2000 Obdachlose in Hamburg : Platten, überall

Keine Wohnung, kein Zimmer, noch nicht mal mehr Betten sind frei. Sogar in der Notunterkunft Pik As werden jeden Abend im Schnitt zehn Obdachlose abgewiesen. Deswegen schlafen überall in der Stadt Menschen auf der Straße. Der Senat muss endlich das versprochene Sofortprogramm für Obdachlose auf den Weg bringen.

(aus Hinz&Kunzt 268/Juni 2015)

Kasimir hat sein Wohn- und Schlafzimmer direkt am Fleet an der Schleusenbrücke. Sieht wildromantisch aus, wie er da auf seinem knallbunten Schlafsack sitzt, umgeben von Schnickschnack, den er von Passanten geschenkt bekommen oder den er gesammelt hat, um ihn seinerseits wieder zu verschenken. Geschützt wird sein „Zuhause“ von einer blauen Plastikplane. „Endlich“, sagt Kasimir, als wir kommen. Wir, das sind meine Kollegin Annette Woywode, unser Fotograf Mauricio Bustamante und ich. Wir sind unterwegs, um mit den Obdachlosen zu sprechen, die Platte machen. „Ich habe schon auf euch gewartet.“ Dann muss er schnell winken: Ein Bus ist gerade abgebogen und hat die Fahrt gedrosselt, der Fahrer beugt sich auf Kasis Seite und grüßt. Wüssten wir nicht, welche Geschichte Kasi hat, man könnte das Ganze geradezu idyllisch finden.

Kasimir macht Platte - genau gegenüber dem Ort, an dem vor ein paar Monaten seine Freundin gestorben ist.
Kasimir macht Platte – genau gegenüber dem Ort, an dem vor ein paar Monaten seine Freundin gestorben ist.

Aber Platte machen ist kein Campingurlaub. Und eigentlich müsste Kasi in einem Bett schlafen. Sowieso, aber auch weil er krank ist. Seine Platte ist genau gegenüber dem Ort, an dem vor ein paar Monaten seine Freundin gestorben ist, als er gerade im Krankenhaus war. Den Blick auf diese Stelle will er frei haben. Auch wenn er wütend und enttäuscht ist, dass die Nische, in der er früher mit seiner Freundin geschlafen hat, so umgebaut wurde, dass da kein Obdachloser mehr schlafen kann. Wieder ein Schlafplatz weniger.

Bedroht ist seine Platte auch immer wieder vom Ordnungsamt. Aber noch hat er Verbündete. Das hat sich bei Sturm Zoran Anfang Mai wieder gezeigt. Da drohte ihm sein Hab und Gut um die Ohren zu fliegen. Mit aller Kraft hängte er sich an seine blaue Plane, aber alleine hätte er sie im Orkan nicht halten können. Einer seiner Lieblingspolizisten kam des Weges und stemmte sich mit ihm gegen den Sturm.

Kaum einer, den wir an diesem Abend getroffen haben, will wirklich draußen schlafen. Für die meisten ist es – die Kanzlerin würde sagen – alternativlos. Rund 2000 Menschen, so schätzt die Diakonie, leben in Hamburg auf der Straße. Selbst in der Notunterkunft Pik As werden pro Nacht zehn Menschen wegen Überfüllung abgewiesen.

Detlef und Patrick machen gemeinsam Platte – mit Abstand. „Das ist ja fast so wie zwei Einzelzimmer."
Detlef und Patrick machen gemeinsam Platte – mit Abstand. „Das ist ja fast so wie zwei Einzelzimmer.“

Detlef aus Lurup, den wir ebenfalls in der City treffen, hat alles ausprobiert: auch das Winternotprogramm mit acht Mann auf dem Zimmer. Das war in diesem Jahr für knapp 900 Menschen ausgelegt. Und trotz der rustikalen Bedingungen bis zum letzten Tag Anfang April voll. Detlef ist nur eine Nacht geblieben: Da waren ganz unterschiedliche Leute, „der eine alkoholkrank, der andere Junkie“, nee, damit konnte er nicht umgehen. Deswegen ist die Devise des 61-Jährigen: „Entweder Einzelzimmer, wo ich die Tür zumachen kann, oder Platte machen.“ Er zeigt auf den Abstand zwischen sich und seinem Plattennachbarn Patrick: „Das ist ja fast so wie zwei Einzelzimmer.“

Mit dem Vorteil, dass sie gegenseitig auf ihre Sachen aufpassen können. Obwohl – gegen Diebstahl hilft die Nachbarschaft nur bedingt. Viel los sei derzeit in der Stadt, sagt Detlef. Und zählt dann auf, was alles schon weggekommen ist. Seine eigenen Schuhe, Patricks Radio und dessen ganze Papiere und sogar Fotos. Dabei schlafe man auf der Straße kaum, sagt Detlef. „Höchstens ein, zwei Stunden am Stück – und genau dann wirste beklaut.“

Die Polizei vertreibt sie

Wir drei erleben, wie die Stadt langsam ruhiger wird. Die Geschäfte schließen und die Menschen strömen nach Hause. Bis auf die Frau, die da vor der Galeria Kaufhof steht, ganz ruhig, mit ihrem Koffer und ein paar Tüten. Wir sind bis Mitternacht in der City unterwegs – und hören manchmal sogar nette Geschichten: Dass Sicherheitsbeamte und Polizisten mit Obdachlosen Kaffee trinken und auch Probleme wie Sauberkeit oder Lautstärke besprechen.

Ein paar Tage später erzählt uns eine Hinz&Künztlerin, dass sie, ihr Freund und ihr Hund an einem Abend zwei Mal vertrieben wurden. Erst schliefen sie bei zwei riesigen Abrisshäusern, die seit Jahren leer stehen. Aber da sie dort ein paar Nächte nicht mehr waren, war ihr Platz jetzt besetzt. Zunächst gingen sie zur Kennedybrücke. Auch da war alles voll. Sie bauten ihr Zelt auf der anderen Seite der Brücke auf – und wurden von der Polizei vertrieben. Dann versuchten sie es im Gebüsch auf einer Verkehrsinsel. Wieder kam die Polizei. „Wir haben kein Auge zugetan“, sagt die Frau. „Wo sollen wir denn nur hin?“

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Als wir Arthur treffen, ist er erst seit ein paar Tagen wieder obdachlos.

Das fragen wir uns auch. Nach der Schließung des Winternotprogramms waren wir schwer frustriert. Denn auch im Sommer ist es kein Spaß, draußen zu schlafen. Früher gab es für Notfälle wenigstens noch das Pik As (schlimm genug), jetzt gibt es nichts mehr. Menschen, die über Jahre obdachlos sind, werden im Schnitt nur 47 Jahre alt. Wir brauchen dringend ein Sofortprogramm mit Perspektive. Und Sofortprogramm heißt nicht, dass man sofort damit anfängt, drüber nachzudenken. Sofortprogramm heißt: Sofort handeln.

Text: Birgit Müller
Fotos: Mauricio Bustamante

Dies ist eine unserer Titelgeschichten aus der Juni-Hinz&Kunzt, die ab dem 29. Mai bei unseren Verkäufern zu haben ist. Im Heft finden sie eine ausführliche Fotostrecke von Menschen, die Platte machen müssen in Hamburg. 

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