Gerhards Mission

In Salzburg verkauft er Straßenmagazine – in Indien hilft er armen Familien

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Der Container ist angekommen. Jetzt muss er nur noch durch den Zoll. Gerhard Entfellner, Verkäufer des Salzburger Straßenmagazins „Apropos“, hat ihn von Österreich nach Indien geschickt – beladen mit Werkzeug, alten Nähmaschinen, Decken und Kinderpielzeug. Vor Ort verteilt der 39-Jährige die Hilfsgüter an arme Familien. Einige von ihnen kennt er seit Jahren, sie sind seine Freunde. Andere trifft er jetzt zum ersten Mal.

„Im Dorf haben sie einen Hahn für mich geschlachtet“, sagt Gerhard Entfellner laut und übertönt für einen Augenblick die Hindi-Popmusik, die aus den Lautsprechern des Jeeps scheppert. Stolz erzählt er mit ruhiger, angenehmer Stimme von den abenteuerlichen Erlebnissen mit seinem Hilfsprojekt in Karnataka, einer Provinz in Südindien. Er schmunzelt über Ramesh, der vorne auf dem Beifahrersitz ganz in der Musik aufgeht und mitsingt. Den 25-Jährigen kennt Gerhard schon lange. Er begleitet ihn. Ramesh spricht Hindi, Karnatak, die lokale Sprache, und ein bisschen Englisch. Er dolmetscht, und Gerhard zählt auf seinen Rat.

In der Mittagshitze klettert die kleine Delegation, angeführt vom ortsansässigen Sägewerksbesitzer, aus den Autos und besichtigt ein Dorf in trockener weiter Landschaft.

„Es fing mit einer Wirbelsäulenoperation an, als ich 18 war“, eröffnet Entfellner seine Geschichte. Zu 70 Prozent ist er invalid. Seine seltsam aufrechte und starre Haltung rührt von einer versteiften Wirbelsäule. Durch seine Krankheit habe er erfahren, was es bedeute, immer kämpfen zu müssen, schwach und ausgegrenzt zu sein. Er fühle sich den Armen der Gesellschaft verbunden, sagt er. In Österreich ist er mit einer Invalidenrente von 620 Euro im Monat selbst arm. Das Salzburger Straßenmagazin verkauft er schon seit Jahren.

Hier in Indien empfängt er kein Geld auf der Straße, sondern verteilt es. Rollenwechsel. Jedem Kind, jedem Bettler drückt er ein paar Rupienmünzen oder einen Schein in die Hand. Als er vor sechs Jahren das erste Mal in Indien war, lag Gerhard wie Tausende anderer Touristen unter Palmen am Strand. Er sprach mit den Kindern, die Stoffe und Kleidung anpriesen. Sie freundeten sich an. Er lernte ihre Familien und ihre Armut kennen. Sie baten ihn um Hilfe, und Gerhard wollte helfen. Die Kinder sollten zur Schule gehen, statt für den Lebensunterhalt der Familie zu arbeiten.

Der entscheidende Moment war, als eine der jungen Frauen hinter ihm herlief, ihn kurz vor seiner Abreise aufhielt. „Bitte bleib’ – und bring mir Lesen und Schreiben bei“, habe die damals 16-jährige Renuka zu ihm gesagt. Er blieb und unterrichtete sie. Er fühlt sich als Freund der Familien. Der auffällige eckige Goldring, den er trägt, ist ein Geschenk von ihnen und Symbol ihrer Verbundenheit. Renuka hat ihn ausgesucht.

Inzwischen hat Gerhard Entfellner das Hilfsprojekt „Karnataka“ gegründet. Viele Gespräche hat er mit den Familien geführt, um mit ihnen gemeinsam herauszufinden, was genau helfen würde. Schließlich haben sie zusammen einen Brunnen gebaut, mit dem ein Feld bewässert werden kann, dessen Erträge den Brotbedarf einer Großfamilie für ein Jahr decken. Sie haben Häuser renoviert und neue Grundstücke erworben. Er selbst unterstützt die Ausbildung eines jungen Mannes an einer weiterführenden Ingenieursschule. Von Anfang an sei für ihn klar gewesen: „Wenn man den Kindern helfen will, dass sie in die Schule gehen, muss man zuerst den Eltern helfen.“

Gerhard nimmt seine Mission ernst. Persönliche Bereicherung liege ihm fern, sagt er und greift zu seiner Mappe, um die Kostenaufstellungen zu präsentieren. Sein Profit liegt auf einer anderen Ebene. Er sagt, er würde geistige Geschenke empfangen. Sichtbar genießt er das Interesse, den Respekt und die Anerkennung, die ihm für sein Engagement entgegengebracht werden. „In Österreich zählst du nichts als Straßenzeitungsverkäufer. Das ist hier anders, hier respektiert man mich.“ Jetzt wird sogar ein Film über ihn gedreht: In Karnataka begleitet ihn Wolfgang Haberl, ein ebenfalls aus Salzburg stammender Dokumentarfilmer.

Die Spenden für sein Hilfsprojekt kommen bisher vor allem von seinen Kunden, den Käufern und Lesern der Salzburger Straßenzeitung. Nicht alle seien reich, aber einige, sagt Gerhard. Wie Robin Hood bringt er das Geld von den Reichen zu den Armen. Doch er hat den Spendern nicht die Waffe vorgehalten, sondern den Menschen von seinem Projekt erzählt und darüber geschrieben. Jetzt ist bereits der zweite Container in Indien angekommen. Wie im vergangenen Jahr organisiert Gerhard vor Ort die Verteilung der Sachspenden, die er mit Freunden und Unterstützern in Salzburg gesammelt hat.

Die kleine Delegation um Gerhard ist mittlerweile im dritten Dorf angekommen. Die Situation ist hier besonders prekär, die Armut groß: Die Dorfbewohner haben kein eigenes Land. Wenn sie Arbeit haben, dann als Tagelöhner in der Landwirtschaft, wo sie etwa 50 Rupien (entspricht einem Euro) am Tag verdienen. Es gibt keinen Brunnen im Dorf. Die Dorfbewohner versammeln sich stumm, keiner von ihnen trägt Schuhe.

Der fast zahnlose Dorfälteste tritt vor und schildert die Situation. Der sonst so gelassene Gerhard Entfellner ist unruhig, sichtlich berührt von der Situation. Wolfgang Haberl, der Filmer, beobachtet durch den Sucher seiner Kamera die Kinder und raunt einen schlimmen Verdacht: „Ich könnte mir vorstellen, dass das alles Show ist, gestellte Traurigkeit.“ Gerhard sucht Blickkontakt mit seinem Vertrauten Ramesh. Der nickt: „very poor“. Dem Dorfältesten drückt Gerhard einen 50-Rupien-Schein in die Hand und entscheidet, einen Teil der Hilfsgüter hierher zu bringen. Im Zweifel für den Angeklagten.

Später, im Jeep, sagt er, dass er die Menschen kennen lernen wolle. Es sei gewiss nicht sein letzter Besuch gewesen. „Ich nehme immer erst mal das Gute an und prüfe dann.“

Annette Scheld