job die ganze Familie. Insbesondere für diese Vollzeitangestellten grenze die Arbeit an Extremsport: „Im Schnitt fährst du so sieben oder acht Kilometer die Stunde. Wenn du Vollzeit angestellt bist und 160 Stunden im Monat fährst, sind das weit über 1000 Kilometer.“ Manche gerieten damit an ihre Belastungsgrenze. Laut Lieferando liegt der Stundenschnitt bei 5 Kilometern.

„Es ist besser als Pakete auszufahren“– Hakim, arbeitet für Lieferando

Einer der Geflüchteten ist Hakim (Name geändert, Red.). Der 30-Jährige kam 2014 aus Syrien nach Deutschland und arbeitet seit März bei Lieferando. Einen anderen Job habe er nicht gefunden, erzählt er. Statt mit dem Rad Kilometerrekorde zu brechen, ist Hakim mit dem eigenen Auto unterwegs. „Mit dem Fahrrad ist es zu anstrengend.“ Zwar schaffe er so nicht ganz so viele Bestellungen, doch für 1650 Euro netto habe es vergangenen Monat trotzdem gereicht. Er sieht seine Zukunft zwar nicht bei Lieferando, ist aber durchaus zufrieden mit seinem Job: Es sei besser, als Pakete auszufahren.

Über inakzeptable Arbeitsbedingungen klagen hingegen Beschäftigte des Liefer-Start-ups Gorillas. Das Unternehmen verspricht, Supermarkteinkäufe binnen zehn Minuten nach Bestellung an die Haustür zu liefern. Auf Twitter berichten Angestellte anonym von Videoüberwachung im Lager, fehlenden Aufenthaltsräumen und schlechten Rucksäcken, die Rückenschmerzen verursachen. Gorillas weist die Vorwürfe dazu zurück: Keines ihrer Lager in Deutschland werde per Kamera überwacht. In den meisten gebe es Pausenräume. In manchen seien die „etwas kleiner“, man arbeite aber an Verbesserungen. Eine erste Charge Rucksäcke sei durch ergonomische und komfortable Nachfolger ersetzt worden.

Die Konkurrenz wächst

Lieferando-Betriebsrat Jonas Müller hofft, dass mehr Konkurrenz auf dem Markt der Lieferdienste bessere Arbeitsbedingungen und Löhne für die Fahrer:innen schafft. Denn schon heute hätten die Unternehmen Probleme, Mitarbeiter:innen zu finden. Betriebsräte, wie bei Lieferando, gibt es bei neuen Playern zunächst einmal nicht. Entsprechend gespannt ist er, wie die Mitbewerber mit Arbeitnehmerrechten umgehen. Johann Möller von der NGG ist skeptisch: Die Erfahrung zeige, dass Arbeitgeber als Erstes am Personal sparen würden, um Kosten zu senken. „Man wird nicht dadurch reich, dass man der arbeitnehmerfreundlichste Betrieb ist.“ Hinzu komme eine Besonderheit der Branche: Weil die Leben der Fahrer:innen so unterschiedlich sind, sei es besonders schwer, sich zu vernetzen – zumal die Angestellten kaum aufeinandertreffen. „Dieses kollektive Gefühl wäre aber wichtig, um sich darüber klar zu werden, dass man mit seinen Problemen nicht alleine ist.“

Im Bundesarbeitsministerium scheint man die Probleme erkannt zu haben. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat kürzlich ein Eckpunktepapier vorgelegt, wie er die sogenannte Plattformökonomie regulieren will. Arbeitnehmer:innen sollen eine bessere soziale Absicherung und besseren Unfallschutz erhalten, Kündigungsfristen will Heil verlängern, die Organisierung der Beschäftigten erleichtern. Erst mal bleibt es bei Absichtserklärungen: Ein Gesetz plant der SPD-Minister nach der Bundestagswahl – wenn er dann noch im Amt ist.

Autor:in
Lukas Gilbert
Lukas Gilbert
Studium der Politikwissenschaft in Hamburg und Leipzig. Seit 2019 bei Hinz&Kunzt. Zunächst als Volontär, seit September 2021 als Redakteur.

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