Krieg in der Ukraine : „Arme Menschen leiden am meisten“

Kharkiv nach einem Bombeneinschlag am 1. März. Foto: Actionpress

Eigentlich kümmert sich die Organisation Narodna Dopomoha in der Westukraine um Obdachlose. Jetzt hilft die NGO auch Kriegsflüchtlingen. Im Interview schildert die Leiterin die dramatische Situation.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Seit im Osten der Ukraine gekämpft wird, hat „Narodna Dopomoha“ sein Aufgabengebiet in der westukrainischen Stadt Chernivtsi erweitert: Neben Obdachlosen finden dort seit 2014 auch Flüchtlinge aus dem eigenen Land Unterstützung und Unterkunft. Das internationale Straßenzeitungsnetzwerk INSP hat mit der Leiterin Anastasiya Berizde über die aktuelle Situation gesprochen.

INSP: Sie unterstützen derzeit Menschen, die aus Kiew und anderen Regionen der Ukraine vor dem Krieg fliehen. Was tun Sie für diese Menschen?

Anastasiya Berizde: Es sind jetzt etwa 6000 Flüchtlinge hier in Chernivtsi, aus verschiedenen Teilen der Ukraine. Und es werden jeden Tag mehr. Wir nehmen sie hier in Empfang. Sie können bleiben und warme Getränke zu sich nehmen, und wir versorgen sie mit Mahlzeiten und einem Ort zum Ausruhen und Schlafen. Viele waren drei oder vier Tage hierher unterwegs. Wir unterstützen sie dabei, in der Stadt eine Unterkunft zu finden. Die Einheimischen helfen uns sehr, und die Stadtverwaltung organisiert auch viele Plätze. Wir versuchen außerdem, Medizin und Kleidung zu organisieren, denn die Menschen kommen mit nichts hier an.

Sind sie für den Moment sicher und weit weg von den Auseinandersetzungen?

Sicher ja, aber so weit entfernt nicht mehr. Als es losging, waren wir 1000 Kilometer entfernt, jetzt sind es eher 500 Kilometer. Kiew ist inzwischen ein sehr gefährlicher Ort und wird jeden Tag angegriffen. Die meisten Menschen, mit denen wir derzeit arbeiten, kommen aus der Hauptstadt und der Zentralukraine. In Chernivsti gab es bislang keine Angriffe – aber wir bereiten uns darauf vor. Wir sind nah an Rumänien und viele Leute sagen, hier wird es keine Angriffe geben, weil wir so nah an der EU sind. Aber wir werden sehen, was passiert.

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Straßenzeitungen sind besorgt um Obdachlose, die vom Krieg in der Ukraine besonders betroffen seien. Hinz&Kunzt: "Der Krieg trifft die Ärmsten immer am härtesten."

Der Krieg betrifft alle Ukrainer:innen. Was bedeutet er für die Menschen, die vorher schon ausgegrenzt waren?

Das ist schwer zu sagen. Die Menschen, die gerade durch die Ukraine fliehen können, gehören keinen marginalisierten oder vulnerablen Gruppen an. Es sind in der Regel Menschen, die Autos, Familien und genügend Ersparnisse haben. Die anderen Gruppen, zum Beispiel Menschen, die in Armut leben, leiden am meisten, weil sie in den Städten bleiben müssen, die angegriffen werden. Wir arbeiten weiter mit den Obdachlosen in Chernivsti, unsere Anlaufstellen und Notunterkünfte sind geöffnet, die Menschen sind hier sicher. Hier ist alles so weit normal – aber das ist in Kiew oder Kharkiv ganz anders, dort wurde viel zerstört. Die Menschen, die dort bleiben, vor allem große Familien mit Kindern, sind sehr verwundbar, und viele Menschen sind bereits gestorben.

Wie hat sich Ihre Arbeit verändert, nachdem der Konflikt 2014 begonnen hat, und wie hat sie sich jetzt verändert?

Wir haben immer mit Obdachlosen gearbeitet. Als die Invasion im Osten begann, haben wir auch begonnen, mit Flüchtlingen von dort zu arbeiten. Anfangs kamen nicht viele nach Chernivtsi, die Menschen sind in größere Städte wie Kiew geflohen. Aber die, die kamen, haben wir aufgenommen, sie sind ein Teil unserer Gemeinschaft geworden. Jetzt gehen wir davon aus, dass unsere Region und die Gegend bei Lviv an der polnischen Grenze, zum Fokus für Flüchtlinge werden.

Es haben bereits fast eine halbe Million Menschen die Ukraine verlassen und sind nach Rumänien, Ungarn und Polen geflohen. Was können Sie beobachten? Ziehen die Menschen, die bei Ihnen untergekommen sind, weiter?

Ja, viele Menschen nutzen die Möglichkeit, über die Grenze zu gehen – nach Rumänien, Polen, die Slowakei. Viele gehen von hier nach Rumänien, weil es die nächste Grenze ist. Wegen der ukrainischen Bestimmungen können nur Frauen, Kinder und Alte ausreisen. Männer müssen bleiben, weil sie eventuell einberufen werden.

Wie blicken Sie angesichts der unsicheren Situation in die Zukunft?

Natürlich hoffen wir auf Frieden. Aber es sieht so aus, als würde Russland die Angriffe fortsetzen. Die Gespräche zwischen den Regierungen in Belarus waren ergebnislos. Deswegen befürchte ich, dass es weitergeht. In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten werden viele weitere Menschen zu uns kommen. Kharkiv (zweitgrößte Stadt des Landes im Osten, Red.) ist fast komplett zerstört. Natürlich machen wir uns Sorgen um Kiew, denn wenn das dort auch passiert, wird die Ukraine in einer sehr schwierigen Position sein.

Wie können Menschen in anderen Ländern helfen und Ihre Organisation und ähnliche Initiativen unterstützen?

Vor allem sollten die Menschen so viel wie möglich über die Situation sprechen. Am Ende geht es nicht nur um die Ukraine und Russland – nach Putins Statements ist ganz Europa bedroht. Auf unserer Facebook-Seite veröffentlichen wir Informationen, wie man uns helfen kann. Viele unserer Partner aus Österreich, Deutschland und anderen Ländern haben uns Geld geschickt. Europa darf uns in dieser furchtbaren Situation nicht verlassen. Es ist das 21. Jahrhundert und es sollte keinen Krieg geben – also muss er gestoppt werden.

Übersetzung: Benjamin Laufer

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